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Der kleine Nöck

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Im Steinhuder Meer hatte ein Seeadler, es kann auch ein Fischadler gewesen sein, versehentlich einen kleinen Nöck gefangen. Er wollte damit seine Brut auf dem nahe gelegenen Brutbaum füttern. Nöcke sind Wassergeister, die von alters her unsere Seen, Bäche und Flüsse bewohnen und Schabernack mit den Menschen treiben, sie ins Wasser ziehen, unter Mühlrädern wohnen oder Flussfurten bewachen. Im Zeitalter der Brücken, Flussbegradigungen, elektrischen Getreidemühlen, Regenrückhaltebecken, und an Flüssen liegenden Atomkraftwerken ist ihre Zahl stark zurückgegangen. Sie stehen auf der Liste der bedrohten Geistarten, genauso wie Baumgeister, Luftgeister, Wichtelmänner und Kobolde, Gnome und Süntelgeister.

Unser Seeadler also wollte seine Beute zu seinem Horst bringen. Der kleine Nöck quengelte und schrie so sehr, auch weil er sein Element, das Wasser, entbehren musste, dass der Adler nicht unbedingt ein Einsehen hatte, aber den kleinen hässlichen Kerl wieder loswerden wollte. Er flog bis zum nicht weit gelegenen Springe, wobei er noch den Deister überqueren musste, warum, weiß der Chronist nicht zu sagen, und ließ den kleinen Kerl direkt über unserer Regentonne fallen. Es machte einen mittelheftigen Platsch, der aber im allgemeinen Gebrumm von Rasenmähern, dem Rauschen der nahen Bundesstraße und dem nie enden wollenden Hundegebell unterging.

Hier war er also: Der kleine Nöck, Arthur mit Namen, seine Freunde nannten ihn Atze, und saß nun im Regenfass fest. Seine Mutter, die Nixe Gwendoline, vermisste ihn wahrscheinlich schon. Sein Vater, der Wassermann, war schon vor langer Zeit unbekannt verzogen. Obwohl Arthur schon mehrere hundert Jahre alt war, war er doch noch ein Junge, in Menschenjahren noch keine sechs. Arthur hatte Hunger. Er öffnete sein Mäulchen mit den niedlichen, grünen Fischzähnchen, bekam aber nur ein paar winzige Mückenlarven zu fassen, die an der Wasseroberfläche zappelten und auf ihren ersten Flugtag warteten. Wasser war ja schon mal gut, aber zu wenig davon da. Was sollte nur aus dem Nöck werden? Die Tonne verlassen, ging nicht. Wassergeister sterben, wenn sie sich zu lange außerhalb ihres Elementes aufhalten. Also dableiben und Hungers sterben. Er malte sich schon die Schlagzeilen nach seinem Ableben in der Neuen Deister-Zeitung aus:

Seltsamer Kadaver in Regentonne gefunden! Experten vom Zoologischen Institut der Leibniz-Universität Hannover ratlos!

»Springe. Ein ungewöhnlicher Fund in der Regentonne einer angesehenen Springer Familie. Der Institutsleiter Professor Sigmund Callustus spricht von einem chimärischen Eigenschaftsgemisch. Die Obduktion des Springer Fundes ergab ein Mixtum compositum aus Säugetier, Reptil und Fisch. Der Kadaver kann noch keiner bekannten Lebensform zugeordnet werden.«

Arthur hatte eine ziemlich genaue Vorstellung von der Fantasielosigkeit deutscher Professoren. Arthur versuchte, seine negativen Gedanken einzufangen. Er suchte nach einem Ausweg. Was die wenigsten wissen: Wassergeister haben die Fähigkeit, willentlich in eine Art Hibernation, also Winterstarre, zu fallen, die über viele Jahre anhalten kann. Und so geschah es.

Da es in den vergangenen Wochen immer mal wieder geregnet hatte, gab es keinen Grund für irgendjemandem im Haus in die Regentonne zu schauen. Und so hatte Arthur seinen Stoffwechsel heruntergeregelt und verschlief viele Tage und Nächte. Eines Tages weckte er sich selber oder wurde geweckt – so genau weiß man das nicht – und hörte, wunderschön auf einem Piano gespielt, dessen Klänge aus einem geöffneten Fenster drangen, die Regentropfen-Etüde von Frederic Chopin. Nun sind Tanz, Gesang und Musik die Freude der Nixen. Etwas knackte und rauschte im Leib des Nöck, etwas streckte sich, seine Lungen weiteten sich, er tat einen tiefen Atemzug, er stieg triefend aus seinem Wasserfass, er hatte altmodische Schnürstiefel und lange Stricksocken an, eine Popeline-Hose und eine beige Strickjacke. Arthur ging vorsichtig und steifbeinig auf einen herrlich duftenden, tief blauen Phlox zu und schnupperte ehrfürchtig an den Blüten. Er sah aus wie ein altes Kind und stand plötzlich auf dem Rasen in meinem Garten (und tauchte in einer anderen meiner vielen Geschichten auf).

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