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Das fliegende Klavier

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Neulich erwachte ich aus dem Schlaf, weil ich eine ungewöhnliche Melodie einschließlich der Begleitung in der linken Hand geträumt hatte. Sie war in As-Dur. Sie hatte ungewöhnliche Intervallsprünge, Halbtöne, mal orientalisch klingend, dann wieder hymnisch, mal im Vierviertel-, dann im Neunachteltakt. Ich eilte, nein ich taumelte noch schlaftrunken in meinen Kreativraum, zog ein Blatt Notenpapier aus dem Regal und schrieb das im Traum Gehörte mit fliegendem Bleistift in 32 Takten nieder. Anschließend stürzte ich ins Musikzimmer an meinen Sauter-Flügel und spielte die ersten Takte. Etwas Seltsames geschah. Sein Hinterdeckel begann, sich um zwei bis drei Zentimeter auf und ab zu bewegen. Der Flügel klapperte wie ein zahnloser Greis vor dem Einsetzen der Vollprothese. Die Rollen unter den Beinen fingen an zu rotieren. Sie drehten durch, so dass auf dem Parkett ein sirrendes Geräusch entstand. Das Instrument war in eine gewaltige Unruhe versetzt. Es wollte etwas von mir. Nur langsam drang in mein Bewusstsein vor, dass der Flügel sein angestammtes Zimmer verlassen wollte. Mein Musiksalon weist in den Garten und hat eine große Glasschiebetür. In einem Anflug von Erkennen schob ich sie auf. Schon kam das schwarze Hochglanz-Ungetüm auf mich zugerollt. Und drängte hinaus. Ich schnappte die Klavierbank und begann von Neuem, die sonderbare Melodie zu spielen. Der Deckel schlug heftiger. Die Ausschläge waren schon einen Meter weit. Der dadurch entstehende Luftzug verwehte mein Haar, die drei Rollen hoben leicht vom Boden ab, ein Beben erfasste das Instrument. Immer heftiger und weiter schwang der Deckel bis wir alle drei, der Flügel, die Klavierbank und ich schon einen Meter über dem Boden schwebten.

Die Melodie schwang sich chromatisch in die Höhe. Dasselbe tat jetzt mein fliegender Flügel. Wir hoben ab, befanden uns nun über den Apfelbaumwipfeln. Die Sicht war gut. Der Vollmond hatte die Landschaft in ein sanftes, silbernes Licht getaucht. Ohne mein Zutun spielte der Flügel »Claire de Lune« von Claude Debussy. Mein Nachtgewand flatterte sanft im uns umströmenden Wind. Mit angenehmer Fluggeschwindigkeit überquerten wir den Bach und die stille Straße. Mein Fluggefährt hatte eine bestimmte Vorstellung davon, wo es hinwollte. Wir flogen auf den Deister zu. Wir befanden uns jetzt über dem Kamm, also mussten wir eine Flughöhe von mindestens vierhundert Metern erreicht haben. Das war meinem Flügel nicht genug. Er stieg und stieg. Gewaltig rauschte sein Deckel in der Nachtluft. Nun spielte das Klavier den dritten Satz von Beethovens Mondscheinsonate, Presto agitato. Ich griff ins Spielwerk und beruhigte mein fliegendes Instrument mit Brahms’ »Guten Abend, gute Nacht«. Ich wurde gewahr, dass mir mein Flügel auch gehorchte. Spielte ich die Tastatur hinauf, so stieg er, spielte ich einen Abwärtslauf, so sank er. Die Richtung konnte ich mit dem linken und rechten Pedal ändern. Ich folgte der Bundesstraße bis in die niedersächsische Landeshauptstadt. Ich überflog das Rathaus, machte eine Kehre bewegte mich über den mild das Mondlicht widerspiegelnden Maschsee. Ich hatte einige Schwäne aus dem Schlaf geschreckt. Sie ließen ein gedehntes, heiseres Trompeten hören. Mein Flügel machte einen Scherz und spielte ein paar Takte aus Schwanensee. Humor hatte er. Wir folgten dem Flusslauf der Leine aufwärts bis zur Marienburg mit ihrem beeindruckenden Profil vor dem Nachthimmel. Wir drehten scharf nach Westen und befanden uns schon wieder auf dem Heimflug, als uns das Triebwerksgeräusch einer herannahenden F-16 zu Tode erschreckte. Mein Flügel kam ins Trudeln. Ich konnte ihn gerade noch mit schnellem linken und rechten Pedaleinsatz stabilisieren. Wir waren vom militärischen Flugradar der Bundesluftwaffe erfasst worden, und der Pilot hatte den Befehl erhalten, das unbekannte Flugobjekt abzufangen.

Oberstleutnant Dennis Firestarter konnte das Objekt identifizieren und meldete das Gesehene über Bordfunk an seine Bodenstation: Fliegender Flügel mit pianistischem Piloten. Dort lachte man herzlich. Uns trennten nur noch wenige Kilometer von meinem Haus. Wir setzten sehr behutsam zur Landung an, weil ich den Flügelbeinen nicht viel zutraute. Mein alter Sauter, nein es war kein Steinway, die können das nicht, rumpelte auf seinen Platz, und ich strich ihm liebevoll über den Rim, seine kurvige Seite, und sagte »Gute Nacht«.

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