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Der freundliche Riese

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Ganz oben, sehr zurückgezogen, gleich unterhalb des Deisterkammes, lebt der freundliche Riese. Er haust in einer geräumigen Felsenhöhle, deren Eingang er immer sehr sorgfältig tarnt, wenn er ausgeht, um Wildschweine am Schinken zu zwicken oder Wanderer und Mountainbiker zu erschrecken. Er ist fünf Klafter hoch und wiegt dreizehn Doppelzentner. In letzter Zeit hat er etwas zugelegt. Das liegt an der Angst der Menschen, die rund um den Deister wohnen und von deren Angst er lebt. Angst vor der Zukunft, Angst um den Euro, Angst um den Partner und um die Kinder, Angst vor der Angst. Die Angst wird mit dem Wind die Hänge herauf geweht, und der Riese ernährt sich von ihr. Er nimmt sie über seine gewaltige Körperoberfläche osmotisch auf, denn meistens, wenn es die Witterung zulässt, bewegt er sich mit freiem Oberkörper durch den für ihn eigentlich zu kleinen Wald. Wenn man die Klitschko-Brüder aufeinanderstellte und dann noch mit drei malnähme, hätte man einen Eindruck von der Größe des Riesen. Aber nur die wenigsten haben ihn je gesehen und denen schenkt man wenig Glauben. Sein rundes Haupt ist bedeckt von semmelblondem Haar, das golden in der Morgensonne leuchtet. Er hat ein freundliches Gesicht, und Kinn und Wangen sind von einem mächtigen Seemannsbart bedeckt, den ihm die Deistertrolle regelmäßig kurz scheren und ihre Kissen und Betten damit füllen. Dann ist auch sein krauses Brusthaar fällig. Der freundliche Riese legt sich für die Prozedur auf den Rücken und genießt das Kribbeln und Krabbeln der emsigen kleinen Kerle.

Stets trägt er ein Lächeln im Gesicht und in alten Zeiten half er den Forstgesellen und deren schwer arbeitenden Rückepferden, ohne dass sie es bemerkten. Oft erledigte sich die Fron wie von Zauberhand und die Holzknechte murmelten dann ehrfurchtsvoll: Das muss wohl Sigmar, der freundliche Riese gewesen sein. Mit Rübezahl, seinem übellaunigen weitläufigen Verwandten aus dem Riesengebirge hat er charakterlich nur wenig zu tun. Ursprünglich hatten die Bergleute, die im Deister Kohlegruben unterhielten, nur Spott für die Holzknechte. Doch manch wundersame Rettung aus Bergnot ging auf das Konto des freundlichen Riesen, der Schächte vorm Einstürzen bewahrte und Kinder, die sich verlaufen hatten, auf den rechten Weg zurückführte.

Wenn er lacht, und das tut er oft, grollt es wie dunkler Donner durch den dichten Wald, und es gibt an jedem Baumstamm ein Echo. Sein Schritt lässt den Waldboden erbeben, so dass das Reisig immer ein wenig emporgeschleudert wird. Den alten Mütterchen lüpfte er früher heimlich die Reisigbündel, damit sie es nicht so schwer hatten beim Tragen, denn er konnte auch leise ein, wenn er wollte. Die Vögel des Waldes mögen ihn und singen immer besonders innig, wenn sie seiner gewahr werden.

Er hat Fäuste wie Basketbälle, was sag’ ich, wie Medizinbälle, und kann Bäume samt Wurzelwerk aus dem Waldboden ziehen, wenn er übermütig ist und sich einen Spaß machen will. Er kann auch Felsbrocken mehrere hannoversche Meilen weit werfen. Dann pfeift die Luft, und die Leute sagen: Sigmar übt wieder Weitwurf. Nicht in böser Absicht, er will nur spielen.

Manchmal, bei sehr schlechtem Wetter, trägt er ein wasserabweisendes Gewand aus Buchenrinde. Er hat einen Wanderstab, den er sich aus einem Fichtenstamm schnitzt, der ihm aber leicht zerbricht wie unser einem ein hölzerner Zahnstocher. Wenn er in seltenen Fällen ein bisschen schlechte Laune hat, steckt er Bikern Äste zwischen die Speichen der sich drehenden Räder, die für ihn aussehen wie rotierende Swastiken, nein, nicht Spastiker, wie das Schreibprogramm meint. Wanderern zieht er auch mal das Schuhband auf und kann sich darüber fast geräuschlos schlapp lachen, so dass es sich anhört, als ob der Wind in den Baumkronen saust.

Seine Eltern waren normalwüchsige Springer, die Sigmar, den Riesen, unter allerdings merkwürdigen Bedingungen gezeugt hatten. Fritz und Dorchen hatten ihn während Not und Krieg bekommen, die fast das gesamte Denken und Fühlen der Menschen eingenommen hatten. Sie hatten ihn als kleinen Jungen unter Tränen im Wald ausgesetzt. Gab es schlimme Zeiten, so war die Angst groß vor Hungersnot, Überschwemmungen, Atomkrieg, Terrorismus, 11. September, Al Qaida. Eigentlich war die Angst immer groß, so dass der freundliche Riese stets groß und gut genährt war.

Ob er noch lebt? Ich weiß es nicht. Doch man hört immer wieder von Wanderern, denen das Schuhband aufgeht oder von vom Rad fallenden Bikern. Das kann eigentlich nur Sigmar, der freundliche Riese gewesen sein.

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