Читать книгу Ich bin doch eigentlich ganz anders! - Harald Miesem - Страница 8

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Kapitel 2

Das Leben geht weiter

„Harald, zieh deine Sonntagshose und dein bestes Hemd an! Du wirst gleich abgeholt.“ Erstaunt sehe ich Schwester Annette an, die mir die Botschaft überbringt. „Von wem?“ Mich hat noch nie jemand abgeholt! „Das Jugendamt hat uns mitgeteilt, dass deine Eltern der Neuapostolischen Kirche angehören. Die Mitglieder der hiesigen Gemeinde sind bereit, dich sonntags zum Gottesdienst abzuholen.“ Verwundert und verwirrt schüttele ich den Kopf: Ich kann mich nicht erinnern, dass wir jemals in einer Kirche gewesen sind! Brav ziehe ich mich an und folge kurz darauf schweigend Schwester Annette.

Vor dem Haus steht ein Auto, auf das sie schnurstracks zusteuert. Schwester Annette spricht kurz mit den Leuten, die im Auto auf uns warten. Ich werde aufgefordert einzusteigen. Schüchtern klettere ich auf die Rückbank des Wagens. Die Leute begrüßen mich herzlich, reichen mir die Hand und stellen sich als Ehepaar Grimma vor: „Du bist also der Harald!“

Schon wieder kennen Fremde meinen Namen! Die Frau lächelt mich an: „Wir freuen uns, dass du mit zum Gottesdienst kommst. Es wird dir bei uns gefallen!“ Freundlich sehe ich sie an, doch innerlich sieht es ganz anders in mir aus: Ich will nicht zur Kirche! Am liebsten würde ich aus dem Auto springen und zurücklaufen. Ich will nicht zu einem fremden Ort mit fremden Menschen fahren. Warum können die mich nicht einfach in Ruhe lassen? Innerlich zusammengekauert ergebe ich mich mein Schicksal. Die Fahrt verläuft schweigend. Wie so oft hänge ich meinen zahlreichen Gedanken nach.

Nach einer Weile wird das Auto auf einen Parkplatz gelenkt, auf dem bereits viele Autos abgestellt sind. Wir steigen aus, denn hier, so erklärt man mir, ist die Gemeinde. Überall stehen Menschen. Die Menge beängstigt mich. Ich fühle mich wie erschlagen. Herr und Frau Grimma wühlen sich mit mir im Schlepptau durch die Menschenmenge. Mir ist sehr unbehaglich in meiner Haut. In einem großen mit Stühlen zugestellten Raum angekommen gehen wir auf einen Mann zu. Das Paar unterhält sich kurz mit ihm, dann nimmt mich der Fremde an seine Hand. Ohne mich zu fragen oder sich vorzustellen, führt er mich zu einem Stuhl in der ersten Reihe. Dort soll ich Platz nehmen, während er sich neben mich setzt. Angespannt lasse ich mich auf den Stuhl fallen. Die Menschenmenge, die vor der Gemeinde stand, strömt nun auch in den großen Saal.

Der Gottesdienst beginnt mit einigen Liedern, die von allen mitgesungen werden. Ich fühle mich so fremd hier! Mir ist langweilig. Ich will hier raus! Nach dem Gesang erhebt sich der Fremde neben mir und schreitet nach vorne. Er dreht sich zu den Menschen, begrüßt die Gemeinschaft und deutet plötzlich auf mich: „Harald, komm mal nach vorne!“ Wie peinlich! Mein innerer Impuls sagt: „Lauf weg, Harald! Hier sind fremde Menschen, die jetzt auch noch von dir verlangen, dass du dich allen zeigen sollst. Tu das nicht!“

Doch ich bleibe wie angewurzelt auf meinem Platz sitzen. Ich fühle mich wie ein tonnenschwerer Stein. Der Mann muss mich dreimal auffordern, bis ich mich schließlich zögernd erhebe und mit schlotternden Knien nach vorne gehe. Mit gesenktem Blick schleiche ich zu ihm. Innerlich schreit es laut: „Lauf weg, Harald!“ Bei ihm angekommen, dreht er mich zur Menschenmenge, stellt mich der Versammlung vor und erwähnt dabei, dass ich aus dem Kinderheim bin. Ein allgemeines „Aha“ ertönt.

Nun leuchte ich wie die untergehende Sonne. Kann ich im Erdboden versinken oder einfach nur rennen, rennen, rennen? „Tu es doch, Harald!“, ertönt wieder die innere Stimme. Tapfer bleibe ich stehen und hoffe, dass es bald vorbei ist. Als ich mich endlich setzen darf, habe ich es sehr eilig, zu meinem Stuhl zurückzukommen.

Nun folgt eine lange Ansprache des Mannes. Nach einem weiteren Lied schiebt man mich zum Ausgang. Dort soll ich stehen und all den fremden Menschen die Hand schütteln. Brav tue ich, was man von mir verlangt, während die Menge aus dem Raum an mir vorbeiströmt.

Eine Frau bleibt vor mir stehen. Sie sieht mich an und drückt mir etwas in die Hand. Da ich keine Zeit habe, um nachzuschauen, was es ist, stecke ich den Gegenstand schnell in meine Hosentasche und schüttele artig weiter Hände. Nach kurzer Zeit drückt mir noch jemand etwas in die Hand. Auch das verschwindet in meiner Hosentasche. Als alle Menschen verabschiedet sind, bringt mich das Paar wieder ins Heim zurück.

Während der Fahrt bin ich in mich gekehrt. Wie im Nebel nehme ich wahr, dass mich das Ehepaar Grimma anspricht. Ich fühle mich überfahren: Wieder einmal wurde über mich bestimmt, egal, ob ich das will oder nicht. Ein

Schauer nach dem anderen geht durch meinen Körper. Wie schrecklich war das, vorne stotternd auf der Bühne zu stehen! Ganz entsetzlich!

Im Kinderheim angekommen kehre ich in mein Zimmer zurück und lasse mich auf mein Bett fallen. Alle Erlebnisse des Morgens ziehen nochmals an meinem inneren Auge vorbei. Ach ja, ich habe etwas in die Hand gedrückt bekommen. Moment mal, das ist ja noch in meiner Hosentasche! Neugierig greife ich hinein und ziehe zwei Münzen heraus: Sie haben mir Geld zugesteckt. Ich bin ein reicher Junge! In diesem Moment betritt Schwester Luise mein Zimmer.

Sofort entdeckt sie meinen Schatz: „Harald, das muss ich an mich nehmen. Du darfst das Geld nicht behalten.“ Das kann doch nicht wahr sein! Gerade noch reich, jetzt beraubt man mich meines Reichtums! Entsetzt sehe ich sie an: „Warum nicht?“ Lang und breit erklärt sie mir, dass es den anderen Kindern gegenüber nicht gerecht wäre, wenn ich Geld hätte und sie nicht. Innerlich halte ich mir die Ohren zu. Ich will nicht hören, was sie sagt. Sie will das Geld zur Oberin bringen, dreht sich um und verschwindet. Und schon ist mein Reichtum wieder weg! Ich bin innerlich geladen und würde am liebsten aufspringen und das Geld wieder an mich reißen. Das ist so ungerecht!

Einige Tage später ruft mich die Oberin zu sich: „Wie hat dir der Gottesdienst am Sonntag gefallen?“ Würde ich ehrlich antworten, dann würde ich ihr sagen, dass es schrecklich war und ich am liebsten abgehauen wäre. Brummig sage ich nur: „Es ging so.“ Meine Antwort scheint sie gar nicht zu interessieren: „Wir haben mit den Leuten gesprochen. Sie wollen dich jetzt jeden Sonntag abholen“, lächelt sie. Ich stöhne leise. „Ach ja, noch etwas:“, fährt sie fort. „Du hast Geld von den Gottesdienstbesuchern bekommen. Zukünftig gibst du die Münzen sofort bei uns ab!“ Dann entlässt sie mich.

Leider kommt der nächste Sonntag viel zu schnell. Ich soll mich wieder entsprechend anziehen. In der Hoffnung, dass ich nicht rechtzeitig fertig bin und die Leute einfach ohne mich fahren, trödle ich herum. Mein Plan geht leider nicht auf. Widerwillig steige ich erneut in Ehepaar Grimmas Auto ein, ertrage den Gottesdienst und schüttele Hände. Diesmal landen drei Mark in meiner Hand. Wie kann ich bloß mein Geld in Sicherheit bringen? Leider finde ich keine Lösung für mein Problem. Das ist unfair! Es ist mein Geld! Im Heim angekommen gebe ich es zähneknirschend ab.

Tina

Seit meinen ersten Tagen im Heim treffe ich mich mit einem Mädchen. Sie heißt Tina, ist zwei Monate jünger als ich und lebt schon viel länger hier im Heim. Ich verbringe viel Zeit mit ihr. Sie liebt das Heim. Es ist ihr Zuhause, sagt sie immer wieder. Tina kommt aus Essen. Auch sie wurde in ihrer Familie geschlagen und missbraucht. Wir sitzen oft gemeinsam an meinem Lieblingsplatz im Wald, reden und weinen miteinander. Mir tut die Freundschaft zu ihr sehr gut. Sie scheint zudem einen sechsten Sinn zu haben. Irgendwie taucht sie immer auf, wenn es mir nicht so gut geht. Dann fordert sie mich auf, gemeinsam mit ihr Rollschuh zu fahren oder zu den Pferden zu gehen. Tina liebt Pferde und verbringt viel Zeit mit ihnen.

Auch diesmal taucht sie im rechten Moment wieder auf. Ich laufe ziellos auf dem Heimgelände herum. Es ärgert mich, dass ich das Geld nicht behalten darf. Es ist ungerecht, mir mein Geld, das freundliche Menschen mir geschenkt haben, abzunehmen. Es gehört mir: Ich habe es doch bekommen! Grübelnd, in Gedanken versunken, bemerke ich gar nicht, dass Tina auf mich zugelaufen kommt. Sie bleibt vor mir stehen.

Als ich meinen Namen höre, tauche ich aus meiner Gedankenwelt auf: „Tina, du bist es!“ Sie sieht mir in die Augen: „Hey, Harald, was ist los mit dir?“ Nun purzeln alle aufgestauten Worte aus mir heraus, während wir gemeinsam Richtung Stall schlendern. Wir gehen in den Schuppen und machen es uns auf den herumliegenden Strohballen gemütlich. Tina weiß gar nicht, was sie mir antworten soll. Schweigend sitzen wir nebeneinander und hängen unseren Gedanken nach.

Auf einmal nimmt Tina meine Hand. Sie zieht mich an sich. Eng umschlungen sitzen wir im Stroh. Das ist ein echt tolles Gefühl! Bis zum Abendbrot bleiben wir eng aneinander gekuschelt. Wie schön es doch mit Tina ist! Es tröstet mich, dass sie da ist. Am Abend müssen wir uns trennen, da ich ja in einem anderen Haus als Tina lebe. Doch ab diesem Moment treffen wir uns, so oft es geht, im Schuppen. Es ist kein gemütlicher Ort. Doch hier stört uns niemand, und wir können unsere Zweisamkeit genießen.

Mobbing

Als ich heute zum Schuppen komme, ist Tina bereits dort. Ihr Gesicht ist nass von Tränen. Sie sieht mich verzweifelt an. Schnell setze ich mich neben sie, lege meinen Arm um sie und versuche, sie zu trösten. Tina schluchzt durch die Tränen hindurch, dass sie wieder einmal von einigen Klassenkameradinnen gehänselt worden ist, weil sie im Heim lebt. Wir alle hier im Heim haben in der Schule den Stempel Heimkind. Auch ich werde in der Schule immer wieder deswegen aufgezogen. Es tut weh, so abgestempelt zu werden.

Etwas hilflos versuche ich, Tina mit einigen Witzen zum Lachen zu bringen, was mir nach einer Weile auch gelingt. Eng umschlungen sitzen wir auf einem Strohballen. „Weißt du was, Harald?“ Tina schaut mir tief in die Augen: „Ich würde gerne deine Haut spüren.“ Verwundert sehe ich sie an. „Du willst was?“, entfährt es mir. „Im Ernst, ich würde gerne deine Haut und deinen Körper spüren!“ Nun mache ich mir aber Gedanken! Es braucht eine Weile, bis ich wieder Worte finde:

„Weißt du, ich würde mir das auch wünschen. Aber was ist, wenn sie uns hier entdecken?“ Tina wischt meine Bedenken weg: „Wir sind jetzt so oft hier gewesen, und nie ist jemand gekommen!“ Schon beginnt sie sich zu entkleiden. Als sie so nackt vor mir steht, fallen meine Bedenken von mir ab. Schnell ziehe ich mich aus. Einen Moment lang betrachten wir uns gegenseitig. Dann umschlingen wir einander. Diese warme Haut zu spüren ist herrlich! Zärtlich reiben wir unsere Körper aneinander und genießen diesen Moment. Tina sieht mich strahlend an.

Eng umschlungen, die nackte Haut spürend, versinke ich in meinen Gedanken an früher. Tinas Stimme holt mich wieder heraus. Sie fordert mich auf, sie zu streicheln. Unsicher und neugierig gehe ich auf Entdeckungsreise. Leider haben wir keine Zeit für eine längere Reise. Der Gong ertönt, und wir müssen zum Abendbrot. Schnell ziehen wir uns wieder an und schaffen es gerade noch rechtzeitig zum Abendbrottisch.

Zwei Tage später treffen wir uns wieder. Gemeinsam machen wir einen Ausflug auf unseren Rollschuhen. Unterwegs ergreife ich Tinas Hand. Ich will mich eigentlich nie wieder von ihr trennen! Hand in Hand fahrend kommen wir auf dem Hof vor dem Kinderheim an. In voller Fahrt düsen wir an Schwester Ursula vorbei. Ein lautes Lachen folgt uns. „Ihr seht aus wie ein frisch verliebtes Paar!“, ruft sie hinter uns her. Tina und ich schauen uns an und kichern: „Wenn die wüsste!“ Wir drehen noch einige Runden auf dem Hof. Dann halten wir an. Ich nähere mich Tinas Ohr. „Ich würde dich gerne noch mal nackt spüren!“, hauche ich ihr ins Ohr. Ihr Blick ist Antwort genug: Hand in Hand verschwinden wir Richtung Schuppen. Hoffentlich ahnt Schwester Ursula nichts!

In Windeseile sind wir ausgezogen. Sehnsüchtig berühren sich unsere nackten Körper. Oh, diese Wärme und Zartheit! „Harald, ich möchte auf dir liegen. Ich möchte dich noch mehr spüren.“ Ich umschlinge meine Tina. Als ich ihren Körper auf mir spüre, bekomme ich Panik. Unwirsch schüttele ich sie von mir ab. Tina sieht mich entsetzt an: Alles an mir zittert! „Was ist los, Harald?“

Nur stammelnd kann ich ihr antworten: „Ich hatte das Gefühl zu ersticken, als du auf mir lagst!“ Tina schweigt. Wir ziehen uns wieder an. Gemeinsam setzen wir uns auf einen Strohballen. „Was ist bloß los? Woher kommt das?“ Eine Antwort finden wir an diesem Tag nicht.

Einige Tage später gehe ich nach der Schule zu unserem Schuppen. Tina und ich haben uns hier wieder verabredet. Doch sie kommt nicht. Besorgt laufe ich nach einiger Zeit des Wartens zu ihrer Gruppe. Tina ist doch sonst immer zuverlässig gekommen. Hoffentlich ist ihr nichts passiert!

Vielleicht liegt sie ja krank im Bett. Angst um Tina macht sich in mir breit. In der Gruppe kann mir niemand erklären, wo sie steckt. Krank ist sie jedenfalls nicht. Ich suche das ganze Heim ab, kann sie aber nicht finden. Verzweifelt überlege ich, was ich tun kann. Mit den Rollschuhen unter den Füßen suche ich in der Umgebung nach ihr. Doch meine Tina bleibt verschwunden.

Ich kehre heim und laufe nochmals zu Tinas Gruppe. Schwester Ursula begrüßt mich freundlich. Ich frage sie: „Wo ist Tina? Ich habe sie überall gesucht.“ Mitleidig sieht Schwester Ursula mich an: „Weißt du es denn nicht?“ Entgeistert sehe ich sie an: „Was soll ich wissen?“ Schwester Ursula legt ihre Hand auf meine Schulter: „Ach, mein Junge, es tut mir so leid für dich! Deine Tina ist heute von ihrer Mutter nach Hause geholt worden.“

Wie von Blitz und Donner gleichzeitig getroffen, schlägt diese Nachricht bei mir ein. Ich will schreien, weinen, wegrennen, mich losreißen und stehe doch wie angewurzelt vor Schwester Ursula. „Es kam auch für uns völlig überraschend!“ Die Schwester schüttelt den Kopf: „Sonst bekommen wir immer rechtzeitig Bescheid. Aber dieses Mal ging alles sehr schnell.“ Langsam finde ich aus der Erstarrung zurück. Ich drehe mich abrupt um und beginne zu rennen: Raus aus dem Heim, rüber in den Wald, an unserem Lieblingsplatz vorbei. Ich renne und renne.

Wie lange ich renne, weiß ich nicht. Doch es wird schon dunkel, als ich begreife, dass es besser ist, wenn ich wieder zum Heim zurückkehre. Ich kenne doch nichts anderes! Weit nach dem Abendbrot kehre ich zurück. „Um Gottes willen, Harald!“, werde ich von einigen aufgeregten Schwestern empfangen: „Wir haben uns solche Sorgen um dich gemacht! Wo warst du bloß die ganze Zeit? Wir hätten jetzt nicht mehr lange gewartet. Dann hätten wir die Polizei verständigt und dich suchen lassen.“ Patzig schmeiße ich ihnen ein „Mir doch egal!“ hin und gehe in mein Zimmer. Tief unter der Bettdecke vergraben weine ich die ganze Nacht hindurch um meine Tina.

Wochenlang trauere ich um sie. Mal mache ich mir Sorgen, wie es ihr jetzt wohl geht, mal stelle ich mir vor, wie es ist, wenn sie zurückkehrt. Anfangs laufe ich noch in der Hoffnung, dass die Mutter sie doch schnell wieder loswerden will, zu Tinas Gruppe. Manchmal sitze ich in unserem Schuppen oder auf unserem Lieblingsplatz im Wald und weine. Ich gehe zur Schule, aber eigentlich bin ich gar nicht anwesend. Selbst in der Schule passiert es mir, dass ich weine. Der Schmerz über den Verlust tut einfach nur weh. Nachmittags drehe ich alleine mit den Rollschuhen weite Runden. Das Rollschuhfahren hilft mir, abzuschalten.

Einige Wochen später soll am Abend ein Lagerfeuer hinter dem Heim abgebrannt werden. Wir Kinder werden aufgefordert, trockenes Holz aus dem Wald zu holen. Ach, wie schön war es doch immer, mit Tina in den Wald zu stürmen und Holz zu sammeln! Lagerfeuer ist so romantisch! Wie oft haben wir zusammen gesessen und es genossen, mit all den anderen Kindern gemeinsam Lieder zu singen. Das war immer eine ganz besondere Atmosphäre. Doch diesmal, ohne meine Tina, ist es schrecklich für mich. Ich fühle mich so verlassen! Traurig sitze ich am Lagerfeuer und denke nur an sie. Eine Mitarbeiterin nimmt ihre Gitarre zur Hand. Es werden Lieder angestimmt. Das holt mich aus meiner Lethargie. Voller Inbrunst singt die ganze Kinderschar die Lieder mit. Beim Klang der Lieder läuft mir ein Schauer nach dem anderen über den Rücken. Für einen kurzen Moment empfinde ich das Leben als schön.

Die Oberin erlaubt mir einige Tage später, dass ich mir eine Hütte im Wald bauen darf. Ich werkele und zimmere drauflos. Die Arbeit macht mir Spaß und lenkt mich ab. Als ich mit meinem Werk fertig bin, betrachte ich das Ergebnis: Meine Hütte sieht etwas schief aus. Doch ich bin richtig stolz auf mich, den Handwerker Harald!

Meine Versetzung ist gefährdet

Zur Schule gehen macht mir keinen Spaß. Ich mühe mich in den meisten Fächern sehr ab. Die Noten bestätigen das Abmühen. Es ist die Zeit der blauen Briefe, und mir schwant, dass ich nicht versetzt werde. Die Aufforderung, zur Oberin zu gehen, lässt mich nichts Gutes ahnen.

Sie sitzt an ihrem Schreibtisch. Vor ihr liegt ein Schreiben: „Harald, ich muss ein ernstes Wort mit dir reden. Deine Versetzung ist gefährdet. Du musst dir mehr Mühe geben!“ Beschämt stehe ich vor ihr. Mit gesenktem Blick erwidere ich: „Ich versuche es ja, aber die Noten werden nicht besser.“ Die Oberin sieht mich nachdenklich an: „Wir werden gemeinsam zum Rektor gehen.“ Sie ruft in der Schule an und macht einen Termin bei Herrn Hussmann.

Am nächsten Tag nach Schulschluss wartet sie vor der Klassentür auf mich. Gemeinsam gehen wir zum Rektor, der uns freundlich empfängt. Hinter einem großen Schreibtisch sitzend sieht er uns an. Ich mag ihn sehr. Er macht sich nicht über mich, das Heimkind, lustig, wie andere Lehrer und Lehrerinnen es manchmal tun.

Die Oberin und er unterhalten sich einige Zeit über mich und meine schulischen Probleme. Dann richtet er sich auf und sieht mich an: „Harald, du wirst mein Nachhilfeschüler. Ab Montag kommst du um vier Uhr zu mir. Ich werde dir helfen, damit sich deine Noten verbessern und du keine Ehrenrunde drehen musst.“

Pünktlich stehe ich am Montag vor seinem Haus und schelle an. Ein freundlich blickender Herr Hussmann bittet mich, einzutreten. Zu meiner Überraschung sitzen drei weitere Kinder aus der Schule in dem Raum, in den er mich führt. Unser Nachhilfelehrer beantwortet jede Frage, die wir haben. Ich bin begeistert: So macht das Lernen Spaß! Eifrig erfülle ich jede Aufgabe, die er mir stellt. Am Ende der Stunde sieht er mich an: „Harald, ich verstehe gar nicht, wieso du in der Schule nicht mitkommst! Du bist ein sehr guter Schüler. Du hast es doch drauf! Wenn du so weitermachst, dann schaffst du die Klasse auf jeden Fall.“

Wieder im Kinderheim zurück laufe ich beschwingt und fröhlich der Oberin über den Weg. „Na, Harald“, spricht sie mich an, „wie war dein Nachhilfeunterricht?“ Strahlend berichte ich ihr, dass Herr Hussmann sehr zufrieden mit mir war. „Es hat mir richtig Spaß gemacht! Herr Hussmann hat gesagt, dass ich ein guter Schüler bin. Er ist sich sicher, dass ich die Klasse schaffen werde.“ Die Oberin lächelt mich zufrieden an: „Das würde mich sehr für dich freuen!“ Schon ist sie wieder unterwegs. Doch plötzlich dreht sie sich nochmals zu mir um: „Wo habe ich bloß meinen Kopf? Ich muss dir ja noch etwas sagen: Morgen wirst du die Gruppe wechseln!“ Diese Nachricht freut mich sehr, denn in meiner Gruppe ist eine Erzieherin, die ich nicht mag. Von ihr wegzukommen ist eine gute Perspektive. Heute ist wohl mein Glückstag!

Am nächsten Morgen ziehe ich um. Schwester Anne hilft mir beim Packen. Eilig raffe ich alles zusammen, was ich meinen Besitz nenne. Schwester Anne sieht schmunzelnd zu: „Du hast es scheinbar ziemlich eilig.“ Oh ja!

In der neuen Gruppe werde ich mit großem Hallo begrüßt. „Wir heißen dich bei uns herzlich willkommen!“, lacht Fräulein Hermann, die diese Wohngruppe leitet, mich an. Was bin ich doch für ein Glückspilz! Ich mag sie. Fräulein Hermann gehört zu den netten, freundlichen und geduldigen Erzieherinnen im Kinderheim.

Ich bin doch eigentlich ganz anders!

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