Читать книгу Ich bin doch eigentlich ganz anders! - Harald Miesem - Страница 9
ОглавлениеKapitel 3
Warum immer ich?
Meine Noten in der Schule werden immer besser. Zum ersten Mal bekomme ich eine Zwei für eine Arbeit. Mein Klassenlehrer wundert sich über meine Leistungssteigerung. Heute ist der Unterricht besonders entspannt für mich. Mit der guten Note im Rücken fällt es viel leichter, in der Schule zu sitzen. Die Note scheint mir auch Flügel zu verleihen: Fast fliege ich nach der Schule zum Heim zurück. Mir geht es gut!
Ich fege um die Ecke des Heims und stoße mit Schwester Anne zusammen. „Welches freudige Erlebnis hattest du denn? Du siehst aus, als würdest du auf einer Wolke schweben.“ Strahlend prahle ich: „Ich habe eine Zwei geschrieben!“ Jubelnd umarmt Schwester Anne mich: „Herzlichen Glückwunsch, Harald! Das ist wirklich ein gutes Ergebnis.“ Begeistert, lachend und beschwingt geht sie Richtung Küche weiter, und ich stolziere zu meinem Zimmer.
In die Schule gehen ist ja so wunderbar! Gut gelaunt betrete ich am nächsten Morgen den Klassenraum. Heute werden wir eine weitere Klassenarbeit zurückbekommen. Ich bin so gespannt, welche Note ich habe! Gemeinsam mit den anderen Kindern warte ich auf Herrn Mattes. Die Tür öffnet sich, und eine Frau betritt den Raum. Sie stellt sich ans Pult, sieht uns alle an und begrüßt uns: „Guten Morgen, Kinder. Ich bin Fräulein Lukas“, stellt sie sich vor. „Euer Lehrer, Herr Mattes, ist sehr krank geworden. Ich werde ihn so lange vertreten, bis er euch wieder unterrichten kann.“ Sie greift in ihre Tasche und holt unsere Hefte hervor: „Ihr scheint ja keine guten Schüler zu sein. Ich habe eure Arbeiten kontrolliert. Sie sind alle so schlecht, dass ich jedem eine Sechs geben musste!“, brummelt sie. Jeder bekommt sein Heft. Entsetzt schaue ich mir meine Arbeit an und beschließe, mich gegen die Sechs zu wehren. Mutig melde ich mich. „Ja, was willst du?“, fordert Fräulein Lukas mich auf. „Herr Mattes hatte uns die Aufgaben nicht so gestellt, wie sie im Buch stehen. Wir alle haben uns bemüht, zu verstehen, was Herr Mattes von uns will“, antworte ich kühn. Sie stellt sich vor mich und schaut mich ernst an: „Das ist mir egal! Die Arbeiten sind geschrieben und die Noten verteilt. Ich werde nichts daran ändern.“ Erwachsene sind so ungerecht! Enttäuscht verkrieche ich mich innerlich.
In den darauf folgenden Wochen zieht Fräulein Lukas immer wieder über mich her. Sie lästert darüber, dass Heimkinder scheinbar nicht viel können. Sie mag mich nicht. Meine Leistungen und die Beteiligung im Unterricht gehen rapide bergab.
Die Uhrzeit
Eines Morgens fordert Fräulein Lukas mich auf, ihr die Uhrzeit zu sagen. Ob sie weiß, dass ich die Uhr nicht lesen kann und immer andere Leute nach der Uhrzeit gefragt habe? Entsetzt schaue ich auf das Ziffernblatt. Ich habe keine Ahnung, was dort zu lesen ist! Angst vor der Peinlichkeit kriecht in mir hoch. Ich weiß genau, dass gleich alle über mich lachen werden. Schnell überlege ich, wie lange wir bereits im Unterricht sitzen. Die Schule hat um acht Uhr begonnen. Es müsste jetzt elf Uhr sein. „Na, Harald, wie spät ist es?“, fragt sie mich herausfordernd. Stotternd antworte ich: „Es ist elf Uhr, Fräulein Lukas.“ An ihrem Grinsen und dem unterdrückten Glucksen aller Kinder erkenne ich sofort, dass meine Überschlagsrechnung nicht zum richtigen Ergebnis geführt hat. Nun prustet sie lauthals los und alle anderen Kinder mit ihr. Ich würde mich am liebsten in einem Mauseloch verkriechen, was natürlich nicht geht. Mein Gesicht läuft purpurrot an. Es ist mir so peinlich!
Nach der Schule schleiche ich enttäuscht nach Hause. Den Rest des Tages verbringe ich auf meinem Zimmer. Nichts und niemand kann mich motivieren, etwas zu unternehmen. Selbst Rollschuh fahren will ich nicht. Ich bin in Frustration eingehüllt, verkrieche mich in meinem Bett und will niemanden sehen. In der folgenden Nacht schrecke ich immer wieder durch schreckliche Träume auf.
Ich bin krank
„Aufstehen!“, ertönt es laut neben meinem Ohr. Schlaftrunken öffne ich am nächsten Morgen meine Augen. Wieder ruft die Erzieherin: „Aufstehen!“ Angestrengt überlege ich, was ich anstellen kann, damit ich nicht zur Schule gehen muss. Wehleidig ziehe ich meine Bettdecke bis zu den Ohren hoch. „Mir geht es nicht gut!“, hauche ich. Die Erzieherin zupft an meiner Decke: „Harald, aufstehen!“ Ich schaue sie leidend an. „Mir ist so schlecht!“, kommt es jammernd aus mir heraus. „Ich kann heute nicht in die Schule gehen.“ Besorgt sieht sie mich an und fühlt meine Stirn: „Du siehst nicht so richtig krank aus, aber vielleicht brütest du ja etwas aus. Heute bleibst du mal im Bett.“ Erleichtert und zufrieden kuschele ich mich in meine Decke. Was bin ich froh, dass ich heute niemanden aus meiner Klasse sehen muss. Mittags steckt die Erzieherin erneut ihren Kopf zur Tür herein: „Na, wie geht es dir?“ Ich hauche aus meiner Deckenumhüllung heraus, dass es mir immer noch nicht gut geht: Es funktioniert! Ich darf den Rest des Tages weiter in meinem Bett verbringen.
Am nächsten Morgen steht sie wieder vor mir. „Wie sieht es heute aus?“, lacht sie. „Du brauchst mir gar nicht zu erzählen, dass du dich immer noch krank fühlst. Ich glaube, da will sich jemand vor der Schule drücken. Los jetzt, aufstehen!“ Mit einem Ruck reißt sie mir die Bettdecke weg. Ich muss meine sichere Burg verlassen.
Lustlos ziehe ich mich an. Schlurfend und mit schwerem Gemüt erreiche ich den Speisesaal. Normalerweise lasse ich mir keine Mahlzeit entgehen. Doch heute, in meinen Gedanken versunken, würge ich mir das Frühstück rein. Was kann ich tun, damit ich nicht zur Schule gehen muss? Schließlich verlasse ich das Heim und mache mich auf den Weg zur Schule. Am Waldrand angekommen ändere ich abrupt meinen Weg, schnurstracks in den Wald hinein, verfolgt von einem schlechten Gewissen. Ich weiß, dass ich die Schule nicht schwänzen darf. Das wird mächtig Ärger geben! Doch den werde ich schon überleben, die Gemeinheiten der Lehrerin und das Ausgelacht werden von den Mitschülern jedoch nicht! Ich suche mir eine Stelle im Wald, von der aus ich den Eingang der Schule sehen kann. Aus Zweigen und Ästen baue ich mir einen Unterschlupf und warte dort, bis die Schule zu Ende ist.
Die ersten beiden Tage vergehen, ohne dass ich Ärger bekomme. Doch am dritten Tag steht plötzlich Fräulein Martin vor meinem Versteck. Sie muss mir heimlich gefolgt sein. Entrüstet packt sie mich am Arm und schleppt mich laut schimpfend zur Schule: „Du wirst die Schule nicht schwänzen!“ Aller Widerstand hilft nicht. Sie zerrt mich zu meinem Klassenraum, übergibt mich meiner Lehrerin und verschwindet. Hämisch grinsend begrüßt Fräulein Lukas mich: „Da ist ja unser Musterschüler!“, spottet sie und wendet sich der Klasse zu: „Kinder, begrüßt unseren Musterschüler!“ Lautes, vielstimmiges Lachen ertönt. Ich laufe rot an und platze wütend heraus: „Am liebsten würde ich euch alle umbringen!“ Erneut ertönt eine Lachsalve. Fräulein Lukas beordert mich zu meinem Platz. Dann fährt sie mit dem Unterricht fort. Wütend und frustriert sitze ich auf meinem Stuhl. Schule ist mir so was von egal! Ihr könnt mich alle mal… !
Mein Lernboykott betrifft auch die Nachhilfe. Herr Hussmann ist nicht mehr der freundliche Lehrer, der an mich glaubt. Er wurde von Fräulein Lukas informiert. Es folgt ein Gespräch mit mir, bei dem er mir erklärt, dass ich ein aufsässiger Schüler sei. Dies hätte Fräulein Lukas ihm mitgeteilt. Er versucht nochmals, mir ins Gewissen zu reden. Alle Erklärungen, die ich vorbringe, helfen nicht. Er glaubt mir nicht, dass die Lehrerin die Ursache ist. Aber ich finde inzwischen sowieso, dass Schule der größte Mist ist.
Zeugnisse
Bei der Zeugnisausgabe am Ende des Schuljahres steht Fräulein Lukas triumphierend vor mir: „Nicht versetzt!“ Wortlos nehme ich mein Zeugnis entgegen und verlasse die Schule. Ich bin wütend und fühle mich total ungerecht behandelt. Im Heim angekommen muss ich zur Oberin. Wortlos überreiche ich ihr mein Zeugnis. Sie erschrickt beim Anblick der Noten. „Ich dachte, deine Versetzung sei nicht gefährdet. Und nun das!“ Mit hängenden Schultern stehe ich vor ihr und erzähle ihr von all dem, was ich in den letzten Monaten in der Schule erlebt habe. „Das habe ich nicht gewusst, Harald. Ich hatte mich schon gewundert, dass du nicht mehr zur Nachhilfe gehst. Ich dachte, dass du sie nicht mehr brauchst. Deshalb bin ich dem auch nicht weiter nachgegangen. Aber jetzt sind erst einmal Ferien. Um die Schule kümmern wir uns danach. Im neuen Schuljahr werde ich mich regelmäßig bei der Schule erkundigen und auch dich fragen, wie es dir in der Schule geht. So was soll nicht noch einmal passieren, dass eines meiner Kinder sitzen bleibt, und ich weiß nichts davon!“
Eine neue Lehrerin
Die Ferien sind wunderbar. Wir Kinder machen viele Ausflüge, Lagerfeuer und Abenteuerspiele. Ich vergesse die Schule bis zu dem Tag, an dem wir Kinder wieder den Weg zur Schule gehen müssen. Mit bangem Erwarten trotte ich Richtung Schule und stelle mich innerlich auf das Schlimmste ein. Doch dann die gute, die allerbeste Nachricht: Fräulein Lukas hat die Schule verlassen. Hurra!
Eine neue Klassenlehrerin wird uns Kindern vorgestellt. Sie ist ganz erträglich. Ich bin froh, dass sie mich nicht vor meiner neuen Klasse bloßgestellt. Dennoch ist meine Motivation zu lernen nicht besonders hoch. Nach einigen Monaten fordert sie mich auf, ihr ins Lehrerzimmer zu folgen. Nachdenklich und sehr ernst sieht sie mich an: „Ich muss ein ernstes Wort mit dir reden, Harald! Deine Noten lassen sehr zu wünschen übrig. Wenn du so weitermachst, wirst du wieder sitzen bleiben. Das möchte ich dir ersparen. Gib dir mehr Mühe, dann schaffst du es!“ Ja, das will ich, denn eigentlich bin ich ein Musterschüler.
Die Lehrerin weckt in mir wieder die Lust zum Lernen. Erste kleine Erfolge stellen sich ein. Doch dann werde ich krank. Im Kinderheim ist die Gelbsucht ausgebrochen. Auch mich erwischt es. Das Heim wird unter Quarantäne gestellt. Ich werde ins Krankenhaus gebracht.
Die Krankenschwestern sind sehr freundlich, aber auch sehr beschäftigt. Ich fühle mich ganz schrecklich einsam in meinem viel zu großen Krankenhausbett. Die meiste Zeit bin ich alleine. Nur einmal besucht mich Schwester Anne aus dem Kinderheim. Ich fühle mich verloren und sehne mich nach meinem Heim zurück.
Anfangs kommen die Krankenschwestern mehrmals täglich zum Fiebermessen. Als es mir etwas besser geht, kommen sie nicht mehr so oft. Mir wird immer langweiliger. Das muss ich ändern! Was kann ich tun, damit sie häufiger nach mir sehen? Ah, ich weiß! Wenn ich an der silbernen Spitze des Fieberthermometers reibe, steigt die Temperaturanzeige an. Sie werden denken, dass ich wieder Fieber habe, und öfter nach mir schauen und sich intensiver um mich kümmern. Na ja, eigentlich ist es nicht meine Idee. Ich habe mir das von den anderen Kindern abgeschaut.
Mein Entschluss steht fest: Als wieder einmal Fieber gemessen wird, hole ich das Thermometer vorsichtig hervor und reibe, so fest ich kann, an der Spitze. Die Temperatur steigt. Ich reibe weiter. Huch, das Thermometer zeigt über vierzig Grad an! Ups, ich glaube, das ist zu viel. Wie kann ich es schnell wieder herunter bekommen? Vom Flur her erschallen Schritte. Eilig stecke ich das Thermometer in meine Achselhöhle zurück. Da öffnet sich auch schon die Tür. Brav und mit engelsgleichem Gesicht übergebe ich der Schwester das Thermometer. Ein Blick, ein Aufschrei und dann eine Hand auf meiner Stirn. Kopfschüttelnd steht sie vor mir, entrüstet über meine Frechheit. Eine Schimpftirade prasselt auf mich ein: „Du verflixter Lümmel! Du hast überhaupt kein Fieber! Das melde ich dem Doktor!“ Schimpfend verlässt sie den Raum, um postwendend mit dem Doktor im Schlepptau zurückzukehren. Eine lange Moralpredigt folgt. Innerlich halte ich mir die Ohren zu und schalte ab.
Nach diesem Vorfall erreicht mein Ansehen auf der Station den Nullpunkt. Man beachtet mich in den folgenden Tagen kaum noch. Mir ist so schrecklich langweilig! Hoffentlich kann ich bald nach Hause! Als der Doktor mir endlich die erlösende Botschaft überbringt, habe ich es außerordentlich eilig, meine Sachen zu packen. Ich kann es gar nicht abwarten, wieder im Heim zu sein. Da ist es zumindest nicht so schrecklich langweilig wie hier.
Das Frühstück am nächsten Morgen schmeckt ausnahmsweise sehr gut. Es ist bestimmt die Vorfreude, die meine Geschmacksnerven verändert. Danach renne ich zwischen Fenster und Tür zum Flur hin und her. Sehnsüchtig warte ich auf den Wagen, der mich nach Hause bringen wird. Ungeduldig sehe ich nach draußen, ob der Fahrer endlich kommt. Da, er schlendert gemütlich über den Krankenhausflur. Freudig schnappe ich meine Tasche und stürme ihm entgegen. „Da scheint es ja einer sehr eilig zu haben!“, erklingt seine tiefe, mit herzhaftem Lachen vermischte Stimme. Eilig verlassen wir das Krankenhaus und fahren nach Hause.
Zurück im Heim werde ich von der Oberin in Empfang genommen. Sie begrüßt mich und freut sich sehr, dass ich nach den vielen Wochen im Krankenhaus wieder zurück bin. Dann darf ich in meine Gruppe gehen. Was bin ich froh, wieder zu Hause zu sein!
Am nächsten Morgen setzt sich die Oberin zu mir an den Frühstückstisch. Das ist ungewöhnlich und erweckt umgehend meinen Argwohn. Das Frühstück endet, ohne dass sie etwas sagt oder tut. Wir Kinder dürfen den Speisesaal verlassen. Die Meute rennt los. Auch ich springe auf, doch da bremst die Oberin mich: „Harald, ich muss mit dir sprechen.“ Neugierig sehe ich ihr ins Gesicht. „Wenn ein Kind Gelbsucht hatte“, fährt sie fort, „muss es nach der Zeit im Krankenhaus noch eine Kur machen. Du wirst nächste Woche nach Bad Orb gebracht. Es ist für dich zum Guten. Du sollst dich noch einige Wochen von der schweren Erkrankung erholen.“ Erschrocken schaue ich sie an. Nur zu gut erinnere ich mich an die Langeweile im Krankenhaus. Soll ich das jetzt noch einmal mitmachen? Ein flaues Gefühl im Magen breitet sich in mir aus. Die folgenden Tage liege ich häufig in meiner Bettburg. Ich will nicht schon wieder weg von meinem Zuhause!
Der Montag kommt schneller als erhofft. „Harald, es ist jetzt so weit!“, ertönt Schwester Julias Stimme. „Heute fährst du nach Bad Orb.“ Blitzschnell überlege ich, wo ich mich verstecken kann. Doch Schwester Julia lässt mich nicht aus den Augen. Sie folgt mir in mein Zimmer und hilft beim Einpacken meiner Sachen. Ich bin traurig. Warum darf ich nicht hierbleiben? Ich kann doch zu Hause gesund werden! Warum immer ich? Als wir vor das Haus treten, wartet bereits der Fahrer, der mich zur Kur bringen wird. Ich ergebe mich in mein Schicksal.
Schweigsam hänge ich meinen Gedanken nach, während wir durch die Landschaft fahren. Was wird mich in der Kur erwarten? Was machen die da mit mir? Wann darf ich wieder nach Hause?
Der Fahrer parkt das Auto vor einem großen Haus: Wir sind angekommen. Schweigend, mit zitternden Knien, steige ich aus und folge brav dem Fahrer. Eine freundliche Frau kommt auf mich zu: „Du bist bestimmt der Harald!“, lacht sie mich an und reicht mir die Hand. Schon wieder ein fremder Mensch, der mich scheinbar kennt! Dennoch bin ich etwas erleichtert, dass sie mich so freundlich empfängt. Die Frau nimmt mich an die Hand. Brav gehe ich mit ihr in das große Haus. „Wie soll ich mich denn hier bloß zurechtfinden?“, stöhne ich auf. Sie spricht mir Mut zu, aber ich fühle mich nicht ermutigt. Das Haus ist so riesig! Es hat viele Türen und mehrere Etagen. Ich bin verwirrt und kann mir gar nicht merken, wo wir überall langgehen.
Wir steigen eine Etage höher. Vor einer Tür bleibt sie stehen und lässt meine Hand endlich los. „Dieses Zimmer wird für die nächsten Wochen dein Zuhause sein!“, erklärt sie mir aufmunternd. Dann zieht sie einen Schlüssel hervor, schließt auf und ermutigt mich, einzutreten. Neugierig sehe ich mir mein Zimmer an: Es ist recht gemütlich eingerichtet. Mal sehen, wie die Aussicht aus meinem Fenster ist. Ich gehe flott zum Fenster und bin überwältigt: Von meinem Zimmer aus kann ich in einen großen Park schauen. Riesige Bäume stehen darin, und eine herrliche Blumenpracht ist zu sehen. Ich habe das Gefühl, den Duft der Blumen bis hier oben im Zimmer riechen zu können.
Frau Lehmann, so heißt die Dame, hilft mir beim Einrichten meiner neuen Bleibe. Anschließend führt sie mich durch das Haus. Dabei erklärt sie mir, wo was zu finden ist. Besonders die Bücherei erweckt meine Neugierde. Freude kommt auf. Ich glaube, ich werde hier eine gute Zeit zusammen mit Winnetou und Old Shatterhand erleben. Meine Begleiterin schmunzelt: „Du wirst sicherlich genügend Zeit zum Lesen haben!“, zwinkert sie mir zu. „Doch jetzt stelle ich dich erst einmal dem Doktor vor.“ Wir laufen wieder durch Gänge und bleiben vor einer Tür stehen. Frau Lehmann klopft an. Eine Stimme ruft: „Herein!“ Ich werde ins Arztzimmer geschoben. „Guten Morgen, Doktor Mira! Ich bringe Ihnen unseren jungen Patienten.“ Doktor Mira steht etwas ungelenk von seinem Stuhl auf. Der ist irgendwie witzig! Er schaukelt auf mich zu: „Herzlich willkommen in Bad Orb!“, begrüßt er mich und streckt mir seine große Hand entgegen.
Unsicher reiche ich ihm meine kleine Hand. „Du bist Harald, stimmt's?“ Ich nicke schüchtern. Seine schaukelnden Bewegungen sind lustig. Er tapst zur Liege, die an der Wand des Raumes steht. „Komm her zu mir! Ich werde dich untersuchen. Dann schaue ich nach, welche Medikamente du erst einmal weiter nehmen solltest. Du warst ja sehr krank. Jetzt sollst du dich hier bei uns erholen und neue Kräfte sammeln.“ Ich sehe mir den Doktor etwas genauer an: Er macht einen ganz vertrauenswürdigen Eindruck. Geduldig lasse ich mich untersuchen. Mit einem Zettel in der Hand, auf dem er die Medikamente notiert hat, darf ich den Raum wieder in Begleitung von Frau Lehmann verlassen. „Achten Sie bitte darauf, dass Harald regelmäßig die Medizin bekommt und auch einnimmt!“, erschallt die Stimme des Doktors hinter uns her. Ich drehe mich zu ihm um. Ein schmunzelnder Doktor sieht mich an. Er scheint zu ahnen, dass ich nicht der bravste Medikamentenschlucker bin.
Frau Lehmann bringt mich wieder zu meinem Zimmer. Bis zum Essen habe ich frei. Den Weg zur Bücherei habe ich mir einigermaßen eingeprägt. Ich werde mir ein Buch holen. Schon so lange habe ich davon geträumt, endlich Karl May-Bücher lesen zu können. Jetzt ist eine große Sammlung an Büchern für mich verfügbar. Krank sein hat manchmal auch Vorteile. Mit Old Shatterhand, Winnetou und Kara Ben Nemsi tauche ich in die Welt von Karl May ein. Zum Abendbrot muss ich persönlich abgeholt werden, da ich in fernen Landen unterwegs bin. Doch Essen ist immer wichtig: Man weiß ja nie, wann es nichts mehr gibt. Dafür lasse ich das Buch los. Noch in Gedanken springe ich auf und renne fast die Pflegerin über den Haufen. Sie nimmt es mit Humor: „Du bist ja ein ungestümer Geselle!“, lacht sie, nimmt mich an die Hand und bringt mich zum Speisesaal. Neugierig halte ich nach anderen Kindern Ausschau. Pustekuchen! Ich bin scheinbar das einzige Kind hier!
Mit mulmigem Gefühl in der Magengegend würge ich eine Kleinigkeit in mich hinein. Was soll ich bloß die ganze Zeit hier machen, stöhne ich innerlich. Gut, dass es genügend Bücher gibt!
Im Laufe der nächsten zwei Wochen verschlinge ich ein Buch nach dem anderen. Erst alle Karl May-Bücher, dann andere Romane und verschiedene Sachbücher. Ich lese Tag und Nacht. Nachts heimlich mit meiner Taschenlampe, die ich zum Glück mitgenommen habe. Leider sind die Batterien schnell leer, und ich habe keinen Nachschub. Wenn ich nicht lese, dann spiele ich Gesellschaftsspiele. Es ist zwar langweilig, alleine gegen sich selbst zu spielen, aber immer noch interessanter, als noch gelangweilter nichts zu tun.
Nach einer Woche darf ich das erste Mal an die frische Luft in den Park. Ich soll mich noch schonen, meint der Doktor. Doch wer mich kennt, weiß, dass ich solche Anweisungen geflissentlich überhöre. In Begleitung und an der Hand festgehalten darf ich den Park besichtigen. Jeglicher Trieb loszurennen wird unterbunden. Im Park riecht es herrlich! Die Blumen duften, und die frische Luft tut gut. Es ist fast wie neues Leben für mich! Jeden Tag darf ich nun für einige Minuten in den Park. Den restlichen Tag verbringe ich in meinem Zimmer und beschäftige mich mit mir selbst.
Die Erlösung kommt, als Doktor Mira mir eines Tages eröffnet, dass ich wieder ins Heim zurückgebracht werde. Die Zeit in Bad Orb ist um. Ich habe es überlebt! Langeweile, ade! Bücher, ade! Doch ihr werdet mir in guter Erinnerung bleiben. Zurück im Heim nimmt mich die Oberin in Empfang: „Harald, wie schön, dass du wieder bei uns bist! Ich habe gute Nachrichten für dich: Gestern war ich in deiner Schule. Der Rektor, deine Klassenlehrerin und ich haben beschlossen, dass du in diesem Jahr versetzt wirst, obwohl du so lange nicht am Unterricht teilnehmen konntest. Doch du musst mir versprechen, dass du dir im neuen Schuljahr besondere Mühe in der Schule gibst!“ Treuherzig sehe ich die Oberin an und schwöre ihr, mir alle Mühe zu geben. Zufrieden lachend dreht sie sich um und verschwindet in Richtung Küche.
Eine Perspektive
Im neuen Schuljahr strenge ich mich sehr an. Doch meine Schulleistungen sind ein Auf und Ab. Eines Tages werde ich wieder zur Oberin gerufen: „Harald, du bist nun fast vier Jahre bei uns. Im Dezember wirst du 14 Jahre alt. Es wird Zeit, sich über eine Lehre Gedanken zu machen.“ Verwirrt schaue ich sie an. Die Oberin schlägt mir vor, darüber nachzudenken, was ich gerne lernen möchte. Ich weiß doch gar nicht, was ich werden will! Während meiner Lehre, so verspricht sie mir, kann ich weiter im Heim leben. Das erleichtert mich sehr. Ich hatte schon Angst, dass sie mich jetzt wegschicken würde. Die Schwestern hier sind sehr nett, und ich habe gute Beziehungen zu ihnen. Hier fühle ich mich sicher und auch verstanden. Wenn ich weggehen müsste, wäre das schrecklich für mich. Die Art und Weise, wie die Erwachsenen hier miteinander umgehen, tut mir gut. So will ich auch werden! Und eine solche Ausstrahlung will ich auch mal haben. Hier habe ich die schrecklichen Zeiten in meiner Familie vergessen können. Wenn ich demnächst eine Lehre beginne, wird das sicherlich ein schönes Abenteuer für mich. Nur, was soll ich denn lernen?
Das kann doch nicht wahr sein!
Einige Wochen später werde ich wieder in das Büro der Oberin gerufen. Schon an ihrem Gesichtsausdruck sehe ich, dass etwas nicht in Ordnung ist. Sie ringt nach Worten und ist den Tränen nahe: „Harald, ich muss dir eine schlimme Nachricht überbringen. Das Jugendamt hat mir mitgeteilt, dass du in zwei
Tagen in ein anderes Heim verlegt wirst.“ Ich starre sie sprachlos an. Tausende Gedanken toben mir durch den Kopf. Wortlos verlasse ich das Büro. Das ist nicht wahr! Geschockt laufe ich zu meinen Rollschuhen, schnappe sie mir und renne los. Die Schwestern hatten wohl schon geahnt, dass ich so reagieren würde. Mit vereinten Kräften versuchen sie, mich aufzuhalten. Doch ich bin innerlich ein Riese mit Bärenkräften! Ich stoße sie alle zur Seite. Tränenüberströmt renne ich aus dem Haus, ziehe mir hastig meine Rollschuhe an und sause davon. Egal, wohin! Nur weit, weit weg! Etliche Stunden, ohne müde zu werden, fahre ich durch die Gegend. Ich will nur noch ganz weit weg von diesem ganzen Unrecht!
Am Abend werde ich von zwei Polizeibeamten aufgehalten. Sie wissen, dass ich ein Entflohener aus dem Heim bin. Die Beamten wollen mich wieder zurückbringen. Doch der Riese mit den Bärenkräften in mir ist stärker als sie. Sie können mich nicht festhalten. So schnell ich kann, laufe ich mit meinen Rollschuhen wieder los. Die Polizisten verfolgen mich mit ihrem Auto. Immer wieder kann ich ihnen entwischen, da ich Strecken wähle, auf denen sie mir mit ihrem Auto nicht folgen können. Inzwischen sind noch mehr Polizisten hinter mir her. Einige Male versuchen Beamte, zu Fuß hinter mir herzulaufen, um mich ergreifen zu können. Ich entwische ihnen immer wieder. Als geübter Rollschuhfahrer bin ich sehr wendig und schnell.
Doch meine Heimflucht hat ein jähes Ende. Die Polizisten bilden einen Kreis und ziehen ihn immer enger. Ich kann nicht mehr entwischen. Als sie mich ergreifen, tobe ich wie ein Wilder und versuche immer wieder, mich mit all meinen Bärenkräften loszureißen. „Was ist denn mit diesem Jungen los? So einen wilden Burschen habe ich ja noch nie erlebt!“, ruft ein Polizist. Ich werde zurück ins Kinderheim gebracht, unter besondere Bewachung gestellt und am nächsten Tag in ein Heim nach Espelkamp gebracht.
In mir ist etwas zerbrochen!