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Artikel II.Zur Einstimmung

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Schon in der Antike gestand der griechische Philosoph und Universalgelehrte Aristoteles (384 v. Chr. - 322 v. Chr.) dem Menschen keine Sonderrolle zu, für ihn gehörte der Mensch zum Tierreich! Zwischenzeitlich galt der Mensch als etwas besonderes, als die „Krone der Schöpfung“. Erst der schwedische Naturforscher Carl von Linné (1707-1778) hat den Menschen 1735 in seiner Veröffentlichung Systema Naturae wieder dem Tierreich zugeordnet. Er prägte für ihn den Begriff Homo sapiens, lateinisch für verstehender, verständiger oder weiser, gescheiter, kluger, vernünftiger Mensch. Allerdings ist der Mensch in der Tierwelt besonders, weil er die Fähigkeit zur Reflexion (ob er sie nutzt, ist eine andere Geschichte) besitzt und von Geburt an empathisch ist. Aber auf keinen Fall ist er „Gottes Ebenbild“ beziehungsweise die „Krone der Schöpfung“, wie es viele Christen immer noch glauben!

Das Säugetier Mensch, den Homo sapiens, definierte (s.o.) Carl von Linné als mentales Multitalent: Er ist sich seiner selbst bewusst, kann denken, komplexe Zusammenhänge verstehen, Erkenntnisse gewinnen, die nicht glaubens- sondern faktenbasiert sind. Darüber hinaus ist er kreativ und besitzt Intuition (…aus dem Bauch heraus, Gedankenblitze oder Ideen, die sich rational nicht erklären lassen). Er kann reflektieren und selbstkritisch sein. Er ist flexibel und in der Lage, sich an neue Umgebungen anzupassen, dazu neugierig und gesegnet mit Entdeckergeist.Und er ist das einzige Tier, das Scham empfinden kann und ein Schuldbewusstsein besitzt. Der Mensch kann aus Fehlern lernen. Aber er kann auch äußerst destruktives Verhalten an den Tag legen. Wissenschaftliche Erkenntnisse, die ihm nicht gefallen oder nicht in sein Weltbild passen, erklärt er kurzerhand zu Fake News. Beispielsweise die menschengemachte Klimaveränderung: Trotz wissenschaftlicher Beweise wird sie immer noch von einigen Zeitgenossen schlichtweg geleugnet, obwohl der Mensch jahrhundertlang Bedingungen auf unserem Planeten schuf, die unweigerlich das Überleben seiner eigenen Art massiv bedrohen, ganz abgesehen von der Vernichtung anderer Tier- und Pflanzenarten. Der Hamburger Zoologie Professor Matthias Glaubrecht meint dazu: „Unsere Strategie bestand jeher darin, als plündernder Pionier weiterzuziehen, sobald die Ressourcen irgendwo erschöpft waren.“ Er handelt hier als das genaue Gegenteil eines Homo sapiens!

Nicht ausweichen kann er allerdings vor sogenannten, von ihm unverschuldeten Schicksalsschlägen beziehungsweise von diesen ausgelösten Krisen. Sie sind unvermeidliche Begleiter des Lebens. So schmerzlich sie auch sein mögen, sie können manches Mal ein Erkenntnisgewinn bzw. ein Anstoß zu positiver Entwicklung sein.

Aber wie viele Menschen nutzen ihr gesamtes Potential als Homo sapiens, handeln wahrhaftig? Eine rhetorische Frage, aber als Individuum sollte ich mich schon damit auseinandersetzen: Wie steht es denn um meine eigene Wahrhaftigkeit? Strebe ich nach Wahrheit, fühle ich mich ihr verpflichtet? Oder bin ich ein*e Taktierer*in und nehme es mit der Wahrheit nicht so genau? Lasse häufig fünfe gradesein? Wo habe ich solches Verhalten gelernt? Bin ich zufrieden mit mir, will ich so bleiben, wie ich bin oder will ich mich entwickeln? Und zwar zum Besseren, dem Richtigen, dem Ursprünglichen?

Immerhin eine Eigenschaft hat der Mensch mit höheren Tieren (Primaten) gemein, er hat Gefühle. Genau wie sie kann er beispielsweise Freude, Angst, Zuneigung, Schmerz etc. empfinden, womit wir schon beim Thema sind: Mir, liebe*r Leser*in, geht’s ums uneingeschränkte Fühlen, um echte Gefühle, aus deren Wahrnehmung sich Empathie für uns selbst und unsere Mitwelt entwickeln kann. Aber häufig ist es so, dass wir Emotionen mit Gefühlen verwechseln. Die meisten Menschen unterliegen diesem Irrtum! Ein mulmiges Gefühl beispielsweise in Form eines Unbehagens ist eigentlich keins, sondern eine unspezifische Regung, eine Emotion, während ein Gefühl konkret, differenziert wahrgenommen wird, wie z.B. Wut, Empörung, Zurückweisung, Freude, Hass, Rache, Ohnmacht, Verlassenheit, Trauer, Schmerz, Scham, Schuld, Zuneigung, Dankbarkeit, etc.

Nichts gegen Emotionen. Wir alle haben sie. Sie können eine Vorstufe von Gefühlen sein. Auf jeden Fall sind es Botschaften unserer Seele, die häufig nicht so ohne weiteres zu verstehen sind. Sie müssen zunächst entschlüsselt werden. Und das ist gar nicht so einfach. Da wir es von früh an gelernt haben, uns durch die Augen anderer, die Eltern, Lehrer etc. zu sehen, fällt es gar nicht so leicht, Selbstbetrachtung zu betreiben (und ist ja auch als sogenannte Nabelschau verpönt). Besonders am Anfang des Entwicklungsprozesses zum wahren Selbst ist Decodieren zumeist mühevoll, aber mit zunehmender Achtsamkeit und Übung fällt es immer leichter. Wenn wir uns also der Selbstbetrachtung hingeben und darüber hinaus erlauben zu fühlen, werden wir (vielleicht mit Entsetzen) feststellen, was sogenannte Erziehung mit und aus uns gemacht hat. In diesem Prozess werden wir langsam aber sicher sehend, d.h. mehr und mehr weicht unsere emotionale Blindheit. Was nichts Geringeres bedeutet, als dass sich unsere Seele von krankmachenden Hinterlassenschaften unserer Erziehungsbiografie befreit. Wenn wir diesen Zustand erreicht haben, wird es keinem mehr gelingen, uns zu verunsichern noch offensichtlichen Blödsinn einzureden, geschweige denn, uns von unserem eingeschlagenen Weg zum wahren Selbst abzubringen.

Endlich können wir anfangen zu trauern, über das, was uns angetan wurde, wie wir verbogen wurden, wobei es sehr befreiend sein kann, darüber zu weinen, denn „Tränen sind geschmolzenes Seeleneis, dem Weinenden sind alle Engel nah.“, schreibt Hermann Hesse. Ein Mensch, der weint, der fühlt seinen Schmerz, seine Trauer, seine Wut, seine Ohnmacht, seine Scham. Das Eis, das die Seele bis dato umschlossen hielt, beginnt zu tauen. Die belastete Seele wird frei, beginnt zu leben gleichsam der schlummernden Natur, die im Frühling zu neuem Leben erwacht. Neues bricht auf. Nur dass die einmal befreite Seele keinem Jahreszyklus folgt, sondern frei bleibt, solange der Körper lebt. Und die Nähe der Engel, die derjenige spürt, dessen Seele zu erwachen beginnt, ist das unbeschreibliche Gefühl von nie gekannter Freude über den Zuwachs von Vitalität und Empathie. Aber ich greife bereits vor.

Zunächst aber lade ich Sie ein auf das vielleicht größte Abenteuer Ihres Lebens, dem Prozess, der die Überschrift trägt:

Wie man wird, was man ist, ein Mensch.

***

Im ersten Teil meines Essays stelle ich dar, wie und wodurch wir seit Beginn unseres Erdenlebens mehr oder weniger zu Mängelexemplaren von unseren wichtigsten Bezugspersonen durch sogenannte Erziehung verformt worden sind, ein Ego entwickelt haben und welch negativen Konsequenzen sich daraus für den einzelnen von uns und unsere Gesellschaften ergeben.

Im zweiten Teil zeige ich einen möglichen Entwicklungsweg auf, der uns heilen kann und zum Ureigensten unseres menschlichen Daseins, zu unserem wahren Selbst und zur Wahrhaftigkeit zu führen vermag.

Alice Miller hat mich inspiriert: Ohne ihre Publikationen und ihre wissende Zeugenschaft wäre ich wahrscheinlich nie zur folgenden Erkenntnis gelangt:

Weiche niemals psychischem Schmerz aus! Er wird Dich nicht umbringen, so intensiv er sich auch immer anfühlen mag! Und vor allen Dingen – er dauert nicht ewig! Mag der Auslöser gegenwärtig sein, die Ursachen liegen tiefer, in der Vergangenheit deiner Kindheit. Hier verbirgt sich der Schlüssel zu deiner Heilung! “

Dieser Königsweg, das mutige Anschauen unseres Kindheitsdramas und seine schonungslose Aufarbeitung, erschließt unser Ureigenstes, unser wahres Selbst. Diesen Reichtum zu entdecken ist gleichbedeutend mit einem spürbaren Zuwachs an innerer Freiheit und Stärke, Empathie und Menschlichkeit. Am unmittelbarsten profitieren wir selbst, mittelbar unsere Kinder, und Mitmenschen, letztendlich die gesamte Gesellschaft. Martin Miller, Psychotherapeut und Sohn von Alice, nennt das treffend „die verändernde Kraft der Biografiearbeit“. Die katastrophale Alternative „Wer nicht leiden will, muss hassen!“ bringt der Psychoanalytiker Horst-Eberhard Richter auf den Punkt. Hass aber gebiert Gewalt mit ihrer weltweit sichtbaren Destruktivität!

Das vorliegende Essay beschreibt u.a. meinen streckenweise sehr schmerzhaften Entwicklungsprozess, begonnen mit dem Bröckeln meiner Abwehrmauer über das schrittweise fühlende Erkennen dessen, was mir als Kind angetan wurde bis hin zum blanken Entsetzen, den Schmerz und die Trauer über das, was ich unbewusst im Erziehungsprozess an meinen Sohn Oliver weitergegeben habe.

Meinen Entwicklungsprozess zum Menschen haben - was in diversen Eigentherapien nicht gelungen ist - die Schriften von Alice Miller begleitet und maßgeblich unterstützt. Die Freude über diesen Erfolg veranlasste mich, vorliegenden Text zu verfassen, damit vielleicht auch Sie zu Ihrem Ureigensten zurückfinden und Mensch werden.

Alle eingerückten Zitate, die ohne Quellenangabe wiedergegeben sind, entstammen meiner unveröffentlichten Autobiografie Wer weeß, wofür ditt jut is…. Sie sind sämtlich am Ende mit (H.S.) gekennzeichnet.

Abschließend noch eine Bemerkung zur Elternschaft: Wahrscheinlich gibt es unfehlbare Eltern nirgendwo auf der Welt, dennoch werbe ich für ideale Elternschaft. Auch wenn es sie vielleicht nicht gibt, ist jedoch unstrittig, dass Eltern, die sich ihrer selbst-bewusst, achtsam und empathisch sind und darüber hinaus die unschätzbare Eigenschaft besitzen, ihre Kinder trotz und über die Pubertät hinaus vorbehaltlos und bedingungslos lieben zu können, sie respektvoll zu behandeln, sie als eigenständige und einzigartige Individuen anzuerkennen, werden trotz eventueller Fehler in der Erziehung die Entwicklung prachtvoller und einzigartiger Menschen-Kinder ermöglichen!

Ohne die Unterstützung mir nahestehender Menschen wäre der Text in der vorliegenden Form nicht zustande gekommen: Und so gilt mein besonderer Dank meiner Frau Hanni, die geduldig das Manuskript korrigiert und Verbesserungen vorgeschlagen hat sowie meinen Psychologen-Freunden Norbert aus Lübeck und Friedhelm aus Kiel. Beide gaben mir fachlich wertvolle Tipps und Hinweise. Außerdem Dank an meine Kollegin und Mitkämpferin Barbara vom Flüchtlingstreffpunkt Neuland in Lünen. Sie hat sich der zeitaufwändigen Schlusskorrektur angenommen. Ihre klugen Hinweise verbunden mit konstruktiver Kritik waren letztlich wie ein Sahnehäubchen auf der Erdbeertorte.

Also, ihr Lieben, nochmals meinen allerherzlichsten Dank!

Harald Seiling

Lünen, Sommer 2020

Ego adieu

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