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Artikel VI.Die Herrschaftsbeziehung zwischen Kind und seinen Bezugspersonen
Оглавление„Jeder Mensch wird hilflos und abhängig in diese Welt hinein geboren. Jedes Kind ist an jemanden gebunden – üblicherweise eine Frau, die eine überwältigende Macht innehat, weil sie sein Leben in der Hand hält.“
Siri Hustvedt
Um als Babys- und Kleinkinder die überlebensnotwendige Verbindung zu unseren Bezugspersonen, in der Regel die Eltern, aufrechtzuerhalten, lernen wir, uns so zu verhalten, dass die Bindung zu ihnen (der Mutter, den Eltern) nicht abreißt. Empfindlich wie ein Seismograph reagieren wir auf feinste Signale, die von den Eltern ausgehen. Wir registrieren Gesten, Tonfall, achten auf kleinste Veränderungen in der Körpersprache. Diese Signale zeigen an, ob unser Verhalten als gut oder schlecht bewertet wird. Unsere tatsächlichen Gefühle und Wahrnehmungen müssen wir verleugnen, ja, verkehren sie häufig sogar ins Gegenteil, indem wir beginnen, genau diese Menschen zu idealisieren, die uns Schmerz und Leid zufügen. Wir betrachten uns künftig mit ihren Augen bzw. mit den Augen anderer! (Die negativen Konsequenzen, die das Verweigern des Autonomiebedürfnisses von Kindern hat, sind allgegenwärtig.)
Bereits Anfang der 1920er Jahre - also vor rund 100 Jahren, vor Verabschiedung der UN-Kinderrechtskonvention im November 1989 - verfasste der polnische Kinderarzt und Pädagoge Janosz Korczak (eigentlich Henryk Goldszmit, 1878 - 1942) in seiner Magna Charta Libertatis seine sogenannte Erklärung der Kinderrechte. (Er, als Leiter eines Waisenhauses für jüdische Kinder im Warschauer Getto war es übrigens, der am 5. August 1942 mit 200 „seiner Kinder“ und seinen engsten Mitarbeiter*innen unter der Fahne des Waisenhauses zum Sammelplatz der SS marschierte, um schließlich in den Zug zum Vernichtungslager Treblinka einzusteigen. Aus Liebe zu und Solidarität mit „seinen Kindern“ folgte er ihnen in den sicheren Gastod!)
Aber lesen wir zunächst weiter, was er in seiner Erklärung der Kinderrechte u.a. formulierte:
Ein Kind hat das Recht:
auf Achtung
sich zu entwickeln
zu sein, wie es ist
auf Trauer
zu lernen
Fehler zu machen.
Unsere Gesellschaft ist Lichtjahre davon entfernt. Nach Aussage des Vereins Schotterblume e.V. müssen Kinder auch heute noch schlimmste körperliche Gewalt in Form von Prügel, das Schlagen mit Gegenständen, Treten, Boxen, Schütteln, gegen Wände werfen erleiden. Daneben werden Kindern Stich- und Würgeverletzungen, Vergiftungen, Verbrühungen und Unterkühlungen zugefügt. Schwerste körperliche Misshandlungen müssen besonders Säuglinge und Kleinkinder erleiden. Sie sind dabei meist Opfer von Wiederholungstaten, keine von Affekthandlungen.
Bizarr und paradox: Eltern, die ihre Kinder eigentlich vor Üblem beschützen sollten, fügen ihnen im Gegenteil Schmerz und Leid zu und werden dennoch von diesen idealisiert. Letzteres ist ein weiterer Schutzmechanismus der Psyche: Die Kinder kompensieren auf diese Weise die eigene Hilflosigkeit, indem sie sich die Macht der Eltern einverleiben.
Zwar hilft diese Kompensation uns Kindern zu überleben, aber sie trennt uns auch von unseren subjektiven Wahrnehmungen, unserer Wahrheit. Wir verinnerlichen die Nicht-Wahrheit, indem wir lernen, Gewalt als etwas Normales hinzunehmen. Die damit verbundenen (Todes-)Ängste fallen wieder einmal mehr der Verdrängung anheim.
Diese Notbremsung der Psyche innerhalb der Herrschaftsbeziehung zwischen Kind und Eltern bzw. Bezugspersonen, dieses lebensrettende Verhalten beschrieb als Erster 1932 der ungarische Nervenarzt und Psychoanalytiker Sándor Ferenczi in seinem Wiesbadener Vortrag:
„Kinder fühlen sich körperlich und moralisch hilflos, ihre Persönlichkeit ist zu wenig konsolidiert, um auch nur in Gedanken zu protestieren zu können, die überwältigende Kraft der Autorität des Erwachsenen macht sie stumm, ja beraubt sie oft der Sinne. Doch dieselbe Angst, wenn sie einen Höhepunkt erreicht, zwingt sie automatisch, sich dem Willen des Angreifers unterzuordnen, jede seiner Wunschregungen zu erraten und zu befolgen, sich selbst ganz zu vergessen, sich mit dem Angreifer vollauf zu identifizieren.“
Dieser Wirkmechanismus, genannt Identifikation mit dem Aggressor (bei Geiselnahmen auch beschrieben als Stockholm-Syndrom), führt dazu, dass wir, ohne es zu wollen, die Persönlichkeitseigenschaften, Werte und Verhaltensweisen des Aggressors übernehmen und sie uns zu Eigen machen. Wir entwickeln uns zu Mängelexemplaren, oder wie es der Schweizer Psychoanalytiker Arno Gruen nennt, zu Kopien (unserer Eltern/Bezugspersonen).
Das Heimtückische dieser Identifikation ist, dass die traumatisierenden Erfahrungen ungewollt direkt oder indirekt an die nachfolgende Generation weitergegeben werden können. Und das ist verheerend: Wir verleugnen nicht nur, dass wir zu Opfern gemacht wurden, sondern erkennen auch die Ursachen des eigenen Opferseins nicht mehr. Stattdessen machen wir andere, Schwächere, zu Opfern. Um dem vorzubeugen gilt es unbedingt, die Opfer so gut und früh wie möglich zu schützen, denn:
Die misshandelten Kinder von heute sind die Misshandler von morgen!
In vielen Familiengeschichten lässt sich dieser Prozess häufig über mehrere Generationen hinweg als Kette innerfamiliärer Gewalt beobachten.