Читать книгу Jeremy - Harald Winter - Страница 4
Dezember, 2006
ОглавлениеEs war ein Weihnachten, wie man es sich wünschte. Sogar das Wetter spielte mit. An Weihnachten sollte es Schnee geben. Und Gebäck, geliebte Menschen, Licht und Wärme. Genauso war es auch.
Jeremy hatte soeben den Weihnachtsbaum dekoriert. Mit dem Ergebnis konnte er zufrieden sein. Vor seinem geistigen Auge sah er bereits das Glitzern in den Augen seiner Frau. Maria allerdings würde den Baum erst später zu Gesicht bekommen. Sie war nochmal weggefahren um die letzten Einkäufe zu erledigen. Ihrer beider Eltern würden sich abends einfinden, um wie jedes Jahr gemeinsam mit den Kindern zu feiern. Nun, eigentlich waren sie schon lange keine Kinder mehr, aber in der Wahrnehmung der Eltern schien man nie zu altern. Irgendwie blieb man für sie immer ein 10-jähriger. In gewissen Momenten zumindest.
Die Türglocke schrillte. Musste wohl ein Teil der Elternschaft sein. Jeremy stellte das Glas mit dem Punsch, den er sich eingeschenkt hatte auf den Beistelltisch neben dem Sofa und ging in den Flur hinaus, um zu öffnen. Sein Vater und seine Mutter traten aus dem Schneegestöber. Beladen mit guter Laune und Geschenken. Jeremy begleitete die beiden ins Wohnzimmer. Sie luden den Berg von Aufmerksamkeiten sorgsam ab und nahmen Platz. Jeremy hatte inzwischen zwei Gläser Punsch aus der Küche besorgt. Wärme durchströmte ihn, als er sich setzte und die beiden betrachtete. Dreißig Ehejahre hatten ihrer Verbundenheit nichts anhaben können.
Als er sein Glas heben wollte läutete das Telefon. Wahrscheinlich war es Marias Mutter. Diese Frau konnte Termine nicht wahrnehmen, ohne ein mobiles Kommunikationssystem zur Hand zu haben. Das lag einfach daran, dass sie Gerüchten zufolge noch niemals pünktlich erschienen war. Verspätungen waren an der Tagesordnung und wurden daher auch immer angekündigt, um den jeweiligen Gastgeber nicht vollends zu verärgern.
Jeremy erhob sich, und nahm den Hörer ab. „Hier bei Mahone?“ sagte er. „Jeremy? Bitte komm sofort hierher. Ich habe Angst. Hilf mir!“ Ein Moment verging. Jeremy hatte damit gerechnet, dass seine zukünftige Schwiegermutter in der Leitung sein würde; oder irgendjemand, der wie so viele in diesen wenigen Tagen bevor das Jahr endete Weihnachtswünsche loswerden wollte. Womit er nicht gerechnet hatte war die panische Stimme seiner Frau, die ihm kalte Schauer über den Rücken jagte. Er brauchte einen Moment um die Verwirrung zu überwinden. „Wo bist du Schatz? Was ist los? Wovor hast du Angst?“ „Ich bin ganz in der Nähe. Auf dem Parkplatz der Bäckerei. Der Wagen springt nicht an und hier treiben sich seltsame Gestalten herum. Komm schnell Jerry! Bitte!“. „Warum gehst du nicht …“ konnte er noch sagen, bevor ein hartes Klicken ihn nachhaltig auf die unterbrochene Verbindung aufmerksam machte.
Was für seltsame Gestalten trieben sich in einer verschlafenen Kleinstadt am Weihnachtsabend herum? Warum ging seine Frau nicht in die Bäckerei zurück? Im Moment egal. Er hastete an seinen Eltern vorbei in den Flur, griff nach den Schlüsseln seines Wagens und rief „Marias Wagen springt nicht an. Bin gleich zurück“ in Richtung Wohnzimmer. Er stürmte aus dem Haus, schlug die Tür etwas zu heftig hinter sich zu und warf sich hinter das Steuer seines Hondas. Mit aufheulendem Motor schoss er aus der Einfahrt und raste die Zufahrtsstraße hinunter. Der Parkplatz, von dem seine Frau gesprochen hatte war nicht sonderlich weit entfernt. Nur wenige Minuten später brachte er seinen, im bereits liegengebliebenen Schnee bedenklich schlingernden Wagen zum Stehen. Vor sich im Scheinwerferlicht konnte er den Wagen seiner Frau sehen. Die Fahrertür war geöffnet und die Innenbeleuchtung brannte. Keine Spur von seiner Frau. Jeremy stieg aus und ging vorsichtig zu Marias Dodge hinüber. Ein kurzer Blick überzeugte ihn, dass das Fahrzeug tatsächlich verlassen war. Auf dem Beifahrersitz stand eine große braune Tüte. Wahrscheinlich das Gebäck für das Festmahl. Aber wo zum Teufel war Maria? Er sah sich um. Im dichten Schneegestöber konnte er kaum etwas erkennen. Wohin sollte er sich wenden? Bevor er einen weiteren Gedanken fassen konnte, hörte er einen erstickten Laut aus der Dunkelheit hinter der Bäckerei. Er rannte hinüber. Die Sorge um seine Frau gewann die Überhand und jede Vorsicht war vergessen.
Seine Augen hatten sich bereits an die Dunkelheit gewöhnt. Im Nachhinein wünschte er sich, es wäre anders gewesen. Was er im schwachen Licht der Scheinwerfer hinter sich sehen konnte, ließ das Blut in seinen Adern gefrieren. Zwei kaum erkennbare Gestalten hielten eine dritte zwischen sich. Es war Maria. Blut lief über ihren Hals und ihren rechten Arm. Ihre Augen starrten blicklos ins Leere. Eine der Gestalten sah auf, als sie Jeremy bemerkte. Das Gesicht geriet ins Licht der Scheinwerfer. Jeremy prallte zurück. Dunkel glühende Augen musterten ihn. Aus dem rot verschmierten Mund grinsten ihm unnatürlich aussehende Zähne entgegen. Jeremy konnte sich nicht bewegen. Hilflos musste er zusehen, wie die beiden Fremden gleichzeitig losließen und Maria haltlos zusammensackte. Ihm wurde schwarz vor Augen. Als sein Blick sich klärte waren die beiden grausigen Gestalten verschwunden und zu seinen Füßen lag seine Frau im Schnee. Blutüberströmt, mit offenen Augen, aus denen der Glanz gewichen war. Er trat einen Schritt auf sie zu, kniete nieder und berührte ihre Haut. Sie war eiskalt. Jeremy begann zu schreien.
„Jerry. Jerry! Kannst du mich verstehen?“ Flackerndes blaurotes Licht. Jeremy versuchte sich aufzurichten. Er lag neben seiner Frau und seine Kehle fühlte sich an wie Sandpapier. Offenbar hatte er lange geschrien, bevor die Ohnmacht ihn endlich umfing. Das Gesicht, das sich vor ihm aus dem Nebel, der überall zu sein schien, schälte, gehörte dem County-Sheriff Frank Holden. „Frank. Was ist hier passiert Frank?“ Er kannte Holden bereits seit seiner Kindheit und im Moment war alles Vertraute ein Strohhalm für Jeremy, an den er sich klammern konnte um die Verbindung zur Realität nicht zu verlieren. „Ich weiß nicht was hier los war. Sue aus der Bäckerei hat dich hier draußen brüllen hören, als sie den Müll rausgebracht hat. Aus Angst vor einem potentiellen Irren hat sie gleich die Polizei gerufen. Wir sind so schnell gekommen wie wir konnten und haben dich hier ohne Bewusstsein gefunden. Jerry … deine Frau … es tut mir leid …“ Jeremy schluckte den harten Brocken, der seinen Kehlkopf zu sprengen drohte hinunter. „Sie ist tot, nicht wahr?“ Mehr konnte er nicht sagen. Weinend brach er erneut zusammen.
„Okay Jungs. Ich bringe Jerry zum Wagen und fahre ihn zur Station. Kümmert ihr euch um den Tatort und um ...“ - die Stimme stockte kurz - „Maria“ Jeremy hörte zwar die Worte, konnte ihnen aber keine Bedeutung zuordnen. Er spürte nur, dass ihn jemand auf die Beine zog und wegbrachte. Weg von Maria.
Auf der Rückbank des Polizeiwagens erlebte Jeremy die Fahrt, als wäre er in Watte gepackt und würde durch einen endlosen Tunnel schweben. Geräuschlos zog Dunkelheit, durchbrochen von kurzen Lichtblitzen, an ihm vorbei. Hatte er tatsächlich eben noch neben seiner toten Frau gelegen, oder würde er plötzlich schweißgebadet aus einem Albtraum erwachen? Was er gesehen hatte, konnte doch nicht wirklich geschehen seien. Scheiße, das war doch eher Stoff aus einem zweitklassigen Horrorfilm. Wenn das alles Wirklichkeit war … dann würde er Maria nie wieder in die Arme schließen. Seine Gedanken verloren sich in der Dunkelheit vor dem Fenster des Wagens. Plötzlich wurde die Monotonie unterbrochen. Frank hatte den Wagen vor der Polizeistation angehalten und war ausgestiegen. Die hintere Türe wurde geöffnet. Schnee wehte herein. „Komm Jerry. Wir gehen in mein Büro und reden über alles.“ Jeremy stieg aus und ging schnell die wenigen Schritte zur Polizeistation hinüber. Es war kalt und die weiße Decke die über allem lag, erschien ihm wie ein Leichentuch. Frank ergriff ihn am Arm und schob ihn ins Innere des Gebäudes. Nur eine gelangweilte Sekretärin und zwei Deputys waren anwesend. „Hi Frank. Karl hat angerufen. Er hat die ersten Ergebnisse. Sollst ihn zurückrufen wenn du kannst“. Die Stimme der Sekretärin klang wie das Quietschen einer schlecht geölten Maschine. Die Deputies nickten Frank knapp zu und widmeten sich dann wieder ihrer Arbeit. Frank öffnete eine Tür. „Mein Büro Jerry. Setz dich da auf den Stuhl. Ich muss telefonieren. Karl, der Gerichtsmediziner, ist mittlerweile bei … deiner Frau eingetroffen.“ Jeremy ließ sich auf den Stuhl sinken und hielt den Blick weiter auf den Boden gerichtet. Er konnte noch immer keinen Zusammenhang zwischen sich und den Dingen, die rund um ihn vorgingen herstellen. Es war ihm im Moment auch egal. Sein Gehirn hatte einen Wall errichtet um sich zu schützen.
„Was? Was heißt gebissen? Ok. Du hast sowas noch nie gesehen? Glaub mir. Ich auch nicht. Was sind das für Bissspuren? Ach. Keine Zuordnung. Ein Tier vielleicht?“ Frank lehnte sich zurück und begann an einem Stift zu kauen, während er der Stimme am anderen Ende der Leitung lauschte. Plötzlich seufzte er und legte den Hörer langsam und bedächtig auf die Gabel. „Heilige Scheiße“. Er stand auf, um sich eine Tasse Kaffee aus der Kanne neben einer vertrockneten Pflanze, die schon vor Monaten resigniert hatte, einzuschenken. Das Zeug war natürlich wieder mal eiskalt. Joyce war nicht grade die geborene Sekretärin. „Jeremy. Karl hat die … Obduktion abgeschlossen. Bis auf den Papierkram. Dürfte nicht einfach werden.“ Frank starrte auf die Tasse, die er umklammert hielt. Jeremy reagierte nicht auf die plötzliche Stille. Holden räusperte sich. „Okay Jerry. Karl hat herausgefunden, was deine Frau getötet hat. Ihr Körper weist einige seltsame Bisswunden auf, aber die haben sie nicht umgebracht. Ihr Blut … ach Scheiße. Ich bin kein Mediziner Jerry. Irgendwas hat ihr Blut zu etwas anderem gemacht. Ein Virus. Bakterien. Was weiß ich. Tut mir leid. Ich bin verpflichtet dir das zu sagen.“
Zum ersten Mal seit er das Büro betreten hatte hob Jeremy den Kopf und starrte Frank mit rotgeränderten Augen an. „Irgendwas Frank? Irgendwas? Verdammt nochmal. Ich habe zwei Kerle gesehen, die Maria gebissen haben! Du musst diese Irren finden. Wenn du es nicht tust, werde ich es versuchen“ schrie er.
Der Sheriff war einen Schritt zurückgetreten. Er hatte Jeremy noch nie derart wütend gesehen. „Jerry. Jerry … ich verstehe ja …“. „Nichts verstehst du! Hat man deine Frau vor deinen Augen zerfleischt?“ schrie Jeremy.
Holden schluckte. „Nein. Du hast Recht. Ich weiß nicht wirklich, wie du dich fühlst. Aber ich muss dich trotzdem darauf hinweisen, dass wir hier nichts von Selbstjustiz halten. Nicht mal ich kann dir helfen, wenn du etwas Unüberlegtes in der Richtung unternimmst. Ich kann dir nur versprechen, dass wir alles in unserer Macht Stehende tun werden, um die Mörder von Maria dranzukriegen.“
Jeremy starrte weiter mit entrücktem Blick ins Leere. „Schon gut Frank.“ flüsterte er. Eine unangenehme Stille folgte seinen Worten. Nach einer Ewigkeit, wie es schien, zwang Holden seine Finger den Stift loszulassen, um den sie sich gekrampft hatten. Ruckartig richtete er sich hinter dem Schreibtisch auf. „Komm. Ich bring dich nach Hause. Du brauchst jetzt Ruhe.“ Er trat hinter dem Tisch hervor und berührte seinen Freund an der Schulter und zuckte sofort zurück. Es musste Einbildung gewesen sein, aber er hatte das Gefühl, als wäre die Hand mit einer hochgedrehten Herdplatte in Berührung gekommen. Bevor er weiter darüber nachdenken konnte, erhob sich auch Jeremy. „Fahren wir.“ sagte er nur.