Читать книгу Jeremy - Harald Winter - Страница 5

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Das Begräbnis war schrecklich für ihn gewesen. Er hatte Maria sehr gemocht. Viele aus dem Ort waren gekommen, um Tränen zu vergießen. Alle wollten der netten jungen Frau einen letzten Gruß zuteilwerden lassen. Jeremy hatte nicht geweint. Er hatte überhaupt keine Regung gezeigt. Hatte einfach dagestanden und auf den Sarg gestarrt. Und auf die Erde die sich später darauf türmte. Er hatte kein Wort gesagt, sich nicht bewegt. Als die Zeremonie zu Ende ging, drehte er sich einfach um, schob alle tröstend ausgestreckten Hände beiseite und verschwand. Holden seufzte. Ja, Jeremy hatte sich verändert. Aus dem umgänglichen Freund war ein kalter abweisender Fremder geworden. Sie hatten das letzte Mal miteinander gesprochen, als Frank ihn über die Ermittlungen in Kenntnis setzte. Besser gesagt, über das Tappen im Dunkeln. Die Obduktion hatte nur bewiesen, dass Maria gebissen worden war. Von … irgendetwas. Etwas Großem, jedem dahergelaufenen Biologen Unbekanntem. Andere Spuren gab es nicht. Keine Spuren, keine Zeugen, keine Verdächtigen. „Verdammt“, murmelte Holden. Wie so oft in den letzten Wochen. Wenn das so weiter ging, mussten sie den Fall zu den Akten legen. Das konnte er Jerry einfach nicht antun.

Was noch schlimmer war - es war nicht mehr nur Jeremy, der Antworten von ihm verlangte. Man hatte vor zwei Tagen eine weitere Leiche gefunden. Die einzigen Spuren waren auch hier Bisswunden. Joe Brennan war unten am Fluss angespült worden. Seine Frau hatte ihn zwei Tage zuvor als vermisst gemeldet. Holden und seine Deputys hatten sich nichts dabei gedacht. Der alte Säufer war schon öfter für einige Tage verschwunden geblieben. Aber dieses Mal würde er nicht wieder auftauchen; verkatert und ungewaschen. Es hatte ihn erwischt; Nun war er eine weitere Leiche, die Bissspuren aufwies. Frank machte sich Vorwürfe. Brennans Frau tat das auch.



Das FBI begann sich ebenfalls langsam für die beiden Morde zu interessieren. Das hatte Holden gerade noch gefehlt: Arrogante Collegetypen in Anzügen, die durch seine, zugegebenermaßen kaum nennenswerten Spuren trampelten. Holden kaute weiter gedankenverloren an seinem Stift und starrte auf die Bilder der beiden Leichen, die sein Magengeschwür vergrößerten. Es durfte diese Toten eigentlich gar nicht geben. Verdammt, er war hierhergekommen, weil es hier keine Verbrechen gab, sah man von dem einen oder anderen Falschparker ab. Er hatte die Schnauze voll von der Gewalt, die in New York ein ständiger Begleiter gewesen war, den man einfach nicht loswurde. Egal wie schnell man auch rannte.

Es war mittlerweile dunkel geworden. Jeremy war vor kurzem erwacht. Seit Marias Tod schlief er fast immer während des Tages. Seinen Job hatte er fürs Erste an den Nagel gehängt. Den Kontakt zu Freunden und Verwandten größtenteils abgebrochen. Wahrscheinlich war das aber nicht der Grund, warum er tagsüber ständig Müdigkeit empfand. Genau genommen interessierte er sich nicht für irgendwelche Begründungen. Der Bezug zu seinem früheren Leben versank immer mehr im Dunkel, in dem er nun existierte. Bei jedem Erwachen während einer neuen Nacht verspürte er eine stärker werdende Unruhe. Einen Drang etwas zu tun, von dem er nicht wusste was es war. Andere Regungen gab es nicht. Er verspürte brennenden Hass, wenn er an die Mörder seiner Frau dachte. Abgesehen davon … gab es kein Absehen. Jeremy hatte aufgehört ein Mensch zu sein. Er lag da und starrte vor sich hin. Er aß nicht, er trank nicht. Er dachte nicht. Er hasste. Jede Nacht.

Die Dunkelheit schlich erneut durch die Schatten der Stadt. Langsam kroch sie daraus hervor und setzte sich gegen das Licht des Tages durch. Jeremy erwachte. Etwas war anders als sonst. Seine Hände fühlten sich seltsam an und die Augen brannten, als würden sie in Flammen stehen. Zum ersten Mal seit Tagen stieg er aus dem Bett. Er ging taumelnd zum Waschbecken und sah in den Spiegel. Sein eigenes Gesicht starrte ihm entgegen. Seine Wangen waren eingefallen und seine Haut hatte eine ungesunde Farbe angenommen. Für den Bruchteil einer Sekunde tauchte sein gewohntes Denken aus dem Wust von Hass und Leere auf. Wie zum Teufel war er plötzlich hierhergekommen? Schneller als er die Frage voll erfassen konnte, versank sein Verstand wieder im Nichts. Jeremys Gesicht hatte sich nicht verändert, sah man von den Augen ab, die in dunklem Rot glühten. Er hob die Hände. Die Flammen, die seine Finger umspielten spiegelten sich im Rot seiner Augen. Brennendes Blut. Jeremy blinzelte. Die Flammen verschwanden und seine Pupillen nahmen wieder den gewohnten Farbton an. Langsam ging er zum Bett zurück und legte sich hin. Sofort fiel er in einen unruhigen Schlaf.

Jeremy träumte von einem alten, verlassenen Bahnhof. Es war immer dasselbe Bild. Nichts bewegte sich. Eine Ewigkeit lang schien er über dem Gelände zu schweben, ohne dass etwas geschah. Dann hatte er plötzlich das Gefühl in einen tiefen Abgrund zu fallen. Ihm wurde schwindlig und das Bild vor seinen Augen verschwamm. Als sich sein Blick klärte, saß er auf einer rostigen Bank, die mitten auf einem verlassenen Bahnsteig stand. Über die rostigen Schienen, die er vor sich sehen konnte war schon lange kein Zug mehr gerollt. „Jeremy“ sagte eine Stimme, deren Besitzer nicht zu sehen war. Ein alter Mann trat aus den Schatten. „Jeremy“ sagte er noch einmal. Der Mann trug einen Anzug, der aus dem vorigen Jahrhundert zu stammen schien. Nicht nur der Schnitt erweckte diesen Eindruck. Das bleiche Gesicht, das in der Dunkelheit zu schimmern schien, schien dem Anzug an Alter kaum nachzustehen. „Lange habe ich auf dich gewartet“ sagte er und ließ sich neben Jeremy auf der Bank nieder. Jeremy musterte ihn durchdringend „Was willst du von mir? Wo bin ich hier und was... was ist mit mir?“ fragte er. Der Unbekannte lehnte sich zurück und richtete seinen Blick auf die rostigen Stahlbalken der Schienen. „Ich bin Oreste. Es gibt einen Grund, warum ich dich zu einem Bahnhof gerufen habe. Bisher verlief dein Leben auf Schienen, die in eine vorgezeichnete Zukunft führten. Aber dann ist etwas geschehen, dass dich verändert hat und die Schienen endeten.“ Jeremy kniff die Augen zusammen, als würde er angestrengt nachdenken, blieb aber stumm. „Ich habe dich gerufen, um dir zu zeigen, wohin deine Reise von hier aus gehen kann. Was dich jedoch hauptsächlich interessieren dürfte … ich weiß was du bist.“ Jeremy bewegte sich unglaublich schnell. Seine Hand tauchte an der Kehle von Oreste auf, ohne dass mehr als ein kurzes Flimmern zu sehen gewesen wäre. Seine Augen glühten. „Ich habe dich nicht dazu gemacht“ keuchte der alte Mann. „Lass … mich los“. Jeremy ließ die Hand sinken. „Wer sind sie? Was wissen sie über mich?“ Oreste rieb sich den Hals. “Man hat dir irgendetwas angetan, das dich verwandelt hat. Deine Fähigkeit unbändigen Hass zu empfinden hat irgendeine Schleuse geöffnet, die deine wahre Kraft bisher zurückgehalten hat. Du willst Rache, für das was geschehen ist.” Jeremy sah Oreste misstrauisch an. “Und woher wissen sie, was mir zugestoßen ist?” Der alte Mann verschränkte die Hände ineinander. “Die Leute zu denen ich gehöre, warten seit einer Ewigkeit auf einen wie dich. Wir haben schon vor langer Zeit erfahren, dass es Menschen wie dich gibt und was aus ihnen wird, wenn gewisse... Voraussetzungen gegeben sind.” Jeremy hörte die Worte, die der Mann mit seinen Lippen formte, aber sie erreichten seinen Verstand nicht. Irgendetwas umgab diesen Oreste. Eine Aura, die ihm körperliches Unbehagen verursachte und die ein seltsames Verlangen in ihm immer stärker werden ließ. Er wollte diesen Mann töten. Ein Teil von Jeremys Verstand versuchte erschrocken vor diesem Gedanken zu fliehen, aber er wurde vom Sog der stärker werdenden irrationalen Wut zurück gerissen und verschlungen. Oreste schien nicht zu bemerken, welche Veränderung mit seinem Gesprächspartner vorging. “Ich bin hier, um dich zu bitten uns, und damit allen Menschen zu helfen. Es gibt einige... Wiedergekehrte, die sich nicht an die Spielregeln halten und...” Er verstummte, als er in Jeremys Augen sah, in denen ein Feuer zu flackern schien. Der alte Mann hob abwehrend die Arme. Er wollte alles erklären, aber er erhielt keine Gelegenheit mehr dazu. Er hatte die Warnung der anderen ignoriert. “Er ist eine Gefahr für uns alle” hatten sie gesagt, aber er war sich sicher gewesen mehr zu wissen als sie. Jetzt sah er, dass er sich getäuscht hatte. Jeremy lächelte kalt und stieß Oreste die Hand wie ein Messer in die Brust. „Ich bin nicht …“ keuchte der alte Mann. Dann war Stille. Ein verbranntes Herz fiel auf den staubigen Boden des verlassenen Bahnsteigs. Gleißendes Licht flammte auf und Asche regnete auf die rostigen Schienen nieder. Die Bank war leer, wie sie es auch die Jahre zuvor gewesen war. Jeremy lehnte sich zurück und starrte ins Leere. Seine Wut war zu einem dumpfen Druck irgendwo am Grund seines Bewusstseins geworden. So musste sich ein Raubtier fühlen, nachdem es die Beute gerissen und das heiße Brennen des Hungers besänftigt hatte. Er wusste nicht, ob er noch immer in einem Traum gefangen war, oder ob er wirklich gesehen hatte, wie sich der Körper des alten Mannes vor seinen Augen auflöste. War es überhaupt ein Traum gewesen? Jeremy traute seinen Sinnen nicht mehr. Es mochte durchaus sein, dass er draußen gewesen war. In seinem Kopf schienen zwei Persönlichkeiten nebeneinander zu existieren, die sich so gut sie konnten aus dem Weg gingen. Das Einzige was er mit Sicherheit wusste war, dass Oreste kein Mensch gewesen war. , sondern etwas, das schon einmal gestorben war. Warum? Woher nimmst du die Gewissheit? Jeremy hörte die Stimme, die nicht seine eigene war, aber er dachte nicht mehr darüber nach wem sie gehörte. Es war ihm egal. So wie alles andere, was mit ihm geschah. Das heiße Brodeln in seinem Inneren einzudämmen, beanspruchte alle Kraft, über die er verfügte. “Blutsauger” murmelte Jeremy ohne es wirklich zu bemerken. Sein Blick verschleierte sich und er fiel in einen tiefen Schlaf, der einer Bewusstlosigkeit nahe kam.


Jeremy

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