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Im Kunstunterricht in der sechsten Stunde ist das reinste Chaos ausgebrochen. Alle rennen kreuz und quer durch den Raum, um sich Pinsel, Farbe, Wasser und andere Materialien für ihre Bilder zu holen. Jeder will das schönste Bild malen. Jeder will als erstes mit seinem Plastikbecher am Wasserhahn sein. Schon rutscht Mandy auf der Pfütze vor dem Waschbecken aus und fliegt mit einem lauten Platsch auf den Boden. Das Wasser in ihrem Becher verteilt sich in einem Umkreis von zwei Metern und schwappt dabei über die Schuhe von Sondra, die gerade mit vollem Becher auf ihren Platz gehen will. Sondra schreit laut auf vor Schreck und lässt ihren Becher fallen. Natürlich auf Mandy, die noch auf dem Bauch vor ihr liegt. „AAAAAH!“, quiekt Mandy, die nun nicht nur auf dem Bauch, sondern auch auf dem Kopf und dem Rücken nass ist.

„Was ist denn hier los?“, brüllt Herr Hartmann, der bisher auf seinem Stuhl hinter dem Lehrerpult gesessen und die Tageszeitung gelesen hat.

„Die spinnen hier alle!“, heult Mandy.

Herr Hartmann springt von seinem Stuhl auf und stößt mit Torben zusammen, der ebenfalls gerade dabei ist, einen Wasserbecher zu seinem Platz zu tragen. Es platscht und beide haben einen riesigen Wasserfleck vor dem Bauch. „Pass doch auf!“, schimpft Herr Hartmann.

„Ich war zuerst hier!“, beschwert sich Torben und geht mit dem verbliebenen Wasser einfach weiter, als sei nichts passiert.

Ich sitze vor meinem Zeichenblock und kämpfe seit mehreren Minuten mit dem Papier. Egal, auf welcher Seite ich versuche, es von dem Papprand zu lösen – an einer Stelle reißt es immer ein. Mittlerweile versuche ich es schon mit dem dritten Blatt. Vorsichtig gehe ich mit dem Finger unter das oberste Blatt Papier, trenne es sorgfältig Stück für Stück von dem Rand. Endlich. Schadfrei von der einen Seite gelöst. Die andere Seite ist immer ganz einfach zu reißen. Einfach wie bei einem gewöhnlichen Block abreißen. Ich ziehe beherzt, das Blatt reißt genau in der Mitte in zwei Teile. Das gibt es einfach nicht.

„Was machst du denn da?“, fragt mich Sofie im Vorbeigehen.

„Nichts“, stöhne ich. „Ich versuche einfach, ein Blatt aus diesem blöden Zeichenblock zu trennen, aber es reißt immer ein.“

„Ist doch ganz einfach“, sagt Sofie, nimmt das oberste Blatt aus meinem Zeichenblock, zieht links, zieht rechts – und das Blatt ist ohne einen Riss aus dem Block gelöst. „Wie hast du das gemacht?“, frage ich erstaunt. „Ist doch ganz einfach“, wiederholt sie und geht weiter. Ich schüttle den Kopf. Sofie hat magische Hände. Anders kann ich mir das nicht erklären.

„Kannst du mir ein Blatt ausleihen?“, fragt mich Mandy, die klatschnass vor meinem Tisch steht. Aus ihren Haaren fallen Tropfen auf mein frisches, neues Blatt ohne Riss.

„Da liegen welche“, sage ich und bedecke mit meinen Armen das Blatt, um es vor Mandys Tropfen zu schützen. Mit meinem Kopf zeige ich auf den leeren Stuhl neben mir mit den verunglückten Blättern. „Die sind allerdings eingerissen.“

„Das ist mir egal“, sagt Mandy und nimmt eins der Blätter. „Bei mir reißen die normalerweise noch mehr ein.“

Das beruhigt mich etwas. Ich nehme einen Pinsel und überlege, was ich malen soll. „Was habe ich von der Botschaft der Bibel verstanden?“, war das Thema. Oder: „Was ist mein persönlicher Glaube?“

Ich gehe sonntags in den Kindergottesdienst. Dort beten wir, reden über Gott und hören Geschichten aus der Bibel. Was davon habe ich verstanden? Hm. Gott hat die Welt gemacht. Das habe ich verstanden. Jesus war ein guter Mensch, der andere gesund gemacht hat. Das weiß ich auch noch. Aber ist das die Botschaft der Bibel? Was genau ist überhaupt die Botschaft der Bibel? Dass Gott alle Menschen liebt? Dass wir an ihn glauben sollen? Tja. So genau habe ich mir darüber noch nie Gedanken gemacht. Oder was ist mein persönlicher Glaube? Die Frage kapiere ich nicht. Was soll denn mein persönlicher Glaube sein?

Felix, der neben mir sitzt, malt schon fleißig ein Rennauto. Er malt nicht mit Wasserfarben, sondern mit Filzstiften. Dürfen wir das? Und was, bitte, hat ein Rennauto mit der Bibel zu tun?

Neben Felix sitzt Marvin. Er hat mit blauer Wasserfarbe eine fette Wolke auf sein Blatt gepinselt. Darauf malt er eine Frau, einen Mann und drei Kinder, die fröhlich auf der Wolke tanzen. „Wie wär’s“, sagt Marvin zu Felix, ohne von seinem Blatt aufzuschauen, „wir klauen das wertvolle Bild und verkaufen es für eine Million Euro.“

„Au ja“, grinst Felix. „Und von dem Geld kaufe ich mir einen Ferrari!“

„Und ich mir ein Luftgewehr.“ Marvin grinst und malt weiter. Marvin ist mir ein bisschen unheimlich. Er wohnt in der Straße mit den hohen Häusern, wo es ständig Prügeleien gibt und wo immer wieder die Polizei kommen muss. Ihn kann ich mir wirklich gut mit einem Luftgewehr vorstellen. Wenn ich groß bin und als Polizist arbeite, sollte er aufpassen, dass er nicht als Verbrecher arbeitet. Sonst fange ich ihn und sperre ihn ein.

„Bist du bescheuert?“, höre ich Anna plötzlich in der letzten Reihe laut schimpfen. „Wieso legst du dein Pausenbrot auf mein Blatt?“

„Soll ich es etwa auf mein Blatt legen?“, blafft Torben, der neben ihr sitzt, zurück. „Das gibt doch Fettflecken!“

„Ach ja! Und jetzt habe ich Fettflecken auf meinem Blatt!“

„Ach Quatsch! Man sieht doch gar nichts!“

Herr Hartmann schaut von seiner Zeitung hoch: „Torben, pack dein Pausenbrot weg!“

„Ich hab aber Hunger!“, verteidigt er sich.

Herr Hartmann schüttelt den Kopf und vertieft sich wieder in seine Zeitung.

Schon wieder steht Mandy vor meinem Tisch: „Kannst du mir Deckweiß leihen?“

Sie meint die Tube mit der dicken weißen Farbe, die eigentlich in jedem Farbkasten liegt.

„Warum hast du selbst keins?“, frage ich zurück.

„Schon leer.“

„Und warum fragst du dann ausgerechnet mich?“

„Weil ich gesehen habe, dass dein Deckweiß noch aussieht wie neu.“

„Das ist auch neu.“

„Kann ich es jetzt haben? Bitte?“

Ich hole die Tube aus dem Wasserfarbkasten und gebe sie ihr. „Aber nicht alles verbrauchen.“

„Klar.“ Damit schwirrt sie ab, bleibt aber beim Tisch von Jonathan stehen: „Süüüüß!“

Die Tischnachbarn von Jonathan drehen sich sofort um und schauen auf sein Gemälde. „Du kannst aber toll malen“, findet Christina.

„Kannst du mir auch so ein schönes Bild malen?“, fragt Sarah.

„Was soll das sein?“, erkundigt sich Bea.

„Das da bin ich“, Jonathan zeigt mit dem Pinsel auf eine der beiden Figuren auf seinem Blatt, „und das andere ist meine Schwester.“

Ich stehe von meinem Platz auf, gehe auch zu Jonathans Tisch und staune. Der Kerl kann wirklich gut malen! Ein Junge und ein Mädchen tanzen auf einer Blumenwiese. Die Sonne scheint und das ganze Bild sieht hell und fröhlich aus. Wenn Jonathan so weiter macht, hängen seine Bilder in fünfhundert Jahren auch in einem Museum und sind mehrere Millionen Euro wert.

„Und was hat das mit der Bibel zu tun?“, fragt Bea weiter.

Sarah beugt sich über das Blatt: „Ich dachte, deine Schwester sitzt im Rollstuhl! Oder hast du noch mehr Schwestern?“

„Nein, ich habe nur die eine Schwester. Sina. Ja, sie sitzt im Rollstuhl. Mit der Bibel hat das wohl nichts zu tun. Aber wir sollten ja auch malen, woran wir glauben. Und ich glaube, dass meine Schwester eines Tages wieder laufen kann. Oder … wenn das mit dem Himmel stimmt, wie es Herr Jung manchmal in Reli erzählt … dann glaube ich, dass Sina spätestens da wieder laufen kann und dass wir zusammen rumtoben können.“

Deborah, die inzwischen auch an Jonathans Tisch steht, sagt: „Ja, das glaube ich auch. Im Himmel ist alles Schlimme weg.“

„Du kannst voll schön malen“, lobt ihn Sarah. „Bestimmt gewinnst du den Wettbewerb.“

„Oh super“, freut sich Mandy, „dann brauche ich mich nicht mehr anzustrengen und wir bekommen trotzdem als ganze Klasse das Eis von Herrn Hohmann!“

Es klingelt. Die Kunst-Stunde ist zu Ende und ich habe noch nicht mal angefangen, etwas zu malen. Ganz toll.

„Wie ich sehe, sind noch nicht alle mit ihrem Bild fertig geworden“, stellt Herr Hartmann fest, während wir schon laut und hektisch unsere Sachen einpacken. „Da der Abgabetermin für den Malwettbewerb aber am Donnerstag ist, bitte ich euch, die Bilder zu Hause zu Ende zu malen und spätestens übermorgen abzugeben.“

Auch das noch! Hausaufgaben in Kunst! Das hatten wir noch nie!

Mandy drückt mir eine zusammengeknautschte, ausgepresste kleine Tube in die Hand: „Hier, dein Deckweiß. Wie versprochen bekommst du es wieder zurück.“

Mir klappt der Mund auf: „Die Tube ist ja leer!“

„Nein, nicht ganz. Wenn man ganz dolle drückt, kommt noch was raus.“

„Was hast du damit gemalt?“

„Eine große, weiße Wolke.“

Ich kann nicht glauben, was ich da höre. „Du hast mit meinem Deckweiß eine große, weiße Wolke auf ein weißes Blatt Papier gemalt?“

„Ja klar! Eine Wolke ist doch weiß!“

„Aber das Papier ist doch auch weiß!“

„Ja, weiß ich doch!“

„Dann hättest du das Blatt doch an der Stelle einfach weiß lassen können!“

Mandy rollt mit den Augen. „Wir sollten ein Bild malen und nicht ein Bild weiß lassen! Aber keine Sorge. Das Bild ist sowieso nichts geworden. Ich habe andauernd übergemalt. Ich habe das Bild weggeworfen. Zu Hause male ich ein neues.“

Damit schwirrt sie ab. Ich fasse es nicht. Beim nächsten Mal verstecke ich meine Deckweiß-Tube in der Schultasche, dann muss ich sie nicht mehr ausleihen!

Ben und Lasse - Agenten außer Rand und Band

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