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Am Freitag versammeln sich wieder alle in der Turnhalle. Wieder sind die Erstklässler dabei. Wieder reißt sich Lasse die Arme beim Winken aus, als er mich sieht. Und wieder hat Jonathan für Sina einen Platz in der ersten Reihe freigehalten.

An ungefähr tausend Stellwänden am Rand der Turnhalle entlang hängen aus jedem Jahrgang die schönsten Bilder. Meins hängt nicht dabei. Ich habe am Mittwochnachmittag schnell noch einen Jesus am Kreuz gemalt. Daneben habe ich auch einen Jesus gemalt, der auferstanden ist. Mein Jesus war allerdings nicht nackt, sondern trug ein Kleid, wie ich es aus meiner Kinderbibel kenne. Und ich habe gedacht, ich mache es mal besonders gut: Ich habe rechts neben das Kreuz einen Jungen gemalt, der zu Jesus schaut. Das soll ich sein. So wie der Maler von damals sich auch selbst mit ins Bild gemalt hat. Und oben vom Himmel kommt ein überdimensionales Taschentuch herunter, um alle Tränen abzuwischen. Damit habe ich den Gedanken von Mama auch noch mit gemalt. Der hat mir gut gefallen. Als mein Bild fertig war und ich es mir angeschaut habe, habe ich gedacht: Ja, das drückt das, was ich glaube, ganz gut aus: Jesus ist für alle Menschen am Kreuz gestorben. Auch für mich. Und irgendwann, wenn diese Welt zu Ende ist, trocknet Gott meine Tränen ab und alles Heulen, alle Eifersucht, alles Anstrengende ist vorbei. Darauf freue ich mich. Anscheinend habe ich die Jury aber nicht überzeugt. Denn mein Bild hängt, wie gesagt, nicht dabei.

Endlich geht die Veranstaltung los. Herr Hohmann und die Kunstlehrer der beiden Schulen überschlagen sich eine Viertelstunde lang in Lobes- und Dankesreden über die tollen, tollen Bilder, die die Schüler gemalt haben. „Eins schöner als das andere!“, betont Herr Hohmann. Das kann ich kaum glauben, denn so schön, dass es aufgehängt wird, ist meins ja offensichtlich nicht.

Dann werden die Preise verliehen. Jahrgangsweise. Immer fünf pro Jahrgang. Also fünf Preise in Klasse eins, fünf Preise in Klasse zwei und so weiter. Bis zur zehnten Klasse. Mit Klasse eins fängt es an. Lasse hat keinen Preis gewonnen. Die Kinder der Plätze fünf bis zwei kenne ich nicht. „Und auf dem ersten Platz ist“, Herr Hohmann macht eine lange Kunstpause und löst dann das Rätsel endlich auf, „Sina Bingel!“

Die Kinder der ersten Klasse springen auf vor Jubel. Auch Jonathan reißt auf seinem Platz die Arme in die Luft. Als Frau Aust das Bild von Sina in der Hand hält, um es allen in dieser Halle zu zeigen, höre ich, wie einige aus meiner Klasse tuscheln: „Das ist doch das Bild von Jonathan!“ – „Das hat doch Jonathan gemalt!“ – „Hey, Jonathan! Dein Bild!“

Es geht mit der zweiten, dritten und vierten Klasse weiter. Dann kommt die fünfte Klasse dran. Auf dem fünften Platz ist Sofie. Die Plätze vier bis eins gehen an Schüler aus der Klasse 5b. Von mir aus. Ab Klasse sechs schaue ich unentwegt auf die Uhr. Mir ist langweilig. Und die Verleihung des Schulsiegers interessiert mich auch nicht wirklich, denn da niemand aus unserer Klasse auf Platz eins im fünften Schuljahr ist, wird wohl auch keiner von uns Gesamtsieger. Dann endlich verkündet Herr Hohmann den Hauptpreis: hundert Euro bar auf die Hand und ein Eisessen für die ganze Klasse am kommenden Montagnachmittag bei Herrn Hohmann. „Natürlich können wir bei einem Gesamtsieger nicht das Bild der Erstklässler und der Zehntklässler gleichberechtigt nebeneinander legen“, erklärt Herr Hohmann. „Darum haben wir genau überlegt, bei welchem der Bilder ist es für das Kind dieser Jahrgangsstufe besonders gut gelungen?“ Und bla, bla, geht die Rede noch weiter und natürlich haben eigentlich alle gewonnen und dabei sein ist alles und so weiter. Aber dann endlich holt Herr Hohmann feierlich Luft und beginnt: „Und der Gewinner ist …“ Er macht es wieder sehr spannend, „… vielmehr die Gewinnerin …“ Er hält die Luft an, wirbelt die Arme nach oben und brüllt: „Sina Bingel!“

Tosender Applaus. Die Kinder aus Lasses Klasse springen von den Stühlen auf und schlagen Purzelbäume auf dem Boden. Jonathan jubelt ebenfalls. Kann ich mir denken. Immerhin ist es ja eigentlich sein Bild, das gewonnen hat. Die Schüler in meiner Klasse klatschen nicht so wild wie die anderen. Sie stecken die Köpfe zusammen und tuscheln. Ich kann mir auch denken, was die reden.

„Du hast beim Wettbewerb betrogen!“, schimpft Bea mit Jonathan, sobald wir wieder zurück im Klassenraum sind. „Wir hätten Sieger werden können, wenn du dein Bild für unsere Klasse abgegeben hättest und nicht für das erste Schuljahr!“

„So ein Quatsch!“, tobt Jonathan. „Meine Schwester kann keine Bilder malen! Da kann ich ihr doch wohl helfen!“

„Du hast aber nicht geholfen“, plärrt Bea, „du hast das Bild komplett selbst gemalt!“

Herr Jung kommt zur Klasse herein und will wissen, was hier los ist. Bea erklärt Herrn Jung ihre Sicht der Dinge: Jonathan hat so ein schönes Bild gemalt, aber er hat es seiner Schwester gegeben und die hat damit den ersten Preis der Schule gewonnen. Das findet sie unfair.

Herr Jung bittet Jonathan, die Sache aus seiner Sicht zu erzählen. Bei ihm klingt das alles viel harmloser: Nicht er habe das Bild seiner Schwester geschenkt, meint er. Seine Schwester sei traurig gewesen, weil sie meinte, sie könne nie mal etwas gewinnen. Also habe er ihr sein Bild überlassen. Er hängt so an seiner Schwester und er kann es nicht ausstehen, wenn sie traurig ist. Und sie hat doch schon so viele Nachteile in ihrem Leben. Er konnte ja nicht ahnen, dass Sina wirklich den ersten Preis der ganzen Schule bekommt. Außerdem hat er Herrn Hohmann gefragt, ob es in Ordnung ist, wenn man seinen Geschwistern hilft. Und der hat im Fall von Sina eine Ausnahme gemacht.

Herr Jung schaut in die Klasse: „Tja. Was meint ihr? Wie sollen wir damit umgehen? Sollen wir Herrn Hohmann und Frau Aust erklären, wie das Bild von Sina entstanden ist? Oder sollen wir uns einfach so über den Sieg von Sina freuen, der eigentlich der Sieg von Jonathan ist?“

„Mir tut Sina leid“, sagt Mimi. „Ich finde, sie soll den Preis behalten.“

„Nein!“, protestiert plötzlich Jonathan und springt von seinem Stuhl auf. „Das ist richtig doof! Wenn Sina eins hasst, dann ist es, wenn jemand sagt, dass sie ihm leid tut! Sie braucht oft genug Hilfe, das stimmt. Aber sie will nicht, dass man ihr aus Mitleid hilft. Und erst recht nicht, dass man ihr etwas Böses nachsieht. Wenn ihr alle meint, dass das nicht richtig war, dann gehe ich heute Nachmittag oder morgen mit Sina zu Herrn Hohmann und sage, dass wir geschummelt haben.“

„Aber du hast ihr doch auch aus Mitleid geholfen“, hakt Mimi nach. „Das hast du doch gerade erzählt.“

„Nein, nicht aus Mitleid.“ Jonathan schaut in der Klasse hin und her, als suchte er dort nach den richtigen Worten. „Wenn ein großer Bruder seiner jüngeren Schwester hilft, weil die nicht so gut zurechtkommt … egal, ob sie im Rollstuhl sitzt oder nicht … dann ist das doch kein Mitleid. Dann tut er es doch aus … aus …“ Er überlegt, er ringt nach Worten.

„… aus Liebe“, beendet Deborah seinen Satz.

Jonathan schaut zu Boden und wird ein bisschen rot. „Genau. Aber das klingt so kindisch.“

„Das ist nicht kindisch“, widerspricht Deborah. „So ist das doch bei mir und meinen jüngeren Geschwistern auch. Denen helfe ich, weil ich sie lieb habe. Und meine großen Geschwister helfen mir, weil sie mich lieb haben. Und Gott hilft uns, weil er uns lieb hat. Nicht weil er uns bemitleidet.“ Sie schaut Herrn Jung an. „Oder?“

„Klar“, stimmt er zu. „Das sehe ich genauso. Aber was heißt das für uns als Klasse und für den Gewinn von Sina oder Jonathan? Sollen wir es auf sich beruhen lassen?“

Tobias lehnt sich mit dem Stuhl zurück. „Wir können ja alle zusammen zum Eisessen zu Herrn Hohmann gehen!“

„Au ja!“, rufen einige und jubeln schon los.

„Na, ob die alle in sein Wohnzimmer passen?“, lacht Herr Jung.

Tobias sitzt wieder gerade auf seinem Stuhl: „Klar! Sina und Jonathan haben das Bild zusammen gemalt, das hat Jonathan vorhin erzählt. Also haben sie zusammen gewonnen. Die hundert Euro darf sie von mir aus behalten. Aber so ein Eisessen wäre schon cool!“

Wieder rufen einige durch die Klasse, dass sie diese Idee gut finden.

„Was haltet ihr von folgendem Vorschlag“, sagt Herr Jung, „ich spreche am Wochenende mit Frau Aust. Dann laden wir sie am Montag mit ihrer Klasse zu uns in die Deutsch-Stunde ein und feiern zusammen. Die Erstklässler zeigen uns ihre Bilder, wir zeigen ihnen unsere Bilder. Jonathan und Sina können allen erklären, wie ihr gemeinsames Bild entstanden ist. Und dabei essen wir alle zusammen Eis, das Frau Aust und ich besorgen.“

Alle in der Klasse reißen die Arme nach oben und jubeln, als wäre Deutschland Weltmeister geworden. Herr Jung hat einfach die besten Ideen.

Ben und Lasse - Agenten außer Rand und Band

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