Читать книгу Der Schlunz und das Rätsel im Weihnachtskeks - Harry Voß - Страница 9
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Im Kindergottesdienst staunte Schlunz nicht schlecht: Als er kurz auf der Toilette gewesen war und sich wieder auf seinen Platz setzen wollte, lag da ein zusammengefalteter Zettel. Aufschrift: »Für Schlunz«. Noch bevor Schlunz sich hinsetzte, hielt er den Zettel in die Luft. »Von wem ist der?«
Aber keiner wollte es gewesen sein. Und niemand hatte gesehen, wie der Zettel auf Schlunzens Stuhl gekommen war. Adelheid, die gerade dabei war, die Kinder zu begrüßen, schaute nun auch zum Schlunz. »Was steht denn auf deinem geheimnisvollen Brief drauf?«
Schlunz klappte das Papier auf und las vor: »Ein Spross wächst aus dem Baumstumpf Isai, ein neuer Trieb schießt hervor aus seinen Wurzeln. Ihn wird der Herr mit seinem Geist erfüllen, dem Geist, der Weisheit und Einsicht gibt. Jesaja 11, Vers 1 bis 2.«
Adelheid hatte, während Schlunz diesen Satz vorlas, ihren Mund zu einem großen O aufgerissen und starrte mit riesigen Augen über ihren Brillenrand. »Das steht da?«, hauchte sie, als Schlunz fertig gelesen hatte. »Ich meine ... das steht auf dem Zettel?«
»Ja«, sagte Schlunz und schaute zur Vorsicht noch mal kurz auf das Papier. »Was ist so besonders daran? Stimmt was nicht damit?«
»Doch, doch«, stammelte Adelheid, »doch, gewiss!«
»Ist der Brief etwa von Ihnen?«
»Nein, nein!« Sie schob die Brille auf ihrer Nase nach oben. »Ich meine nur, es ist doch überhaupt etwas sehr Schönes, wenn einer für einen anderen einen netten Bibelvers auf einen Zettel schreibt, der mit Advent und Weihnachten zu tun hat.«
Schlunz zog die Augenbrauen hoch. »Dann sollte er lieber einen Bibelvers auswählen, den man auch kapieren kann. Ein Spross wächst aus einem Baumstumpf? Was soll das sein? Ein Trieb schießt hervor? Das ist doch mal wieder ein typischer ›Bibel-Gemeinde-Geheimsprachen‹-Satz. Soll man den absichtlich nicht verstehen?«
Adelheid atmete tief und entsetzt ein. »Ein Spross«, wiederholte sie. »Das kennst du doch.«
»Nein«, sagte Schlunz trocken. »Nie gehört. Was macht ein Spross?«
»Ein Spross ...«, Adelheid überlegte und fand dann eine Antwort, »... sprießt. Ein Spross sprießt.«
»Ein Sprießspross sozusagen?«
»Genau. Jetzt verstanden?«
»Nö.«
Adelheid stöhnte leise. »Na gut. Stell dir im Frühling den Garten vor. Da ist alles kahl. Und plötzlich sprießt da was.«
»Der Spross zum Beispiel«, warf Schlunz ein und grinste breit.
»Richtig. Die kleinen Pflanzen. Aus dem Nichts sprießt das neue Grün. Und aus dem abgeschnittenen Baum oder Ast wachsen auch neue Zweiglein raus. Die kleinen Triebe. Und manchmal sprießt sogar aus einer abgestorbenen Baumwurzel ein neuer, kleiner, lebendiger Zweig. Ein Spross eben. Und dieser Vergleich gibt uns gerade dann Hoffnung, wenn wir glauben, alles ist vorbei. Dann können wir uns von dem Vergleich mit dem Spross ermutigen lassen: Auch aus der abgestorbenen Wurzel kann wieder etwas wachsen. Aus unserem verdorbenen Leben kann wieder etwas Gutes werden. So, wie wir es auch in unserem Weihnachtslied singen: ›Es ist ein Ros entsprungen aus einer Wurzel zart.‹«
»Ein Ros?« Schlunz hatte das ganz laut gerufen. »Sie meinen wohl ›eine Rose‹?«
»Nein«, entgegnete Adelheid. »Ein Ros ist das altdeutsche Wort für den Spross, den Trieb. Ein ›Reis‹ haben auch manche gesagt, wobei sie damit nicht den Reis zum Essen meinten. Sondern eben das, was aus der Wurzel heraussprießt.«
»Lauter Geheimsprache-Wörter«, stöhnte Schlunz. »Nicht nur in der Bibel und in euren Gottesdiensten. Jetzt auch noch in den Weihnachtsliedern. Wer soll das denn kapieren?«
»Ich hab Weihnachtslieder noch nie kapiert«, meinte Anna, die in der Nähe vom Schlunz saß. »Ich sing sie einfach. Ich weiß auch nicht, warum ›Owie‹ lacht. Oder warum das Christuskind mit seinen Sägen in jedem Haus kehrt.«
»Und ich«, stimmte Niko ein, »frag mich auch immer, wo der ›Starruhter See‹ ist.«
»Warum singt ihr das dann?«, fragte Schlunz die anderen zurück.
»Keine Ahnung«, sagte Niko. »Ich dachte, das macht man einfach so. Man singt Lieder, die keiner kapiert. Das passt ja auch zum Christkind, das keiner kapiert.« Niko dachte einen Augenblick nach, dann sagte er: »Aber du hast recht, Schlunz. Wenn wir zu Hause oder bei Oma das nächste Mal Weihnachtslieder singen, frag ich so lange nach, bis ich alles kapiert hab. Oder bis sie andere Lieder singen, die mehr Sinn haben.«
»So mach ich das auch«, sagte Schlunz und grinste zufrieden.