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DRITTES KAPITEL:

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Auf Lansdowne Manor

Kommt man am All England Lawn Tennis & Croquet Club in Wimbledon vorbei, meint man leise, aber deutlich das dumpfe Bupp! zu hören, mit dem ein Tennisschläger auf den Ball trifft. Fährt man dann weiter in Richtung Wimbledon Village, gelangt man zum Rand der großen Grünfläche des Wimbledon Common und erkennt einen Golfplatz. Der Royal Wimbledon Golf Club. In der Nachbarschaft Cannizaro Park und davor die edle West Side Common. Teurer als bei Monopoly Parkstraße und Schlossallee zusammen. Dort gibt es ein breites eisernes Tor mit dem Buchstaben »S«. Hat man eine Einladung, teilt es sich in der Mitte und geht nach innen auf.

Über die gekieste Auffahrt kommt man zu einem runden Pool mit Seerosen. Hecken mit bunten Blumen säumen die Seiten.

Dann taucht in der Mitte der Eingang des riesigen Hauses auf. Rechts und links eine weiße Säule. Der mittlere Teil der alten Backsteinfassade ist mit Efeu überwachsen. Lansdowne Manor. Das alte viktorianische Herrenhaus. Ein herrlicher Anblick. Edel. Würdevoll.

Die weißen Türen schwingen nach innen auf und man sieht englisch eingerichtete Räume, Fenster, grüne Tapeten, roten Teppich auf Parkett. Bis man zum prächtigen Ballsaal kommt.

Schwarzweißer Marmorboden, schräg einfallendes Licht aus großen Fenstern. Kristalllüster.

In der Mitte des Saals steht eine große Glaskugel. Sie schimmert bläulich.

Der Globe.

Im Hintergrund silbern das runde ikonische Logo von Sphereglobe.

Hier liefen die Vorbereitungen für die Keynote.

Der Globe auf dem Marmorboden war von Scharen von Kameras und Lampen umringt. Rechts hatte man einen Regiestand installiert, an dem vielfarbige LEDs und kleine Displays undurchschaubare Informationen vermittelten. Dahinter drei riesige Screens, die zu einem gekoppelt waren. Ein Regisseur rief über Headset seinen Technikerinnen und Technikern Kommandos zu, die diese sofort umsetzten. Ein am ganzen Körper tätowiertes Mädchen mit leuchtpinkfarbenem Undercut im Camouflage-Overall steuerte eine schwirrende Kameradrohne, deren Bild in Echtzeit auf die Schirme übertragen wurde und mit aufregenden Fahrten und Perspektiven beeindruckte. Im Globe selbst bewegte sich ein Schauspieler, der ein ganz passables Craig-Lloyd-Double abgab. Ein weiteres Mädchen in schwarzem Overall hielt ein Klemmbrett, stoppte Zeiten und gab dem Regisseur stakkatohafte Handzeichen. Männer mit SECURITY-Schriftzug auf dem schwarzen T-Shirt waren überall im Raum verteilt.

Nichts wurde dem Zufall überlassen. Improvisation würde hier keinen Raum haben.

* * *

»Ich habe ein Himmelbett«, sagte Mehlos zu Santow, die halb auf dem Geländer saß, und in ihrem elfenbeinfarbenen Kleid aussah wie eine der höheren Töchter aus einem Jane-Austen-Film, als beide sich auf der Galerie vor der Treppe nach unten trafen, »Sie auch«?

Nein. Offensichtlich weiß man hier, wer was bekommen soll.

»Nicht ganz, ich vermisste eine Praline auf meinem Kopfkissen.«

Ich hatte drei.

»Her damit!«

Santow war von seiner Leidenschaft für Schokolade genervt, sagte nichts und verzog ihren Mund. Zusammen schritten sie die Treppe hinab und betrachteten die großformatigen Ölportraits, die futuristische Szenen mit Menschen im Stil der Alten Meister zeigten.

Vor einem Bild blieb Mehlos stehen. Es zeigte eine Vorstandssitzung in einem Boardroom. Der Vorsitzende hielt eine Präsentation, der Rest hörte und sah zu. Die Figuren waren leicht in die Länge gezogen und hatten einen ekstatischen Gesichtsausdruck. Goya hätte es gemalt haben können.

»Manche Dinge ändern sich nie«, sagte Mehlos, »der Chef ordnet an und keiner widerspricht.«

Neidisch?

Sie gingen weiter und bogen ab auf einen Gang in die Tiefe des Herrenhauses.

Bei den Konferenzräumen blieben sie vor dem zweiten Raum stehen.

»Hier sind wir richtig.«

Neben der Tür war ein Display in die Vertäfelung eingelassen. PRIVACY war zu lesen, darunter die Fotos, alle im selben Stil, von Craig Lloyd, Daniel Murray und Oliver Barlow-Gardener.

Mehlos blickte kurz auf seine Taschenuhr, die er an einer Kette trug, und steckte sie in die Weste zurück.

»Daniels zwanzig Minuten sind um. Wir sind hier.« Mit einem Ruck öffnete er ohne Klopfen die Tür.

Santow und er sahen in den Raum und traten ein. Es war mehr ein intimes Besprechungszimmer mit Möbeln in Schwarz und Chrom, das Platz für etwa sechs Personen bot. Am Kopfende leuchtete weiß ein großer Bildschirm, der eine Zeitreihe mit anwachsenden Balken und vielen Zahlen zeigte. Davor stand Peer in Livree, der sie irritiert ansah, dann zu einer Flasche griff und Craig frisches Wasser in ein volles Glas nachschenkte. Neben ihm saßen Oliver Barlow-Gardener und Daniel Murray, der aufsprang und lächelnd auf sie zukam.

»Hey, Joanna. Kleos. Sorry!« Murray breitete die Arme aus und ging mit den beiden in Richtung Tür. »Wir haben uns verquatscht. Tut mir leid, brauchen noch etwas …«

Dann waren sie zu dritt wieder im Vorraum. »Ich denke, halbe Stunde Nachspielen und wir sind durch. Nee, kommt, gebt mir 45 Minuten. Am besten pinge ich euch mobil an. Geht doch solange zum Tee in den Wintergarten. Sorry noch mal, werde pünktlich fertig sein. See you!«

Schon war er wieder zurück im Konferenzraum und die Tür geschlossen. Mehlos hob die Schulter mit einem »Na, dann« und Santow sah, dass auf einem Tisch vor dem Raum vier Teller mit Sandwiches und eine Thermoskanne standen.

»Finger weg, Santow, wir gehen lieber in den Wintergarten.«

Der Wintergarten war zu einem Drittel besetzt. Mehlos erkannte ein paar Sphereglobe-Mitarbeiter, die in der Entwicklung beschäftigt waren und sicher von Oliver Barlow-Gardener für den heutigen Tag auf Stand-by gehalten wurden, sollte ihr spontaner Eingriff nötig sein. Er winkte zu ihnen hinüber und wurde freundlich zurückgegrüßt.

Die Etagere mit Gebäck war schneller leer, als ein Keks brauchte, um auf den Boden zu fallen, und wurde von einem Angestellten durch eine neue ersetzt.

»Darf ich Ihnen von diesen hervorragenden Keksen anbieten, Santow? Einen natürlich.«

Sind Sie sicher, dass ich Ihnen nichts wegesse? Sie wirkenausgehungert. So sehr, dass es schon fast peinlich ist. Nein, nicht fast. Es ist peinlich

Santow nutzte geschickt den Raum, um sich mit ihren Gebärden auszudrücken.

»Machen Sie sich keine Gedanken, Santow. Wir haben genug. Ich habe gerade das Krümelmonster überfallen und Sie helfen lediglich beim Vernichten von Beweisen.«

Na, dann.

»Wie fanden Sie übrigens die Scones mit der Clotted Cream und der Orangenmarmelade, Santow? Jetzt haben wir doch unseren Morning Tea gehabt. Sogar samt Earl Grey. Das ist doch was. Schon rein kulinarisch und stilistisch lohnt sich ein Klient wie Sphereglobe

Dann sollten wir aber parallel eine Fitnessstudio-Kette akquirieren.

Ping! Das Echolot eines U-Bootes hallte durch den Wintergarten. Mehlos erhielt eine Textnachricht. Daniel.

Wo seid ihr?

Er textete umständlich zurück, die Tasten waren mehrfach belegt.

Wintergarten

»Komme hin«, war Daniels Antwort.

Wenige Minuten später erschien er in Jeans und dunkelblauem Blazer mit weißem Hemd. Er passte hierher.

»Sorry noch mal für vorhin«, sagte er, »aber ihr kennt das ja. Interne Meetings überziehen wir meistens. Ach, was sag ich, eigentlich immer. Man sollte meinen, dass wir in kleinen Runden disziplinierter sind, aber wie ihr seht, schaffen wir das nicht einmal zu viert. Also: Begrüßung noch mal, schön, dass ihr da seid.«

Er stupste Mehlos Faust kurz mit seiner an und küsste Santow rechts und links auf die Wangen. Mehlos missfiel, dass er kurz, aber intensiv an Santow roch. Umso länger er sie kannte, umso stärker verspürte er den Wunsch, sie endlich seiner Tante Mouse vorzustellen. Aber irgendetwas sagte ihm, dass die Zeit noch nicht gekommen war. Von ihrer Seite. Nicht von seiner.

»Ich nehme an, alles läuft immer noch so, wie ihr es geplant habt«, sagte Mehlos. Er und Santow hatten einige Meetings mit ihm und anderen bei Sphereglobe hinter sich. Noch war ihnen nichts aufgefallen, was sie mit Craig hätten besprechen können. Alles ganz normal. Ein Start-up auf dem Weg zur Weltherrschaft.

Daniel nickte.

»Ja, das können wir gut. Unsere Keynotes nehmen wir schon fast dramatisch ernst und erlauben uns keine Fehler. Wir proben mehr und drehen mit mehr Aufwand als Ridley Scott. Aber haben ja auch Erfolg. Insbesondere bei der Kommunikation. Und deswegen machen wir sie ja auch mit euch. Craigs Empfehlung hat funktioniert.«

Da hatte er wohl recht. Die Klickzahlen für die Keynotes waren insanely hoch. Millionen von Follow­ern ließen sich inspirieren. Für Mehlos lag das an drei Faktoren: hochinteressantes Thema, eine strukturierte und klare inhaltliche Aufbereitung mit Bildern und Emotionen und eine formale Sorgfalt in Design und Ausführung, die höchsten Ansprüchen an Information und Unterhaltung genügte. Er hatte zusammen mit seinem Freund aus der Werbeagentur und viel Intuition die Keynotes aufgebaut wie eine Serie auf Netflix. Santow wunderte sich, woher er das konnte.

Daniel Murray verantwortete Marketing und Kommunikation bei Sphereglobe, Kleos Mehlos lieferte Storylines, Texte und Skripte für die Keynote. Joanna Santow stellte die Medien-Strategie zusammen, die dann von den Mitarbeitern Daniels auf allen Kanälen umgesetzt wurde.

Ihre mothers hatten sie zum Studium an die London School of Economics geschickt, wo sie ihren Master in Media & Communications machte. Sie hatte einige Zeit bei internationalen Werbeagenturen gearbeitet, bevor sie sich entschied, sich selbständig zu machen. Sie war von Brighton nach London gezogen. Nur in einer großen Stadt fühlte sie sich zu Hause. Sie fragte sich, warum das so war und versuchte, sich daran zu erinnern, was vor der Explosion war, die sie nach Brighton und dann nach London brachte. Vielleicht war sie in einer großen Stadt geboren und zu Hause gewesen. Aber so sehr sie auch versuchte, sich zu erinnern, es gelang ihr nicht. Das Haus. Das Anwesen. Ein Kindermädchen in Angestellten-Uniform. War da noch jemand? Es muss doch Eltern gegeben haben! Eine Mutter. Einen Vater. Fast immer dachte sie darüber nach. Überall. Aber es war zu dunkel und zu tief in ihr versteckt. Trotzdem musste doch irgendetwas sein. Sie hatte alles versucht. Hypnose. Rückführung-Seminare von Spezialisten. Zwecklos. Das Einzige, was sie feststellte, war, dass sie einen Hang zu osteuropäischen Sprachen hatte, den sie sich nicht erklären konnte. Sie hatte diese Länder auch bereist. Im Internet. Und richtig. Die Hauptstädte besucht. Große Städte. Russland. Polen. Zagreb, Belgrad, auch Tirana. Häuser angesehen, Schlösser. Aber es klingelte nie. Es war alles fremd. Umso verwunderlicher fand sie es, dass sie sich zu diesem Mann hingezogen fühlte, der meistens ohne Krawatte in einem Tweedanzug mit Weste herumlief, seine Nase überall hineinsteckte und sich nur zu oft mit irgendwelchen Bemerkungen spontane Feinde machte.

War sie in einem Affengehege aufgewachsen?

Daniel schnappte sich einen von den restlichen Scones, schob ihn in die Backe und redete weiter.

»Craig fand eure Texte genial und hat sie perfekt drauf. Gleich könnt ihr sehen, wie sie live wirken. Ich bin sicher, wir haben eine große Show. Danke dafür. Wollte ich euch mal sagen. Wenn ihr um halb elf im Ballsaal sein könnt, ist das perfekt. Plätze für euch sind reserviert. Müsst ihr noch mehr wissen?«

»Wer macht das Gebäck hier?«, fragte Mehlos.

»Was?«

»Na, die Scones?«

Daniels Mundwinkel gingen nach unten. »Keine Ahnung …«

»Dann fragen wir mal Peer.«

»Lasst den besser mal in Ruhe. Im Stress, wie alle hier. Geht einfach in die Küche und deckt euch ein. Ich muss los. Bis gleich. Drückt uns die Daumen.«

Mit einem Lächeln stand er auf und war verschwunden.

* * *

Es klopfte und Indira Patel sah von ihrem Buch auf. Stolz und Vorurteil. Peer Holsbeg kam herein und sah sich im Zimmer um. Alles wie immer.

»Wie geht es ihm heute?«

»Herr Dinger stabil. Werte okay. Keina Problema.«

Der Patient lag angeschlossen an Sonden in einem mobilen Krankenbett, die Rollen waren arretiert. Nur ein leichtes Laken bedeckte ihn, aus dem seine nackten Füße heraussahen. Man erkannte, dass er einmal eine athletische Figur gehabt haben musste. Er bekam von Indira täglich den Bart gestutzt, wurde frisiert und wieder verbunden, sein Atmen war kaum wahrnehmbar und seine Augen sahen ins Leere.

»Gut.«

Peer verharrte einen Moment, blickte kurz auf die Anzeigen und verließ den Raum.

Indira kehrte zu Darcy zurück.

Zehn Gäste und ein Mord

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