Читать книгу Ermordet in Kabul - Heidemarie Führer - Страница 11
2. EINE GROSSE AUFGABE
ОглавлениеHerr,
ich danke dir dafür, dass du mich so wunderbar
und einzigartig gemacht hast!
Als ich gerade erst entstand, hast du mich schon gesehen.
Alle Tage meines Lebens
hast du in dein Buch geschrieben –
noch bevor einer von ihnen begann!
Wie überwältigend
sind deine Gedanken für mich,
o Gott,
es sind so unfassbar viele!
Sie sind zahlreicher als der Sand am Meer;
wollte ich sie alle zählen,
ich käme nie zum Ende!
Psalm 139,14.16-18 (HFA)
Das unauffällige, mehrgeschossige Eckhaus der Familie Beck liegt an einer breiten Straße und hat eine Doppelgarage mit einer großzügigen Auffahrt davor. Rechts von der Haustür rankt sich Efeu an der Mauer hoch, manchmal verdeckt es die Hausnummer. Da das Anwesen an der Straße liegt, hat mich die Stille und der weite Blick auf der Rückseite des Hauses überrascht: Sanft ansteigende Streuobstwiesen, ein kleiner Bach murmelt munter den Hang herunter, ein schmaler Weg schlängelt sich hinauf bis zum Hochplateau der Schwäbischen Alb.
Christine hatte sich sehr über die Ankunft ihrer kleinen Schwester gefreut. Immer wieder schlich sie zu dem Stubenwagen, in dem Simone meistens schlief. Endlich hatte sie jemand, mit dem sie bald richtig spielen und sprechen konnte. Die Erwachsenen waren dazu nicht immer zu gebrauchen. Wenn sie mit der Mutter einkaufen ging, durfte sie sich meistens etwas aussuchen. So war es auch bald nach dem Einzug von Simone. Christine wählte diesmal zehn bunte Kaugummikugeln aus, die sie in den Einkaufswagen legte. Zu Hause angekommen, lief sie gleich zu ihrem Schwesterchen und schob ihr eine leuchtend rote Kugel in den Mund. Simone freute sich sichtlich darüber. Deshalb opferte Christine alle ihre Kugeln. Als gerade das letzte Objekt der Freude im Mund des Babys verschwand, kam die Mutter ins Zimmer und war hell entsetzt. Simone konnte – glücklicherweise – noch nicht kauen, nur lutschen und schlucken. Und so kamen die Kugeln einige Zeit später auf natürliche Weise wieder ans Tageslicht.
Ein Problem hatte die mangelnde Durchblutung des Gehirns nach Simones Geburt verursacht: Sie hatte das Gebiet, das für das Verhältnis von Hunger und Sättigung zuständig ist, aus dem Gleichgewicht gebracht. Simones Gehirn meldete nicht: Du bist satt! Die Mutter musste diese Aufgabe übernehmen. Umgekehrt muss Simone immer unter einem Hungergefühl gelitten haben. Wie soll das ein Kind verstehen? Außerdem fand ein Kinderarzt heraus, dass Simone unter starken Kopfschmerzen litt, deren Auslöser eine starke Sehschwäche war. Simone war zäh und ausdauernd, wenn sie trotz ihrer Einschränkungen etwas erreichen wollte. Das zeigte sich auch beim Klettergerüst auf dem Spielplatz. Sie ruhte nicht, bis sie – nach vielen Anläufen – die Spitze erreicht hatte.
Nach der Geburt von Magdalene war das Dreimädelhaus komplett. Rechnet man noch alle Freundinnen der drei hinzu, so ging es im Beck’schen Eckhaus meist lebhaft und lustig zu. Und hinter dem Haus war genügend Platz, um zu toben und zu spielen.
Die Familie konnte wenig zusammenhängenden Urlaub machen. Der Vater, der elektronische Steuerungen für Pressen, Zentrifugen, Förderbänder und Tunnelbohrmaschinen entwickelte, musste erreichbar sein. Falls eine Steuerung nicht richtig funktionierte und zum Beispiel ein Transportband ausfiel, musste der Schaden schnell behoben werden, um die Firma vor größeren Verlusten zu bewahren. Als Urlaubsersatz stand bei der Familie Zelten am Bodensee hoch im Kurs. Auch wenn es nur ein verlängertes Wochenende war, genossen es alle. Außerdem wurde viel und stramm gewandert. Die Mutter musste zwar manche Überredungskunst anwenden, um die Mädels dafür zu gewinnen, aber wenn erst einmal alle auf der Strecke waren, dann gab es kein Halten mehr. So wurde die nähere und weitere Umgebung erobert. Die Eltern erzählten vom »Stuttgarter Hutzelmännchen«, vom Blautopf und der »schönen Lau« und andere Geschichten, nicht nur vom Dichter Eduard Mörike. Schier unerschöpflich waren die Sagen um die Burgen und Schlösser auf der Schwäbischen Alb.
In Dettingen fanden immer wieder sogenannte Zelt-Evangelisationen statt, eine intensive Verkündigung des Evangeliums an mehreren Abenden hintereinander. In dieser Zeit wurde auch den Kindern ein spannendes extra Programm geboten. »Die Dettinger Kinder kamen in Scharen zu den Nachmittagen. Die waren einfach großartig«, erinnern sich Christine und Magdalene. Simone war auch eifrig dabei. Immer wieder sprach sie von ihrem großen Traum: »Ich will Missionarin in China werden!« Später erwähnte sie unter dem Stichwort »innerer Werdegang« die regelmäßige Teilnahme am Kindergottesdienst. Auch dort kann der Grund für die spätere Berufung gelegt worden sein. Die verborgenen Impulse, die Gott in ein Leben hineinsendet, sind immer die spannendsten. Simone erzählte weder damals noch später viel davon. Aber jede Biografie von Missionaren, die sie in die Hände bekam, verschlang sie; sie war dann kaum noch ansprechbar, so sehr fesselten sie diese Lebensbilder.
Simone wurde mit der Zeit selbstbewusster. Sie ging gern in die Schule, zumal sie immer mehr entdeckte, was sie alles konnte. Die Entwicklung des Säuglings, der – vom Lebenskampf gezeichnet – in seinem Bettchen lag, bis zu der fröhlichen Schulanfängerin ist beeindruckend. Rein äußerlich waren beim Schuleintritt die Zeichen des erlittenen Traumas überhaupt nicht mehr zu sehen. Vermutlich hat der Neurobiologe Gerald Hüther 1 recht, wenn er schreibt, dass der Mensch bei seiner Geburt noch über einen gro-ßen Überschuss an Nervenzellen verfügt. Dieses Reservoir kann vom Körper genutzt werden, um Verbindungen, die vor der Geburt noch nicht hergestellt wurden, danach doch noch zusammenzuschalten. Gott, unser Schöpfer, schickt uns also mit einem Überschuss auf die Welt! Er gibt uns mehr, als wir brauchen. Ein bedingungsloser Vorschuss der Liebe Gottes. Und wenn man es recht bedenkt, dann ist dieses großzügige Angebot an Möglichkeiten nicht nur auf die Nervenzellen im Gehirn beschränkt.
»Du bist unser Wunderkind«, sagte die Mutter oft zu Simone, die das gar nicht gerne hörte. Aber es wirkten viele wunderbare Dinge zusammen: offensichtliche, wie die aufmerksame Zuwendung der Mutter, die Gemeinschaft der Geschwister untereinander, die Ruhe des Vaters, der gesicherte Rückzugsort im Haus; dann auch verborgene, wie die geheimnisvolle Wirkungsweise des kindlichen Gehirns, das, richtig angeregt, erstaunliche Leistungen vollbringen kann. Und nicht zu vergessen, die Gebete der Mutter und die Fürbitte all derer, denen die Heilung von Simone auf dem Herzen lag.
Nach dem Besuch der Schillerschule (Grundschule) in Dettingen wechselte Simone 1984 ins Graf-Eberhard-Gymnasium in Bad Urach. Ein Mitschüler charakterisierte sie einmal mit einem kleinen Reim: »Simone spricht immer leise, aber was sie sagt, ist weise.« Sie gehörte zu den Besten ihrer Klasse.
Die Konfirmation und die Vorbereitung darauf nahm Simone sehr ernst. Sie war stiller als sonst, in sich gekehrt. Vielleicht machte sie es an ihrer Konfirmation noch einmal entschlossen fest: »Mein Gott, ich will dir als Missionarin unter fremden Völkern dienen. Und darauf will ich mich gut vorbereiten.« Ihr Konfirmationsspruch, den ihr Pfarrer Werner Beuerle zusprach, bestätigte diesen Wunsch und verstärkte ihn: Denn ich schäme mich des Evangeliums von Christus nicht; denn es ist eine Kraft Gottes, die da selig macht alle, die daran glauben (Römer 1,16; LUT 1956). Dieses Bibelwort begleitete sie ihr ganzes Leben.
Obwohl sie das Abitur spielend geschafft hätte, ging Simone nach der zehnten Klasse vom Gymnasium ab. Ihr Argument: »Ich will Missionarin werden. Dazu brauche ich kein Abi, aber einen Beruf.« Zunächst ließ sie sich auf der Fachschule für Sozialpädagogik in Weinstadt zur staatlich anerkannten Erzieherin ausbilden und sammelte danach von 1994 bis 1998 Erfahrungen in ihrem Beruf. Diese Zeit war aber auch eine Zeit der Unsicherheit, eine Zeit des Fragens und Suchens: Wie soll es weitergehen? Soll ich wirklich Missionarin werden? Oder war alles doch nur ein kindlicher Einfall? Nur ein Traum? Wenn es aber kein Traum, sondern Gottes Ziel für mich ist, wie kann ich mich am besten dafür vorbereiten?
Durch Freunde kam sie in Kontakt mit Operation Mobilisation (OM) in Mosbach. In dieser idyllischen Kleinstadt im Odenwald ist das Missions- und Hilfswerk mit dem ungewöhnlichen Namen angesiedelt. Von einer zur Zentrale umgebauten alten Mühle aus werden die internationalen Aufgaben in aller Stille bearbeitet und organisiert. OM hat rund 3500 Mitarbeiter in über 110 Ländern.
1994 ging Simone nach London zu einem vierwöchigen Sommereinsatz mit OM England. Das tat nicht nur ihren englischen Sprachkenntnissen gut, sondern sie lernte auch die Arbeitsweise von OM näher kennen. Außerdem studierte sie gründlich Bücher und Broschüren der Organisation. Dabei faszinierte sie die weltweite Arbeit von OM Ships. Sie bekam auch die neu veröffentlichte schmale DIN-A4-Broschüre über die Geschichte dreier außergewöhnlicher Schiffe – Logos, Doulos, Logos II – in die Hand. Auf dem Klappentext las sie:
»Vor 30 Jahren konnte sich niemand vorstellen, dass es dieser internationalen Gruppe von jungen Menschen tatsächlich gelingen würde, dieses schier unmögliche Vorhaben zu verwirklichen: Ein Schiff zu kaufen, es umzubauen und damit die Häfen der ganzen Welt zu besuchen, um die gute Nachricht zu verkünden und den Menschen vor Ort direkte Hilfe zu leisten … Heute haben bereits mehrere Tausend Menschen nicht auf einem, sondern auf drei Schiffen gearbeitet … – zusammen haben sie mehr als 130 Länder besucht und über 26 Millionen Menschen beherbergt (oft mehrere Tausend Besucher pro Tag).«
Nun beschäftigte sich die junge Frau mit den klar umrissenen Bedingungen und den Möglichkeiten eines solchen Schiffseinsatzes, die dazu herausforderten, mehr aus dem eigenen Leben zu machen und anderen Menschen auf der Welt Bildung, Hilfe und Hoffnung zu bringen. Fand der Einsatz an Land statt, wurden Gemeinden unterstützt, Krankenhäuser, Altenheime, Schulen besucht, um auf die jeweilige Situation zugeschnittene evangelistische oder soziale Projekte durchzuführen. Das waren sehr breit gefächerte Angebote, die den eigenen Horizont erweiterten. Vorausgesetzt: Man hielt durch und kam in den Genuss all des Segens, der in dieser Arbeit steckte.
Was Simone über die Schiffs-Arbeit erfahren, was sie bei Besuchen von OM Deutschland in Mosbach an Gemeinschaft erlebt hatte, verstärkte in ihr den Wunsch, sich zu diesem Dienst und Wagnis aufzumachen. Sie betete um Gewissheit, besprach sich mit guten Freunden und ihrem Gemeindepfarrer. Bald war sie sicher, dass sie sich für einen zweijährigen Missionseinsatz auf der Doulos bewerben sollte. Dieses Schiff bereiste damals besonders die asiatische Welt, Indien, den Nahen Osten und Ostafrika. Es schreckte Simone nicht ab, dass sie mit äußerst harten Bedingungen konfrontiert werden könnte. Sie wollte die Nagelprobe machen: Tauge ich zur Missionarin? Kann ich Schwierigkeiten aushalten? Ertrage ich auch problematische klimatische Verhältnisse? Kann ich mich auf völlig anders geprägte Menschen um der Liebe Jesu willen einlassen? Oder träume und rede ich nur davon?
Nach verschiedenen Gesprächen mit der Personalführung in Mosbach wurde sie als Mitarbeiterin auf dem Missionsschiff Doulos angenommen. Nach und nach fand sie für den freiwilligen zweijährigen Schiffseinsatz auch einen Kreis, der sie während dieser Zeit verbindlich mit Gebeten und finanziell unterstützte.
Am 4. August 1996 war es so weit. Vor der versammelten Gemeinde in der Stiftskirche von Dettingen, in der sie konfirmiert worden war, wurde sie für den Dienst auf der Doulos ausgesandt und gesegnet. Hans-Jörg Dinkel, der Gemeindepfarrer, mit dem sie viel über ihren Einsatz gesprochen hatte, sagte unter anderem: »Gott hat Ihnen die Tür geöffnet für einen Dienst auf dem Missionsschiff Doulos … Dass dies kein normales Schiff ist, zeigt schon sein Name. ›Doulos‹ heißt Knecht, Sklave. Es stellt sich Gott ganz zur Verfügung zur Verbreitung des Evangeliums in der Welt. Ich meine, auch bei Ihnen die Bereitschaft zu erkennen, sich ganz dem Herrn Jesus Christus zur Verfügung zu stellen. Das ist großartig. Auch für eine Gemeinde, wenn sie solche jungen Leute in ihrer Mitte hat. Das bedeutet auch für uns ein bleibender Segen, auch wenn Sie von hier weggehen. Aber das macht anderen Mut, es auch so mit Gott zu wagen.«
Und Pfarrer Gerhard Gläser gab ihr ein vertrautes Bibelwort mit auf den Weg: Ich schäme mich des Evangeliums von Christus nicht; denn es ist eine Kraft Gottes, die da selig macht alle, die daran glauben (Römer 1,16). Er fuhr fort: »Liebe Simone! Du hast vor acht Jahren am Tag deiner Konfirmation an dieser Stätte dieses Wort schon als deinen Denkspruch empfangen, als Wort für dein ganzes Leben. Damals hat sich freilich äußerlich noch nichts in deinem Leben verändert. Du bist nach wie vor im Elternhaus geblieben in unserer Dettinger Gemeinde. Aber nun ist ein großer Einschnitt in deinem Leben: Du brichst auf zum Dienst für Jesus mit Menschen aus ganz verschiedenen Ländern, die du noch nicht kennst, zum Dienst in einer ganz anderen Welt, an Menschen, die einen anderen Glauben haben, in einer ganz anderen Lebenssituation stehen … Gehe getrost und gehorsam unter diesem Wort in deinen neuen Lebensabschnitt hinein, in den besonderen Dienst für Jesus, deinen Herrn, in Ostasien und anderswo. Du darfst dich auf dies Wort, auf diesen Herrn, verlassen.«
Simone erzählte kurz, wie sie Gottes Führung bisher erlebt hatte, und dankte für das Vorrecht, eine betende Gemeinde hinter sich zu wissen. Nach dem feierlichen Gottesdienst hieß es Abschied nehmen von lieben Menschen, die vertraute Umgebung und die Heimat am Fuße der Schwäbischen Alb zu verlassen. Sie erlebte wieder eine Ent-Bindung, diesmal aus einer Welt der Ordnung und Struktur, wo Kontakte und Beziehungen leicht zu knüpfen sind.
Nochmals gute Wünsche: »Gott segne Dich!« »Ich bete für Dich!« »Bleib behütet und bewahrt!« »Lass von Dir hören!« Hände schütteln, letzte Umarmungen – die Trennung fiel schwer. Doch Simone musste noch manche Dinge erledigen, musste packen, höchstens 23 kg Gepäck, mehr war nicht erlaubt. Und dann ging die Reise los, erste Station: die Niederlande.