Читать книгу Ermordet in Kabul - Heidemarie Führer - Страница 9
Оглавление1. TRÄUME. WÜNSCHE. SCHMERZEN.
Denn ich weiß wohl,
was ich für Gedanken über euch habe,
spricht der Herr:
Gedanken des Friedens
und nicht des Leides, dass ich euch gebe
Zukunft und Hoffnung.
Jeremia 29,11
Sie lag schon eine Weile im Bett, als sie die Schritte der Mutter hörte. Ihr Herz klopfte bis zum Hals. Was würde die Mutter zu ihrem großen Traum sagen? Wie jeden Abend sprachen sie noch eine Weile über den vergangenen Tag. Dann beteten sie miteinander und wünschten sich eine gute Nacht. Die Mutter war schon auf dem Weg zur Tür, da sagte Simone plötzlich:
»Mama, ich will Missionarin werden. Darf ich das?«
Völlig überrascht machte die Mutter kehrt, setzte sich noch mal zu Simone ans Bett und nahm ihre Hand.
»Missionarin? Natürlich darfst du das, Simone. Aber wie kommst du denn darauf?«
In einigen Jungscharstunden war die Geschichte von Gladys Aylward erzählt worden. Die schottische Missionarin hatte mit vielen Vorurteilen zu kämpfen, ehe sie nach China ausreisen konnte. Da Simone auch täglich mit vielen Schwierigkeiten kämpfen musste, wurde Gladys für sie mehr und mehr zum Vorbild. Eine Missionarin wie Gladys, das wollte sie werden. Davon träumte sie.
Simones Mutter lag in dieser Nacht noch lange wach. Sie war vom Wunsch ihrer Tochter berührt und bewegt. Wie in einem Film zogen die vergangenen Jahre an ihr vorbei. Sollte Gott ihre Gebete erhört haben?
Anneliese, die Mutter von Simone, stammt aus dem Hohenlohischen, aus einem kleinen Dorf in der Nähe von Crailsheim. Als es um die Berufswahl ging, war sie unschlüssig, ob sie Kindergärtnerin oder Krankenschwester werden sollte. Ihr Konfirmator riet ihr eher zu Kindern als zu Kranken und vermittelte ihr einen Ausbildungsplatz bei den Großheppacher Diakonissen. Das Leitwort der Schwesternschaft: »Wir können Gott nur dadurch dienen, dass wir den Menschen dienen«, ist Anneliese Beck bis heute wichtig. Nach ihrer Ausbildung und einiger Erfahrung im Beruf wurde sie von der Oberin gebeten, einen Kindergarten in Dettingen an der Erms zu übernehmen. Dafür waren Pioniergeist, Durchhaltevermögen und Kreativität gefragt. Dies alles brachte die junge Frau reichlich mit. Trotzdem war die Aufgabe nicht einfach. Dass sie bald ihren Mann kennenlernte, versüßte die Schwierigkeiten, mit denen sie zu kämpfen hatte.
Es war damals üblich, dass auch die sogenannten Verbandsschwestern, die nicht der Diakonissen-Gemeinschaft angehörten, eine Tracht trugen. Deshalb erschien Schwester Anneliese an ihrem Dienstort im Outfit der Verbandsschwester. Walter Beck hatte als kleiner Junge von »seiner Großheppacher Kinderschwester Regine« geschwärmt. Inzwischen war er ein Industrie-Elektroniker, ein echter schwäbischer Tüftler. Sonntags besuchte er regelmäßig den Gottesdienst. Von der Empore aus, wo Anfang der 1960er-Jahre in der Dettinger Kirche noch alle Männer saßen, entdeckte er die Schwester mit ihrer weißen Haube. Die Dinge nahmen langsam, aber stetig, ihren Lauf.
Am 9. September 1967 war die Hochzeit, zwei Jahre später wurde Tochter Christine geboren, ein Jahr danach kam der Umzug ins eigene Haus. Und dann, im April 1973, wurde die Geburt des zweiten Kindes erwartet.
An einem regnerischen Mittwoch, es war der 25. April, setzten die Wehen ein, und Walter Beck fuhr seine Frau zur Entbindung ins Krankenhaus nach Bad Urach. Dort ging alles sehr schnell. Um 15:40 Uhr kam ein Mädchen auf die Welt, das schon längst die Stimme seiner Mutter gehört hatte. Doch als Anneliese Beck zum ersten Mal die Stimme ihres Kindes hörte, schrie es so sehr, dass sie bis heute diese nicht enden wollenden, verzweifelten Schreie im Ohr hat, sooft sie daran denkt. Das war nicht das erste natürliche Nach-Luft-Schnappen, damit sich die Lunge entfalten und das Neugeborene auf das Leben außerhalb des Mutterleibes einstellen kann. Nichts war, wie es sein sollte. Die kleine Simone schrie und schrie und schrie. Niemand wusste Rat, niemand vermochte das Kind zu beruhigen, niemand konnte sich erklären, was dem Kind fehlte.
Die Mutter durfte das Kind nicht lang in den Armen halten. Um sie herum schnelle Schritte, ernste Mienen, gedämpfte Gespräche; zuckendes Blaulicht spiegelte sich in den Fensterscheiben. Eilig wurde ein Inkubator vorbereitet, eine Box, in der das Kind unter bestmöglichen Bedingungen nach Reutlingen in die Kinderklinik transportiert werden konnte. Die erschütterte Mutter blieb fassungslos zurück und bekam zunächst wenig Auskunft über den Zustand ihres Babys. Auf wiederholtes inständiges, drängendes Fragen nach ihrem Kind sagte schließlich jemand: »Es sieht nicht rosig aus.«
Simone wurde zwei Tage später in die Kinderklinik der Universität Tübingen verlegt. Dort traf das kleine Menschlein schon sterbend ein. Die Chirurgen öffneten kurzerhand den Brustkorb, denn die schwere Atemnot des Kindes deutete auf einen Verdrängungsprozess hin, der die Lungenflügel einklemmte und zusammendrückte. Viel Zeit blieb nicht. Zwar war kein Tumor vorhanden, dafür aber Luft, die – laienhaft ausgedrückt – aus einem Riss in der Lunge in den Brustraum strömte. Die Ärzte sprachen von einem Pneumothorax. Das Kind wollte durch das Schreien Atem schöpfen und bekam doch nicht genügend Luft in die Lungen, weil die Luft durch den Spalt wieder in den Brustraum strömte. Was die Ärzte machen konnten, taten sie so schnell wie möglich, um das Leben von Simone zu retten.
Simones Mutter hatte beschlossen, Gott zu vertrauen, dass sein Plan für Simone gut war – wie auch immer der aussehen würde. Obwohl sie dunkle Stunden durchlebte und Zweifel an ihr nagten, betete sie für Simone genauso, wie sie es auch für Christine getan hatte: dass sie eines Tages Gott und seinen Sohn Jesus Christus erkennen und lieben und ihm ihr Leben anvertrauen würde.
Täglich besuchten die Eltern ihre Tochter in der Tübinger Kinderklinik. Sie mussten hilflos mit ansehen, wie ihr Kind ums Leben kämpfte, und durften es nicht einmal berühren und liebkosen. Das war hart. Und kein Arzt konnte ihnen sagen, ob Simone überleben und wieder gesund werden würde. Daheim konnte es die dreieinhalb Jahre ältere Christine kaum erwarten, endlich Simone zu sehen.
»Simone darf nicht besucht werden!«, lasen die erschrockenen Eltern eines Tages an der Tür zum Kinderzimmer. Wegen einer schweren, ansteckenden Lungenentzündung war das Baby isoliert worden. Wieder eine niederschmetternde Nachricht, noch eine Lebensbedrohung für das kleine Kind. Den Eltern blieb nichts anderes übrig, als wieder nach Hause zu fahren, zu beten, zu hoffen und zu bangen. Was kaum zu erwarten war, geschah: Simone überwand die Infektion und erholte sich langsam von ihrer schweren Erkrankung. Es lässt sich nicht einmal genau erklären, wie der Riss verheilte und die Atemluft endlich die Lungen füllte. Vermutlich verklebte die offene Stelle, und einwachsende Zellen heilten mit der Zeit den Schaden. Es war ein Wunder. Am 25. April war Simone geboren worden, am 29. Juni konnten die Eltern sie endlich nach Hause holen.
Beim Abschied meinte ein besorgter Arzt: »Sie müssen damit rechnen, dass Simone bleibende Schäden von dieser Erkrankung davongetragen hat. Die Sauerstoffversorgung des Gehirns war leider nicht immer gut.« Dies erfüllte die Eltern mit großer Sorge.
Versetzen wir uns in die Lage von Simone: Sie erlebte nach neun Monaten Leben ihre erste schmerzliche Ent-Bindung aus einem Raum der Geborgenheit und Sicherheit. Und anstatt von den Armen der Mutter aus ihre neue und fremde Umwelt betrachten zu können, brach plötzlich über sie eine unerwartet wilde, bedrohliche Welt herein. Im Gegensatz zu den Erwachsenen konnte sie nichts davon erzählen, wie sie in diesen Wochen gelitten, wie ungeborgen sie sich gefühlt hatte. Sie konnte niemandem sagen, welche Ängste sie durchlebt hatte, wie viele fremde Stimmen sie erschreckt, wie viele bedrohlich große Gesichter sich über sie gebeugt, welche Eingriffe ihr Schmerzen bereitet hatten. Da war nur ein stummer Schrei völliger Verlassenheit in ihr, der aus der Tiefe kam. Den hörte kein Mensch, nicht einmal sie selbst. Sie nahm einen verborgenen Riss mit in ihr Leben, von dessen Vorhandensein ihr nichts bewusst war.
Aber es gibt jemand, der stumme Schreie hört: ihr Schöpfer. Gott heilt auch die verborgenen Wunden. Hier scheint ein Grund zu liegen für eine enorme Stärke, für eine erstaunliche Willens-, Widerstands- und Schaffenskraft, die Simone in späteren Jahren an den Tag legen wird. Dazu kommen ihr der Pioniergeist und die Kreativität der Mutter und der Erfindergeist des Vaters zugute.