Читать книгу Ermordet in Kabul - Heidemarie Führer - Страница 13

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4. MEER, WIND UND NEUE UFER.

Weise mir, Herr,

deinen Weg,

dass ich wandle in deiner Wahrheit;

erhalte mein Herz

bei dem einen, dass ich deinen Namen fürchte.

Ich danke dir,

Herr, mein Gott, von ganzem Herzen

und ehre deinen Namen ewiglich.

Psalm 86,11-12

Die Maschine setzte im ersten Morgenlicht des 16. September zur Landung auf dem Kai-Tak-Flughafen in Hongkong an, bekannt als eine der gefährlichsten Landungen der Welt. Eine hohe Hügelkette ließ einen direkten Anflug auf die Landebahn nicht zu und verlangte deshalb ein kompliziertes Flugmanöver. Das Flugzeug musste ziemlich tief zwischen hohen Hügelketten rechts und links hereinschweben, davor riesige Hochhäuser schier ohne Zahl. Es war, als flöge der Riesenvogel in einem großen Canyon aus Häusern. Unter ihnen war der Viktoriahafen und die fast vier Kilometer lange Landebahn 13, die zugleich Startbahn war, gesäumt von Grünflächen. Die Kunst des Piloten bestand nun darin, an einer bestimmten Stelle und nach einem digitalen Signal eine scharfe Rechtskurve zu fliegen und dann mitten in der Stadt zu landen. Für dieses Manöver blieben ihm nur Bruchteile von Sekunden. Gelang es ihm nicht, endete der Flug im Meer. Doch bald brandete erleichterter Applaus der Passagiere auf, die Maschine war gut gelandet. Zwei Jahre später wurde der Kai Tak geschlossen und vom Flughafen Chek Lap Kok abgelöst, der auf einer künstlich aufgeschütteten Insel angelegt wurde.

Hongkong war noch britische Kronkolonie, einige Monate später, am 1. Juli 1997, wurde der Inselstaat an China zurückgegeben.

Die OMer mussten noch einige Zeit wegen eines Sicherheitstrainings an Land verbringen. 1988 hatte das Missionsschiff Logos einen dramatischen Schiffbruch im Beagle-Kanal im Süden Argentiniens erlitten. Es kam zwar damals niemand dabei ums Leben, alle wurden gerettet, aber nur mit dem, was jeder auf dem Leib trug. Für die Mannschaft jener Tage war es ein traumatisches Erlebnis. Darum wurde das Sicherheitstraining sorgfältig und gründlich durchgeführt. Um echte Situationen zu simulieren, wurde dafür auch ein Schwimmbad genutzt. Manch einer flog dabei ungewollt ins Wasser, und eine Wasserschlacht löste alle Verkrampfungen. Nichtsdestotrotz, diese Übungen, die für den Ernstfall gut sitzen mussten, schweißte die Pre-Shipper noch enger zusammen.

In der Zeit des Sicherheitstrainings konnte auch die Stadt erkundet werden. Was für eine Stadt! Durch die kleine Informationsbroschüre für Touristen erfuhr Simone, dass die ganze Stadt mit über sieben Millionen Menschen auf nur 1 100 Quadratkilometern zusammengedrängt ist. Zum Vergleich war Mallorca angegeben, das mehr als dreimal größer ist, aber nur etwa 800 000 Einwohner hat. Zudem strömen nach Hongkong jährlich etwa zwanzig Millionen Touristen, nach Mallorca etwa zwölf Millionen. So war es für Simone nicht verwunderlich, dass sie sich mehr als einmal den Hals verrenken musste, wenn sie in den engen Straßenschluchten auch einmal die Spitze eines Hochhauses sehen wollte. Fünfzig bis sechzig Stockwerke waren keine Seltenheit. In den Glasfassaden spiegelte sich der Himmel oder ein anderer, höherer Wolkenkratzer – Glanz und Glamour, wohin das Auge blickte. Simones kleiner beschaulicher Heimatort, Dettingen an der Erms, war ein unscheinbares Liliput dagegen. Und dann diese Menschenmassen! Sie schoben sich hastig durch die Straßen. Das Leben dieser Stadt war ungemein schnell und kompliziert. Auffallend waren die zahllosen jungen Leute, die freundlich, eilig und ernst ihrer Wege gingen.

In Amsterdam, der Kulturhauptstadt der Niederlande, hatte Simone schon ein wenig das Flair der großen Welt erahnen können. Die Grachten mit ihren ruhig dahingleitenden kleinen Schiffen, die unzähligen Fahrräder, mit denen die Menschen unterwegs waren, ließen Amsterdam in ihren Augen heiter, jung und lässig erscheinen. Hongkong dagegen empfand sie als atemlos, hektisch, wie unter Strom. Die Metropole ist einer der bedeutendsten Finanzplätze der Welt, die spektakulären Wolkenkratzer der Banken – es gibt Hunderte von ihnen – formen die Skyline. Der Lebensstil ist einfach, fast asketisch. Man hat wenig Zeit für sich, man lebt für die Firma. Die Jagd nach Geld, Job und Karriere kann sehr brutale Züge annehmen. Bei Gesprächen, die Simone mit einigen Hongkong-Chinesen führen konnte, spürte sie diesen Druck, der für die Menschen so ermüdend ist.

In Hongkong lag endlich die Doulos vor ihnen. Ihr neues Zuhause war 1914 gebaut worden und war damit die älteste »Dame«, die damals auf den Weltmeeren unterwegs war. Sie war 137 Meter lang und 16 Meter breit. Zuletzt hatte sie als Kreuzfahrtschiff gedient, dann wurde sie von OM übernommen und in aufwendiger Arbeit mit vielen freiwilligen Helfern zur Doulos umgebaut. Seit 1977 fuhr sie unter diesem Namen und hatte bisher 300 verschiedene Häfen in über 80 Ländern besucht. Der niedrig gehaltene Schornstein ragte hinter der Brücke und dem Funkdeck wie ein ausgestreckter Finger in den Himmel. Daran waren die weithin sichtbaren riesigen Buchstaben montiert: »GBA – Gute Bücher für Alle«. Die Doulos beherbergte die weltgrößte schwimmende Buchausstellung mit über 4 000 Titeln allgemeinbildender und christlicher Literatur sowie Bibeln in vielen Sprachen und Formaten.

Am 3. Oktober 1996 konnten die Pre-Shipper endlich an Bord gehen. Insgesamt waren es 107 junge Erwachsene, die sich auf diesen Tag vorbereitet hatten. Es gab fünf Arbeits-Abteilungen für die Neulinge: Küche und Speisesaal, Putz-Team, Buchladen, Maschinenraum und das Deck. Das Personalteam an Bord musste sehen, wo die neuen Mitarbeiter am besten einzusetzen waren. Es verließen immer Leute das Schiff, die dann ersetzt werden mussten. Dadurch konnte nicht jeder gleich seinen Traumjob machen, sondern musste sich an den Platz stellen lassen, an dem eine Lücke entstanden war. Simone war natürlich wie alle anderen gespannt, in welche Abteilung sie auf diesem großen Schiff beordert werden würde.

Die Schiffsmannschaft, in die Simone aufgenommen wurde, bestand aus 320 Mitgliedern, die etwa 35 Nationen repräsentierten. Die meisten von ihnen hatten sich für zwei Jahre verpflichtet. Für die technische Leitung und die Sicherheit des Schiffes war Kapitän Graeme Bird aus Neuseeland zuständig. Für die verschiedenen Teamleiter und ihre Teams der einzelnen Abteilungen hatte Schiffsdirektor Mike Hey aus Australien das Heft in der Hand. Beide Leiter waren Persönlichkeiten mit starker geistlicher Ausstrahlung.

1996 konnten in Hongkong sowohl an Bord als auch an Land evangelistische Veranstaltungen noch ohne Schwierigkeiten durchgeführt werden. Dies stärkte die christlichen Gemeinden der Stadt, die unsicher waren, ob China sein Versprechen halten würde: »Ein Land, zwei Systeme.« Wenn ja, dann würde die Presse-, Meinungs- und Religionsfreiheit erhalten bleiben. Tausende Besucher kamen an Bord zur Buchausstellung und nutzten Angebote wie den Tag der offenen Tür, das Internationale Café, das Jugendfestival oder die Gebetsnacht, um einige zu nennen.

Ihre kleine, aber gemütliche Kabine mit Bullauge teilte Simone mit Petra aus Schweden und Kam Yong aus Malaysia. In der Industriestadt Taichung auf Taiwan kam noch eine Südkoreanerin in die Kabine. Ho Suk lebte sich schnell ein. Simone musste immer lachen, wenn Ho Suk mehr von der »Swäbisen Aalb« wissen wollte, ein einziger Zungenbrecher für asiatische Zungen.

Da es sich um ein ehemaliges Kreuzfahrtschiff handelte, hatte jede Kabine sogar den Luxus einer kleinen eigenen Dusche samt WC. Auf den Schwester-Schiffen ging es wesentlich rustikaler zu. Trotzdem war eine Kabine für vier Personen – zwei Stockbetten, vier schmalen Spinde, eine kleine Kommode mit vier Schubladen, manchmal eine kleine Schreibtischplatte – ein sehr beengter Raum. Um ihn gemütlich zu machen, war Kreativität gefragt. Die Bordleitung achtete darauf, dass möglichst die gleichen Altersgruppen, aber verschiedene Nationalitäten beieinander waren. Da musste ein gemeinsamer Standard für Ordnung in der Kabine gefunden werden, was mal mehr, mal weniger gelang. Glücklicherweise verstanden sich alle vier in Simones Kabine auf Anhieb gut und überwanden miteinander das Heimweh und anderen Kummer. Simone war dankbar, dass es in ihrer Kabine keine größeren Konflikte gab. Wenn so viele junge Menschen beieinander sind, die aus allen Himmelsrichtungen kommen und eine praktische und geistliche Einheit werden sollen, gibt es genug Zündstoff für Auseinandersetzungen. Da war es gut, dass das Schiff ruhige Ecken und Räume hatte, wo man auch für sich sein und etwas Privatsphäre genießen konnte. Die Bibliothek bot sich dafür an oder irgendein stilles Plätzchen an Deck oder im Konferenzraum, wenn keine Veranstaltungen waren.

Als die neu angekommenen Pre-Shipper ihre Arbeitsbereiche zugewiesen bekamen, wurde Simone in das Speisesaal-Team eingebunden. Der Speisesaal befand sich im Bug der Doulos, direkt unter dem Auto-Deck. Nach Hause schrieb Simone: Wir sind ein Team, das für Ordnung und Sauberkeit dort verantwortlich ist, ebenso für das Spülen des Geschirrs und die Vorbereitung des Frühstücks und der Kaffeepause am Nachmittag. Das klingt ganz locker. In Wahrheit waren es Berge von Geschirr, die eine so große Mannschaft mehrmals täglich benutzte. Jeden Tag wurden etwa tausend Mahlzeiten ausgegeben. Das bedeutete viele Stunden am Tag Geschirr spülen, Tischdecken wechseln, den Boden fegen oder wischen, die Büfetts in Ordnung bringen. An den Vormittagsstunden, in denen kein Betrieb im Speisesaal war, half das Team in der Küche, putzte Gemüse, schälte Kartoffeln, briet Fleisch an, kochte Suppen. Dann wurde das Essen ausgeschöpft und auf einem Büfett angerichtet, wo sich die Mannschaft bediente.

Die Arbeit im Speisesaal empfand Simone als angenehm und unkompliziert. Ihr blieb in dieser Anfangszeit genügend Kraft und Energie, das Schiff und das Leben darauf zu erkunden und sich einzugewöhnen. Wie angekündigt, hatte sie an fünf Tagen in der Woche jeweils acht Stunden Dienst. Wöchentlich war ein freier Tag die Regel. Alle Schiffsleute waren zusätzlich so weit wie möglich in das Programm an Bord eingebunden. Außerdem gehörte zum Bordleben ein intensives Bibelstudium, das aus Vorlesungen, Studiengruppen und Eigenstudium bestand. Es gab verschiedene Gebetsgruppen, wo man füreinander, für die Aufgaben an Bord oder an Land betete oder auch für verschiedene Volks- und Religionsgemeinschaften. Simone war in einer Gebetsgruppe für die islamische Welt, wobei besonders Afghanistan in den Blick genommen wurde. Ihr normaler Tageslauf sah etwa so aus:

Ab 6:30 Uhr: Zeit für die persönliche Stille, Bibellesen und Gebet (vorher freiwilliger Frühsport)
7:30 Uhr: Frühstück
8:00 Uhr: Gemeinsame Andacht – Bibelunterricht
9:00 Uhr – 17:30 Uhr: Reguläre Arbeitszeit
18:00 Uhr: Abendbrot
19:30 Uhr: Unterschiedliches Programm
23:00 Uhr: Curfew: Zapfenstreich/Ruhe. Wer keinen Dienst hatte, musste in seiner Kabine sein.

Ein Abend, in der Regel der Donnerstag, war für einen gemeinsamen Gebetsabend vorgesehen, der schon mal bis Mitternacht dauern konnte. Ein anderer Abend war für das Bibelstudium in kleinen Gruppen reserviert, dazu gab es einmal pro Woche Gebetsgruppen für verschiedene Länder. Lag die Doulos im Hafen, fanden an einem Tag in der Woche evangelistische Teameinsätze statt, meist in Zusammenarbeit mit örtlichen Gemeinden an Land – an diesem Tag war man von der normalen Arbeit an Bord freigestellt.

Ermordet in Kabul

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