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2. Mehrsprachigkeit – ein Begriff im Wandel

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(Fremd)Sprachenorientierte Normvorstellungen

Dass Menschen mehr als eine Sprache verstehen und sprechen, dass sie in der Lage sind, in mehr als einer Sprache miteinander zu kommunizieren, ist keine neue Erscheinung – Mehrsprachigkeit gibt es seit altersher, und zwar weltweit, wenngleich in unterschiedlichen Teilen der Welt auf unterschiedliche Art und Weise und unterschiedlich konnotiert. In vielen Regionen war und ist Mehrsprachigkeit selbstverständlich, in anderen wurde sie über eine lange Zeit hinweg eher mit Zurückhaltung betrachtet und wird es zum Teil noch immer. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn gesellschaftlich vorhandene und schulisch vermittelte (fremd)sprachenorientierte Normvorstellungen von ‚richtig‘ und ‚falsch‘ bestehen und der einsprachige Mensch als Ausgangspunkt und Norm gesehen wird. Die Begriffe „zwei-/mehrsprachig“ und „Zwei/Mehrsprachigkeit“ sind seit einiger Zeit, nicht zuletzt auch in der sprachbezogenen bildungspolitischen Debatte, omnipräsent und – als Zielsetzung – vorrangig positiv konnotiert. Allerdings steht dem oft eine andere Wahrnehmung der Realität entgegen. Denn gerade in schulbezogenen Diskursen wird die Zwei- beziehungsweise Mehrsprachigkeit, die Schüler bereits in die Schulen mitbringen, häufig als Begründung für vorhandene sprachliche Unzulänglichkeiten und ausbleibenden Schulerfolg ins Feld geführt.

Die Erwartungen an Zwei-/Mehrsprachige waren und sind hoch. Insbesondere Zweisprachige sehen sich mit erheblichen, impliziten Anforderungen an Kenntnisstand und kulturelle Eingebundenheit konfrontiert. Von jemandem, der als zweisprachig gilt, wurde – und wird auch heute noch häufig – neben gelebter Kulturerfahrung muttersprachliche Sprachkompetenz, „native-like control of two languages“ (BLOOMFIELD 1935, S. 56) erwartet. Aus diesem Grund scheuen sich viele Menschen, die die Sprachen, die sie sprechen, nicht im Rahmen ihrer frühkindlichen Sozialisation erworben haben, sich als zwei- oder mehrsprachig zu bezeichnen, selbst wenn sie in der Lage sind, in zwei oder mehr Sprachen zu kommunizieren.

‚Idealer Sprecher-Hörer‘

Um den Stellenwert von Mehrsprachigkeit in unserer globalisierten Welt bestimmen zu können, scheint es geboten, sich die traditionell gegebenen Aspekte von Mehrsprachigkeit und die bisherigen gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Haltungen dazu vor Augen zu führen. Zwei- und Mehrsprachige werden auch heute noch – sowohl im gesellschaftlichen als auch im eigenen Verständnis – in zwei Gruppen geteilt: auf der einen Seite in die Gruppe jener, die – in der Regel durch sozialen Stand und Bildung – eine hohe, vor allem auch schriftliche Kompetenz in ihren (vorzugsweise mit hohem Prestige behaftenen) Sprachen haben; dem gegenüber steht der Kreis jener, die eher über nur ‚alltagstaugliche‘ Sprachkompetenzen verfügen. Als Vergleichsmaßstab wird für beide Sprachen jeweils der kompetente einsprachig muttersprachliche Sprecher gesetzt, dem implizit eine gute, wenn nicht gar vollständige Kompetenz in seiner Sprache zugesprochen wird. Dies erinnert an den ‚idealen Sprecher-Hörer‘ (CHOMSKY 1965) – eine sprachwissenschaftliche Normsetzung, hinter der der reale Sprecher in der Regel zurückbleibt. Denn in der Realität sind es nicht nur Performanzprobleme, die beeinträchtigend wirken; es kann auch nicht davon ausgegangen werden, dass alle Sprecher über eine vollständige Kompetenz in ihrer Muttersprache verfügen. Aber nicht nur das: Nicht beachtet wurde oftmals auch die Tatsache, dass Zwei- beziehungsweise Mehrsprachigkeit nicht lediglich eine Addition zweier oder mehrerer Sprachen im Kopf des Sprechenden bedeutet, sondern dass diese dort zusammenwirken und in ihrer Gesamtheit – der Mehrsprachigkeit des Sprechers – mehr als die Summe ihrer Einzelteile ergeben. Von daher wird Zwei- und Mehrsprachigkeit inzwischen – in relativer Unabhängigkeit von den Kompetenzen in den Sprachen – oft als ‚intellektueller Bonus‘ gesehen. Lange Zeit wurde Zwei- und Mehrsprachigkeit jedoch aufgespalten in Einzelsprachkompetenzen und ausschließlich daran gemessen und gewertet:

„Comparisons were made between successful unilinguals in a monolingual habitus against the problematic status of unsuccessful bilingual representatives, usually of deprived socio-educative backgrounds, while successful multilinguals were dismissed as the exceptional, privileged few who were not taken into account.“ (BAETENS BEARDSMORE 2008, S. 4)

‚Dynamic Model of Multilingualism‘

Dieser von SELINKER 1972 vorgeschlagene Bewertungsmaßstab (s.u.) führte zu einer verzerrten Wahrnehmung, aus der sich als ‚Kollateralschaden‘ nicht zuletzt eine schlecht organisierte, unangemessene sprachliche Schulpolitik ergeben hat (vgl. BAETENS BEARDSMORE 2008, S. 6f.). Auch Begriffe wie „doppelseitige Halbsprachigkeit“ oder „Semilingualismus“ sind in diesem Zusammenhang entstanden und in der Diskussion der Sprachkompetenzen der zweiten Generation in den 1980er Jahren durch beispielsweise SKUTNABB-KANGAS/TOUKOMAA 1976, SKUTNABB-KANGAS 1981, 1982a, 1982b, STÖLTING 1980 vertreten worden (vgl. SARTER 1991). Diese Begriffe sind inzwischen – insbesondere durch holistische Konzepte von ‚Multikompetenz‘ beziehungsweise das ‚Dynamic Model of Multilingualism‘ (DMM; vgl. HERDINA/JESSNER 2002) – als obsolet zu betrachten, da sie nicht nur die Kompetenz der Sprecher in einer Sprache jeweils an der von Muttersprachlern messen (s.u.), sondern auch von dabei festgestellten Diskrepanzen auf kognitive Beeinträchtigungen schließen.

Mehrsprachigkeit und Schule

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