Читать книгу Mehrsprachigkeit und Schule - Heidemarie Sarter - Страница 9
2.2 Sprecher – Lerner – Nutzer
ОглавлениеSecond Language Acquisition, SLA
Als Prinzip des Spracherwerbs war im Rahmen behavioristischer Ausgangspositionen skinnerscher Prägung die operante Konditionierung gesetzt worden; Programmiertes Lernen und Patterndrill sollten für den Aufbau notwendiger Reaktionsstärke, für zweit- beziehungsweise fremdsprachliche habits, sorgen. Die kognitiven und mentalen Prozesse des Lernenden wurden – da der direkten Beobachtung nicht zugänglich – als prinzipiell für eine wissenschaftliche Untersuchung nicht geeignet, als ‚Blackbox‘, gesehen. Das Modell Chomskys setzte genau dort an und füllte die ‚Blackbox‘ mit der Universellen Grammatik beziehungsweise dem Spracherwerbsmechnismus. Das dem entsprechende psycholinguistische Modell des Zweitspracherwerbs (Second Language Acquisition, SLA) ist weitgehend im Rahmen der Forschung zu den kanadischen Immersionsprogrammen auf- und ausgebaut worden und hat die Sprachdidaktik in starkem Maße beeinflusst. Es beruht auf erstens der Gegenüberstellung von muttersprachlichem und nicht-muttersprachlichem Sprecher, zweitens der Kategorie des ‚Sprachenlerners‘ und drittens dem Konstrukt der Interlanguage oder Interimsprache. Dem muttersprachlichen Sprecher wird die Kompetenz zugeschrieben, die der Lerner erlangen soll oder möchte. War die Verbesserung von Sprachlehrprozessen Zielsetzung der SLA-Forschung, so war es dafür notwendig, „to identify a teachable body of knowledge that would help the learner’s interlanguage approximate, ever more closely, NS [native speakers’] ways of speaking“ (KRAMSCH/WHITESIDE 2007, S. 908). Für den behavioristischen Ansatz war der Lernende, auch der Sprach(en)lernende, vor allem als physischer Organismus gesetzt; im Rahmen psycholinguistischer Herangehensweise wurde er zu einer idealisierten Kategorie, zum Repräsentanten eines abstrakten Sprachlernmodells (vgl. RILEY 2003). In beiden Theorien ist der Lernende – ebenso wie auch der muttersprachliche Sprecher – nicht als handelndes, gesellschaftlich eingebundenes und beeinflusstes Subjekt konzipiert.
Orientierung am muttersprachlichen Sprecher
Insbesondere die Orientierung am muttersprachlichen Sprecher ist in der Literatur vielfach diskutiert und im Rahmen von kommunikations- und sprachhandlungsorientierten Ansätzen kritisiert worden. Zwar war er nicht explizit als ‚idealer Sprecher-Hörer‘ im Sinne Chomskys konzipiert; die ihm implizit zugeschriebene Kompetenz jedoch „suspiciously resembled linguists’ standardized grammar of the written language and the etiquette conventions of middle-class verbal behavior“ (KRAMSCH/WHITESIDE 2007, S. 908). Die Kritik verweist nicht nur darauf, dass die Kompetenz tatsächlicher muttersprachlicher Sprecher höchst unterschiedlich sein kann, sondern gibt weiterhin zu bedenken, dass ein muttersprachlicher Sprecher nicht notwendigerweise einsprachig ist. Er kann zusätzlich zu seiner Muttersprache (L1) eine oder mehrere Sprachen (L2, L3 …) gelernt haben; er kann aber auch zwei Muttersprachen (LA und LB) haben und danach zusätzliche Sprachen gelernt haben – all dies sind Gegebenheiten, die im Rahmen der psycholinguistischen SLA-Forschung nicht vorgesehen sind.
Spricht der muttersprachliche Sprecher allerdings andere Sprachen, so bleibt dies nicht ohne Rückwirkungen auf seine Kompetenz in der Muttersprache (seine LA/LB bzw. L1, die der Sprachenlerner als L2 lernt) (vgl. COOK 2002; JARVIS/PAVLENKO 2007). Damit stellt sich prinzipiell die Frage der ‚Tauglichkeit‘ seiner L1/LA/LB-Kompetenz als Modell für den Lerner. Weder der muttersprachliche Sprecher noch die zielsprachige Sprechergemeinschaft in ihrer Gesamtheit kann – quasi als „generic reality“ (KRAMSCH/WHITESIDE 2007, S. 908) – als einsprachig konzipiert werden. Analoges gilt für den Lerner: Auch er kann bereits mehr als eine Sprache sprechen, zwei- oder mehrsprachige Multikompetenz und Sprachlernerfahrungen haben, sodass der Bezug auf einen ausschließlich als L2-Lernprozess charakterisiertes Vorgehen eine grobe Einschränkung ist.
Relevanz des Status ‚Muttersprachler‘
Dem muttersprachlichen Sprecher steht im SLA-Ansatz der Lerner als nicht-muttersprachlicher Sprecher gegenüber – ein Kontinuum zwischen diesen beiden Polen gibt es nicht. Der Lernende kann sich den Kompetenzen des muttersprachlichen Sprechers weitestgehend annähern, jedoch nie seinen Status erreichen. Wenn er allerdings umfassende sprachliche Kompetenz erlangen kann, ohne Muttersprachler zu sein – was hinlänglich durch Beispiele nachgewiesen ist –, stellt sich die Frage, welche Relevanz dann der Status ‚Muttersprachler‘ hat. Selinker, der das Konzept der Interlanguage im Wesentlichen in die Forschung eingeführt hat, sieht umfassende Kompetenz von maximal 5 % der Zweitsprachenlerner erreicht und geht deshalb davon aus, dass für die Theoriebildung „these successful learners may be safely ignored“ (SELINKER 1972, S. 212).
Soziale Einbindung von Sprechen und Lernen
Durch die psycholinguistische Ausrichtung auf die Spracherwerbsprozesse wird der Lerner auf den defizitären Charakter seiner L2-Sprachkompetenz reduziert, d.h. er wird ausschließlich durch das definiert, was ihm fehlt – nämlich muttersprachliche Kompetenz in L2. Durch das weitgehende Ausblenden der sozialen Eingebundenheit von Sprechen und Lernen wird er prinzipiell zu einem „[…] deficient communicator struggling to overcome an underdevelopped L2 competence, striving to reach the ‚target‘ competence of an idealized NS (native speaker)“ (FIRTH/WAGNER 1997, S. 295f.; vgl. auch LAFFORD 2007) – ein Ziel, das er per definitionem nie erreichen kann.
Mit dem sozio-affektiven Filter (DULAY/BURT 1978, s.u.) wurde zwar eine sozialbezogene Dimension hinzugefügt, diese stand jedoch im Einzelnen hinter modellbezogenen Überlegungen zurück und setzte die sozio-kulturellen Erwerbs- und Verwendungsbedingungen nicht prinzipiell als zu berücksichtigende Kategorie. Alles in allem führt diese Sicht dazu, dass Lerner anderer Sprachen – so die Argumentation vieler Kritiker – auf das kontextlose Erwerben/Lernen von Regeln, die zur Produktion grammatikalisch korrekter Sätze verwendet werden, reduziert werden und ihre Sprachkompetenz daran – und nicht in und an Verwendungszusammenhängen – gemessen wird.
Interlanguage
Damit bleibt auch die dritte zentrale SLA-Kategorie, die Interlanguage, nicht undiskutiert. FIRTH/WAGNER 1997 sehen in ihr eine Metapher für das Machtgefälle zwischen muttersprachlichem und nicht-muttersprachlichem Sprecher, zwischen Lehrkraft und Lerner, und halten dem entgegen, dass innerhalb einer Kommunikation Interlanguage-Formulierungen auch bewusst gewählt und verwendet sein können. Ebenso wird inzwischen beispielsweise Code-switching nicht mehr vorrangig als aus mangelnder Sprachkompetenz erwachsen interpretiert, sondern eher als Ausdruck von Identität und bewusster Sprachverwendung gesehen.
„Newcomers to a given discourse community“
Aus mehrsprachigkeitsorientierter Forschungsperspektive hingegen wird argumentiert, das erfolgreiche Lernen anderer Sprachen ergebe sich im Situationsbezug, durch soziales Aushandeln und den Einsatz von Verwendungsstrategien in kommunikativen Kontexten. Sprachkompetenz werde in der Praxis hergestellt, gehe aus ihr hervor und passe sich jeweils an. Von daher seien Form und Kognition zwar nicht unwichtig, sie seien aber als hybrid, in Veränderung begriffen und in Situationen eingebettet zu sehen und Spracherwerb sei als mehrkanaliges, mehrdimensionales und offenes Interaktionmodell zu definieren (vgl. CANAGARAJAH 2007, 2005). Von daher schlagen KRAMSCH/WHITESIDE 2007, S. 910 vor, statt von ‚Lernern‘ von „newcomers to a given discourse community“ zu sprechen. Ansatzpunkt der Betrachtung ist dann nicht mehr der Sprachenlerner, sondern der Sprachverwender/-nutzer („language user“, ein Begriff, der nur mit akzentsetzender Nuancierung ins Deutsche übertragbar ist, vgl. ‚Sprachbenutzer‘, ‚-nutzer‘, ‚-anwender‘, aber auch ‚-verwender‘). Die Perspektive der Sprachnutzung sollte im Übrigen, so COOK 1999, 2002 auch das Lehren anderer Sprachen bestimmen – das heißt, Sprache sollte durchgängig Medium, nicht Objekt von Unterricht sein.
Sprachwahl
Auch die Unterschiedlichkeit der Kommunikationssituationen ist in Rechnung zu stellen. Anders als bei Einsprachigen, die in der Regel nur in einer – immer derselben – Sprache kommunizieren, haben Zwei-/Mehrsprachige nicht nur zwei beziehungsweise mehr als zwei Sprachen, in denen sie jeweils einsprachig interagieren können oder müssen; sie können auch innerhalb einer Interaktion zwei oder mehrere Sprachen verwenden, sei es, weil alle Kommunikationspartner mehr als eine Sprache produktiv und rezeptiv nutzen, wie beispielsweise beim Code-switching, sei es, dass Sprachrezeption und -produktion getrennt nach Sprecher- und Hörerrolle in unterschiedlichen Sprachen vor sich gehen: Jeder spricht seine (Mutter)Sprache und versteht die des/der Anderen.
Code-switching
Je nach Situation und Kommunikationspartner(n) agieren, wie bereits GROSJEAN 1989 aufgezeigt hat, Zwei- und Mehrsprachige ein-, zwei-, oder mehrsprachig – und dies nicht nur auf sprachlicher, sondern auch auf pragmalinguistischer Ebene (unterschiedliche Konzepte von Höflichkeit; angemessene Differenzierung der Anrede, Wahl des jeweils angemessenen Registers etc.).
Sprachverwendungskompetenz
Neuere Forschungsansätze sind gekennzeichnet durch Begriffe wie ‚Multikompetenz‘ und ‚Dynamische Multikompetenz‘ (vgl. beispielsweise FRANCESCHINI 2009a, b; FRANCESCHINI et al. 2011; GORTER 2006; HERDINA/JESSNER 2002; JESSNER 2008a). Dies verweist auf die Interaktion, die sich durch das Vorhandensein und die Verwendung von mehr als einer Sprache in unterschiedlichen Situationen ergibt. Diese Ansätze sehen statt eines Nacheinanders von Lernen und Verwenden eine Gleichzeitigkeit, bei der aus und in der Verwendung Sprachkompetenz und Sprachverwendungskompetenz entstehen. Dies bietet, in Übereinstimmung mit Konzepten von Lebenslangem und Autononem Lernen (s.u.), eine Kombination von Ansatzpunkten, die in ihrem Veränderungspotenzial – aber auch in ihren Grenzen – für schulische Sprachenvermittlung bei Weitem noch nicht ausgelotet ist.
Zusammenwirken der Sprachen im Kopf des Sprechenden
Insgesamt haben sich die Ansichten darüber, was unter Zwei- beziehungsweise Mehrsprachigkeit zu verstehen ist, in den letzten Jahren recht grundlegend geändert. Als Maß der Dinge gilt nicht mehr das Konstrukt ‚(einsprachig) muttersprachlicher Sprecher‘, sondern das in und mit den ihm zur Verfügung stehenden Sprach- und Sprachhandlungskompetenzen handelnde Subjekt. Zwei- und Mehrsprachigkeit werden als qualitativ neue Ebene gesehen, die sich aus dem Zusammenspiel (der Verwendung) unterschiedlicher Sprachen in Kommunikationssituationen ergibt und die über die Summe der Addition der einzelnen Sprachen hinausgeht; mehr noch: das Zusammenwirken der Sprachen im Kopf des Sprechers, sein „cognitive makeup“ (KRAMSCH/WHITESIDe 2007, S. 911), beeinflusst sein Lernen neuer Sprachen sowie die Kompetenz, Kenntnis und Verwendung jeder einzelnen Sprache. Alle vom Sprecher gesprochenen Sprachen beeinflussen sich gegenseitig und verändern den Umgang mit ihnen auf unterschiedlichen Ebenen (kognitiv, semantisch, pragmatisch), in unterschiedlichem Maße und zu unterschiedlichen Zeiten – dies gilt auch für die zuerst erworbene Sprache, die Muttersprache.
Sprachstandstests
Weltwissen und Perspektiven auf Realität, die mit unterschiedlichen Arten sprachlicher Register und Diskursen wie Schriftlichkeit und Mündlichkeit einhergehen, werden zwar einzelsprachspezifisch erworben, ihr kognitives Potenzial wirkt jedoch sprachübergreifend. Je nach Bedarf kann es vorkommen, dass zusätzliche unterschiedliche einzelsprachige Realisierungen erworben werden müssen. Von daher wäre zu differenzieren in Sprachkompetenz als Ausdruck der Fähigkeit, die Welt sprachlich zu erkennen und wiederzugeben, und (Einzel)Sprachenkompetenz, die bestimmt ist durch die Fähigkeit, wie dies in welcher Sprache gelingt. Ein solch holistischer Blick ist nicht zuletzt gerade dann notwendig, wenn es beispielsweise, wie im aktuellen Bildungskontext, darum geht, bei Zwei-/Mehrsprachigen durchzuführen (s.u.).
Der neueren Mehrsprachigkeitsforschung geht es nicht zuletzt darum, die implizit als weltweit gültig gesetzte Norm der (WEIRD-)Einsprachigkeit – inzwischen häufig als ‚heilbar‘ bezeichnet – als überholt erkennbar werden zu lassen:
„It is time to revise, reformulate, and refine our models of acquisition for the more egalitarian context of transnational relations and multilingual communication.“ (CANAGARAJAH 2007, S. 936).
Linguistische Theorie müsse den tatsächlichen Gegebenheiten der realen Welt, die „messy, heteroglossic, and multilingual“ (PAVLENKO 2006, S. xii) sei, Rechnung tragen, wolle sie sich nicht dem Vorwurf eines „militant monolingualism“ (ebd., S. xiii) aussetzen. Dies bedeutet jedoch nicht, dass die Fähigkeit, „im einsprachigen Modus“ (LÜDI 2011, S. 33) reden und schreiben zu können, damit obsolet geworden ist, denn „[n]ur wer in der Lage ist, zu einem bestimmten Zeitpunkt eine spezifische Sprachvarietät zu verwenden, kann sich erfolgreich innerhalb des geltenden Sprachwertsystems bewegen“ (ebd., S. 28). Damit ist die Aufgabe, der sich Schulen in Zeiten von Globalisierung und Mehrsprachigkeit zu stellen haben, umrissen.