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Sport ist Mord

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Jede Art von Bewegung strengt mich an. Das war schon immer so. Deshalb ging ich zum Sportunterricht sehr widerwillig und nur, weil ich gleich in der ersten Klasse schmerzlich erfahren hatte, was Schülern, die sich vor dem Unterricht drücken, widerfährt. Das wollte ich nicht noch einmal durchmachen müssen.

Vor unserem Hausarzt hatte ich immer noch Angst, sodass die Alternative – Arztbesuch – gar nicht erst zur Diskussion stand.

Dank der leckeren Schulspeisung hatte ich weiterhin Figur- und Gewichtsprobleme. In der Essenspause schaffte ich es sogar, zweimal Nachschlag zu holen. Mindestens dreimal in der Woche trainierte ich dies und hatte Erfolg, denn es blieb im Laufe der Zeit viel an meinen Hüften hängen.

Die Lieblingsaufforderung meiner Mutter: „Reiß dich zusammen und hab dich nicht so!!!”, verfolgte mich auf Schritt und Tritt. Unter diesem Motto stand auch mein Gang in die verhasste Turnhalle.

„Nur fünfundvierzig Minuten, dann ist alles vorbei”, murmelte ich immer wieder vor mich hin.

Aber fünfundvierzig Minuten können lang und qualvoll werden.

Alle Sportarten, bei denen man sich festhalten konnte oder sogar Bodenkontakt hatte, überstand ich so einigermaßen. An der Kletterstange jedoch hing ich ganz unten – wie festgeklebt. Die Erdanziehung war an dieser Stelle sicherlich besonders stark. Jede Anstrengung kam mir doppelt so schwer vor. Auch beim Lauf, egal wie weit oder lange, kämpfte ich mit meinen Massen um die Wette.

Es war nie ein schnelles Vorwärtskommen möglich.

Beim Hochsprung kam ich gar nicht hoch und den Bock hopste ich nur an – mir fehlte jeglicher Schwung.

War das eine Qual.

Mein Vater wollte mir auf die Sprünge helfen und für den notwendigen Schwung sorgen, deshalb baute er in seinem Garten nicht nur Gemüse an, sondern auch eine Hochsprunganlage für mich ganz allein, an der ich üben konnte – bis zum Umfallen.

Über eine Höhe von dreißig Zentimeter kam ich gut rüber. Fünfzig Zentimeter schaffte ich auch noch – aber dann: Anlauf – Sprung und flutsch lag die Stange mit mir auf der Wiese.

Meinem Vater kam eine tolle Idee, wie er seiner steifbeinigen Tochter, also mir, ganz schnell zu mehr Triebkraft verhelfen konnte.

Er schnitt vom Johannisbeerstrauch Zweige ab. Ich ahnte nichts Schlimmes und setzte noch einmal voller Elan zum Absprung an. In diesem Moment klatschte er die Ruten kraftvoll auf meine nackigen Hinterbeine.

Der Schreck hat mich jedoch auch nicht höher springen lassen. Den Schmerz und die Demütigung habe ich nie vergessen.

In der Bibel soll ja stehen: „Ehre deine Eltern”, oder so ähnlich. Also wird mein Vater schon gewusst haben, wie weit er seine Erziehungsarbeit ausbauen kann.

„Sei liebevoll zu deinen Kindern und behandle sie wenigstens etwas respektvoll”, steht wahrscheinlich nicht darin, wäre aber auch nötig.

Schwimmen hat mir auch mein Vater beigebracht, da kannte er nichts. Sicherlich wollte er erfolgreiche Trainings-Methoden erforschen, brauchte aber noch ein Opfer zum Ausprobieren.

Wir fuhren im Sommer zum Baden öfter an einen Kanal. Dort ging es auf großen rutschigen Steinen gleich steil rein. Ich konnte nicht lange überlegen, ob ich vielleicht doch lieber nur im flachen Wasser bleibe, denn es gab keins.

Mit meinem bunten Schwimmring um den Bauch paddelte ich herum und fühlte mich sicher.

Meinem Vater dauerten diese Selbstversuche viel zu lange. Er rief mich raus, nahm mir den Rettungsring weg, schubste mich ans Wasser, hob mich hoch und schmiss mich mit aller Kraft weit in die Fluten hinein.

Bereits nach der ersten Schrecksekunde überkam mich die pure Panik. Schreiend, Wasser schluckend und spuckend kämpfte ich um mein Leben.

Am Ufer versammelten sich viele Menschen, denn so ein Schauspiel bekamen sie nicht jeden Tag geboten. Alle guckten, ob ich es wohl schaffen würde. Vielleicht wurden sogar Wetten abgeschlossen?!

Irgendwann stieß ich dann mit dem Knie an einen der Steine. Der Schmerz war mir in diesem Moment egal.

Hurra, ich hatte wieder Land unter den Füßen, konnte mich aber nicht so leicht beruhigen.

Mein Vater meinte nur höhnisch: „Du musst schon schwimmen, damit du nicht untergehst”, und wollte gleich noch einmal nach mir greifen.

Aber der Schock und die Angst brachten mich dazu, dass ich nur noch schreien und um mich schlagen konnte. Das war ihm dann vielleicht doch zu blöd vor den vielen Gaffern und Zeugen, sodass er diese Art Schwimmunterricht auf den nächsten Badeausflug vertagte.

Meine Mutter lernte gleichzeitig mit mir schwimmen. Mein Vater gestand ihr alle Zeit der Welt zu. Sie bekam Zuspruch, Unterstützung und Hilfe von ihm. Geduldig schwamm er im tiefen Wasser neben ihr her und gab ihr somit Sicherheit.

Das habe ich nicht verstanden.

Warum hat er sie nicht auch einfach ins tiefe Wasser geschmissen, und wir hätten uns dann gemeinsam an ihrem Überlebenskampf erfreut?

Ich wäre sicher gern zum Sportunterricht gegangen, wenn wir nicht Leistungssport hätten betreiben müssen.

Manchmal bewege sogar ich mich ganz gerne.

Wen interessiert es, ob ich schwungvoll wie eine Gazelle über einen Bock springen kann oder die Hundert-Meter-Strecke weltrekordverdächtig laufe?

Man hätte uns lieber beibringen sollen, was wir tun müssen, um elastisch und unbeschwert das restliche Leben gut meistern zu können. Für eine gesunde Körperhaltung und die Belastung der Herzkreislaufgefäße reicht es doch völlig, regelmäßig Ausdauersport und Gymnastik zu machen.

Wie viele Schweißausbrüche und Angstzustände wären mir schon als Kind erspart geblieben?!?

Dafür machte mir Musikunterricht viel Freude. Einmal sang ich mit einem Mitschüler „Freude schöner Götterfunken” so gut, dass uns anschließend alle schweigend anstarrten. Die Lehrerin sagte, sie hätte sogar eine Gänsehaut bekommen und meldete diesen Hörgenuss gleich an den Chorleiter weiter. Leider blieb mir nur der Traum von einer großen Gesangskarriere, denn ich sollte weiterhin nur die Akkordeongruppe unterstützen. Singen durften nur die, die kein Instrument spielten. Leider ...

Über meine musikalische Leistung war eine Klassenkameradin sehr neidisch. Sie gehörte leistungsmäßig mit zu den besten Schülern, bekam aber in Musik keinen richtigen Ton hinter den anderen. Sie quälte sich zur Gesangsstunde, wie ich mich zum Sport.

Fast alle Schüler johlten, sowie sie zum Vorsingen aufgerufen wurde, und freuten sich tierisch auf dieses einmalige Klangerlebnis.

Warum wurde sie so erniedrigt? Warum wurden Schüler, die kein Talent besitzen, so gedemütigt?

Wer sportlich ist und gut zeichnen oder musizieren kann, hat eben angeborene Fähigkeiten. Manche Eltern haben aber in dieser Hinsicht nicht viel zu vererben.

Talent sollte deshalb nicht mit Zensuren bewertet werden. Es würde doch ausreichen, wenn im Zeugnis steht: Sie/Er hat sich erfolgreich/erfolglos bemüht und ist mit/ohne Talent gesegnet.

Wir hatten einen Englischlehrer, der stark sehbehindert war. Dieser hatte die Angewohnheit, sobald er schwatzende Geräusche hörte, sein großes Schlüsselbund in die vermeintliche Richtung zu schmettern. In seinem früheren Leben muss er Handballer gewesen sein, denn er hatte richtig Schwung im Wurf. Egal wohin er zielte, er traf oft den Falschen. Niemand hat ihm das untersagt, obwohl andere Lehrer und auch der Direktor davon wussten.

Warum wurde diese Körperverletzung geduldet?

Die Anwesenheit am Chemieunterricht hätte ich mir sparen können. Nur zwei Dinge habe ich begriffen, dass Chemie auch etwas mit Stoffen zu tun hat, die entweder explodieren können oder giftig sind. Da ich für mein weiteres Leben nicht plante, Bomben zu bauen oder jemanden ins Jenseits zu befördern, interessierte mich hier überhaupt nichts. Wenn ich die Chance gehabt hätte, ein Fach abzuwählen, dann wäre es auf jeden Fall Chemie gewesen. Das war damals jedoch nicht möglich, denn wir bekamen eine umfassende Allgemeinbildung vermittelt. Uns blieb somit erspart, dass wir erst beim Studium bemerken, dass wir gerade die nicht belegten Fächer hätten gut gebrauchen können. Es hatte also auch ein paar Vorteile, dass wir uns durch die gesamte Bandbreite des Lehrplanes durchquälen mussten.

Unsere Klassenbücher blieben in den Pausen auf dem Lehrertisch liegen. Einige pfiffige Schüler kamen nun auf die Idee, dass sie sich selbst doch ein paar gute Zensuren eintragen könnten. Gesagt – getan.

Fast niemand wollte vor den anderen als Feigling dastehen, und im Handumdrehen lag so mancher eine Note besser im Leistungsdurchschnitt.

Nicht, dass ich das nötig gehabt hätte, aber manche Taten der Mitschüler waren wahrscheinlich ansteckend.

Bei dem fast blinden Englischlehrer”, dachte ich, „fällt das am wenigsten auf.“

Er schrieb die Zensuren sowieso irgendwohin, da war meine Tat schnell vollbracht.

Die Schüler, die sich nicht an dieser Straftat beteiligt hatten, wurden mit der Zeit neidisch und platzten bald über ihr Wissen. Irgendeiner machte den Anfang, schaffte sich Erleichterung und ging zum Direktor und verpetzte uns.

Nun wurde jeder Mittäter zusammengepfiffen. Es gab mächtigen Ärger.

Auch ich sollte die nicht erarbeiteten Zensuren zeigen, was mir schwer fiel, hatte ich mir beim Eintragen ins Klassenbuch ja Mühe gegeben, diese echt aussehen zu lassen. Ratlos zeigte ich auf irgendwelche Zahlen und der Direktor, ich kam aus dem Staunen nicht raus, sagte: „Das sieht man ganz deutlich!”

HÄ??? Na, wenn Sie das so genau erkennen”, dachte ich und kicherte innerlich.

Der Direktor meinte es scheinbar gut mit mir, denn er bot mir einen Deal an. „Wenn du mir andere Schüler nennst, die sich auch selbst Zensuren eingetragen haben, bekommst du keine Strafe.”

Das fand ich irgendwie ungerecht und ich überlegte: „Erst werde ich zum Verrat angestiftet und soll dafür sowie für die Urkundenfälschung ungeschoren davonkommen. Somit würde ich ja für zwei Straftaten auch noch belohnt werden.”

Irgendetwas kam mir dabei spanisch vor und ich grübelte weiter: „Wenn das nun jedem Täter vorgeschlagen wird und alle auf den Deal eingehen würden, müsste ja nur der Allerletzte bestraft werden, denn er hätte das Pech, dass keiner mehr da ist, den er verraten könnte. Alle Petzen vor ihm wären ja auf den Deal eingegangen und würden straffrei ausgehen.”

Als ich meine Englischgesamtnote bearbeitete, war ich nur mit einer Freundin zusammen, die sich natürlich auch die eine oder andere Zensur dazuschrieb. Also hätte ich nur sie verraten können.

Nein. Ich lasse lieber ordnungsgemäß die Bestrafung über mich ergehen”, sprach ich mir in Gedanken Mut zu und hoffte, durch meine Verschwiegenheit nicht die letzte Dumme zu sein.

Das blieb mir jedoch erspart, denn ALLE Beteiligten wurden beim Fahnenappell vor den versammelten Schülern angeklagt.

Mario stand neben mir, flüsterte kichernd die neuesten Witze und stupste mich dabei auch noch an. „Eh, Elke, kennste den schon?”

Angestrengt versuchte ich, ernst und ruhig zu bleiben und schuldbewusst zu gucken.

Dann kam der Hammer.

Der Direktor schilderte in allen Einzelheiten, wie wir diese Schandtat begangen haben.

Ich staunte und dachte: „Das klingt ja wie eine Anleitung zum Nachmachen.”

In der Reihe der Sünder stand auch Jutta, von der ich genau wusste, dass sie mich verpetzt hat. Das hat mir nämlich die Monika verraten, die das von Mario wusste.

So viel zum angebotenen Deal des Direktors. Ich wusste doch, dass man dem nicht trauen kann.”

Und Jutta kann über meine Tat nur von der einen Freundin, mit der ich dabei allein war, informiert worden sein. Das musste ich enttäuscht feststellen.

Für mich war es eine Sache der Ehre, diese Freundin nicht anzuschwärzen. Sie war auch die Einzige, die nicht bestraft wurde, aber nur, weil ich meinen Mund hielt. Außerdem war sie die Tochter von der Lehrerin, bei der ich gleich im ersten Schuljahr ganz aus Versehen mal eine Stunde verpasst hatte. Die Frau hatte mir damals schon die Hölle heiß gemacht, und ich wollte gar nicht darüber nachdenken, was sie mir antun würde, wenn ich ihre Tochter verraten hätte. Sie wäre doch überzeugt gewesen, dass ihr gut erzogenes Kind einen Verstoß gegen die Schulordnung niemals begehen würde.

Wem hätte man mehr geglaubt? Einer Lehrerin und guten Genossin der SED oder einer Schülerin, die zu kriminellen Handlungen neigt?

Meine Meinung sagte ich hier lieber auch nicht. Die hätte bestimmt niemand hören wollen.

Meine Eltern erfuhren natürlich auch davon. Bis heute haben sie mit mir nicht über diesen Vorfall gesprochen. Meine Mutter lag nur schluchzend in den Armen meines Vaters und rief: „Womit haben wir das verdient? Der hacke ich die Pfoten ab!”

Aber – ihr fiel zum Glück noch rechtzeitig ein, dass ich meine Pfoten noch brauche, um weiterhin fleißig alle Arbeiten im Haushalt zu erledigen. Schon wieder einmal hatte ich großes Glück gehabt.

Dass ich von meinen Eltern mehr als Haushälterin gehalten wurde, blieb auch den Nachbarn und Eltern meiner Freunde nicht verborgen. Mein fleißiges Tun zu Hause brachte mir bei denen den heimlichen Spitznamen „Aschenputtel” ein. Das tat ganz schön weh, als ich Jahre später davon erfuhr.

Meiner Mutter muss irgendwann doch einmal aufgefallen sein, dass bei uns nicht alles normal abläuft, denn sie gab mir einen heißen Tipp, wie ich meine Situation erträglicher machen könnte.

„Du würdest viel mehr bekommen, wenn du dem Vati ein bisschen um den Bart gehst”, sagte sie großmütig zu mir.

Das habe ich damals überhaupt nicht verstanden, denn er hatte gar keinen Bart.

Heute weiß ich, was sie meinte.

Ich hätte heucheln und schleimen müssen, dann wäre ich eines Tages vielleicht sogar seine kleine Prinzessin geworden.

Lebt wohl, Familienmonster

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