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Warnung! Versündigt euch bloß nicht gegen mich
ОглавлениеMeiner Mutter bin ich heute noch sehr dankbar, dass sie mich so oft mit erhobenem Zeigefinger warnte: „Versündige dich nicht!”
Dieser Satz ist mir hundertprozentig in Fleisch und Blut übergegangen. Wenn mir nur ein sündiger Gedanke ansatzweise in den Sinn kommt, schießt diese Warnung sofort dazwischen und ich zucke zusammen.
Im Laufe meines Lebens lernte ich die verschiedensten Menschen kennen. Viele waren nett zu mir, manche wurden sogar gute Freunde. Einige jedoch versündigten sich gegen mich. Die haben als Kind sicher nicht eingebläut bekommen, dass man das einfach nicht tun sollte.
Klar, ich bin auch nur ein Mensch und mache Fehler. Ich bin aber bisher glimpflich davongekommen.
Nach dem Motto: „Kleine Sünden bestraft der liebe Gott sofort” – habe ich mich mal gestoßen oder bin in einen Hundehaufen getreten. Angenehm war das nicht, jedoch auszuhalten.
„Mit großen Sünden lässt er sich Zeit” – da weiß ich zum Glück nicht, was eventuell noch auf mich zukommt.
Auch ich lache gern über andere Menschen, denn das ist viel besser, als selbst ausgelacht zu werden. Mein Gelächter hält sich allerdings in Grenzen, als wäre mir eine Bremse angeboren. Ich kann einfach nicht frei heraus gehässig sein. Die Warnung: „Versündige dich nicht!”, ist allgegenwärtig.
Meine heutige Familie sieht das anders.
Eigentlich heißt es ja: „Hunger macht böse.”
Da ich dank meiner Eltern gelernt habe, vortrefflich zu kochen, wissen meine Lieben, die von mir zubereiteten Speisen zu schätzen und wollen keine Mahlzeit auslassen.
Trotzdem machen sich alle oft einen Spaß auf meine Kosten, finden immer Gelegenheiten, wie sie meine Worte und mein Tun ins Lächerliche ziehen können.
Dabei sind sie ganz raffiniert. Vor und während des Essens führen sie Gespräche in alle möglichen Richtungen, reden sogar freundlich mit mir – aber wehe, wenn die sich vollgefuttert haben. Dann lachen die mir mitten ins Gesicht. Nur gut, dass ich hart im Nehmen bin. Meine säuerliche Standardfrage lautet: „Na, ihr seid wohl mal wieder satt?”
Zu ihrem Pech kann ich mir fast alles gut merken und schlage verbal zurück. Das kommt bei ihnen nicht gut an, und sie fragen mehr oder weniger verärgert: „Kannst du die alten Geschichten nicht einmal ruhen lassen?”
„Nein, kann ich nicht”, antworte ich dann lächelnd.
Meine erste große Liebe hat es hart getroffen.
War ich damals glücklich, dass sich endlich ein Junge auch für mich interessierte, denn ich verhielt mich gegenüber dem männlichen Geschlecht sehr zurückhaltend.
Nach dem Motto: „Nimm mich – hier bin ich”, konnte ich nicht vorgehen, denn mein Aussehen machte mir immer noch zu schaffen.
Er hieß Claus, strotzte vor Selbstbewusstsein und hat mich regelrecht überrannt.
Im Nachhinein denke ich: „Der war sicher selbst froh, endlich eine Dumme gefunden zu haben.”
Aber, wenn man frisch verliebt ist, ist der Blick oft getrübt und beide Ohren sind fest verschlossen.
Wir gingen ein Jahr miteinander. Er machte die Ansagen, worüber ich auch froh war, denn als geborene Angsthäsin und schüchternes Mädchen konnte ich eine zielsichere Führung gut gebrauchen.
Man konnte auch sagen: „Er nahm mich ein mit Haut und Haaren, und ich wehrte mich nicht.”
Seine Eltern hatten ein Mehrfamilienhaus, in dem unten die Großeltern und in der Mitte seine netten Eltern wohnten. Im Dachgeschoss hatten er und seine Schwester sich in einer gemeinsamen Wohnung eingerichtet. Das gefiel mir. Die ganze Familie unter einem Dach. Alle verstanden sich gut und nahmen mich sogar freundlich auf.
Ich hätte Claus auch zeigen können, was ich als zukünftige Hausfrau schon alles drauf hatte – wenn die Schwester in der Zeit unserer Beziehung nicht gerade ihre soziale Phase ausgelebt hätte. Im Rahmen eines Schulprojektes sollte sie mit zwei Freundinnen straffällig gewordene Jugendliche betreuen.
Das hätten sie ja gern machen können, aber nicht Tag und Nacht in dieser Wohnung. Es wurden Orgien bis zum frühen Morgen gefeiert. Sie hausten zu acht in zwei kleinen Zimmern, schliefen bis zum späten Nachmittag zwischen ihren schmutzigen Klamotten und Essensresten.
Leider blieb so für Claus und mich keine Zweisamkeit.
Mit seiner Mutter war ich gern zusammen. Sie war eine ganz liebe Frau. Wir machten gemeinsam Handarbeiten und probierten neue Rezepte aus. Endlich hatte mal jemand Zeit für mich und ging auf meine Interessen ein.
Leider war Claus, warum auch immer, sehr unfreundlich zu seiner Mutter. Das Essen schmeckte ihm fast nie. Seine Wäsche war nicht sauber genug, und wenn es keinen Grund gab, stand sie ihm einfach nur im Weg. Sie weinte viel. Irgendwie kam mir das Verhalten von Claus aus eigener Erfahrung mit meinem Vater bekannt vor. Also nahm ich meinen Mut zusammen und sprach ihn darauf an.
Er sagte: „Das geht dich gar nichts an, da hast du dich nicht einzumischen. Ich werde schon meine Gründe haben. Irgendjemand muss ja hier das Sagen haben.”
Als wir unseren Urlaub bei seiner Tante in Berlin verbrachten, war ich dann dran. Er schleimte um seine Tante rum und raspelte reichlich Süßholz. Alles, was ich sagte oder tat, zog er ins Lächerliche. Dabei sah er mich auch noch mitleidig an. Wieder einmal kam ich mir wie die Dumme vor. Wohlgefühlt habe ich mich überhaupt nicht und war froh, als wir endlich wieder nach Hause fuhren.
Bald danach wurde ich krank.
Claus besuchte mich nur einmal und meinte: „Das mit uns hat ja nicht viel Sinn. Ich brauche eine Frau, die mit beiden Beinen im Leben steht und nicht so eine wie dich. Du bremst mich ja nur. Wer weiß, wie lange deine Unpässlichkeit noch andauert und was für Krankheiten in dir stecken. ”
Mir blieb nur noch, auf meine baldige Genesung zu hoffen. Irgendwann ging es mir besser.
Meine Freundin holte mich zur Disco ab. Lust hatte ich keine – aber, das Leben geht ja weiter.
Gleich am Eingang sah ich Claus stehen, eng umschlungen mit seiner neuen Freundin. In Gedanken wünschte ich ihm Glück.
Jahre später traf ich zufällig seine Mutter, die mir erzählte, dass Claus sich sehr verändert hätte und jetzt froh sei, sie zu haben.
Mit meiner Nachfolgerin bekam er kurz hintereinander drei Kinder. Der jüngste Sohn war geistig behindert. Etwas später stellte sich auch noch heraus, dass Claus einen Herzfehler hat, mit dem er nur noch bedingt berufstätig sein kann. Nun nahm er die Hilfe seiner Mutter großzügig in Anspruch.
Auch für ihn kam die Wende.
Seine Ehefrau entdeckte ihre grenzenlosen Möglichkeiten, verliebte sich in einen ausländischen Unternehmer und – ganz schnell war sie weit weg.
Sie soll zu ihm nur noch gesagt haben: „Mit so einem kranken Mann wie dir und drei kleinen Kindern will ich mich nicht mehr belasten. Mir steht jetzt die Welt offen.” Und tschüss ...
Meiner zweiten großen Liebe erging es nicht anders. Er hieß Georg und war sooo süß. Wenn er aufgeregt war, drehte er immer seine langen Locken um den Finger und guckte ganz verträumt.
Er hielt es fast ein ganzes Jahr mit mir aus. Eigentlich war alles so, wie ich mir eine glückliche Beziehung vorstellte. Alles besprachen und machten wir gemeinsam.
Bei ihm wurde mir mein geplantes Studium zum Verhängnis. Unser gemeinsamer Urlaub blieb mir noch lange Zeit in schlechter Erinnerung.
Mit seinem Freund und dessen Freundin fuhren wir zum Zelten an einen See, mitten im Wald, weit weg von jeglicher Zivilisation.
„Das wird erholsam und romantisch“, dachte ich. Das wurde es auch – aber nur für ihn, seinen Freund und dessen Freundin.
Wir zelteten am Waldrand. Bereits am zweiten Tag wurde Georg schweigsam, ignorierte mich und konzentrierte sich voll auf seinen Freund. Die drei trafen Absprachen und wollten allein was unternehmen.
Mein etwas gewachsenes Selbstbewusstsein signalisierte: „Stopp – hier muss ich etwas klären.”
Ich bat ihn dann zu einem Gespräch und staunte nicht schlecht.
Nach längerem Schweigen und Rumgedruckse meinte er: „Meine Mutter ist der Meinung, wenn du jetzt anfängst zu studieren, passen wir nicht mehr zusammen. Ich bin bloß ein einfacher Schlosser, da würdest du mir bald über den Kopf wachsen.”
„Aber ich studiere doch bloß, um danach mehr Geld verdienen zu können, und weil ich dann selbstständiger arbeiten kann. Für unser Zusammensein wird sich doch dabei nichts ändern”, versuchte ich, ihm meinen Entschluss zu verdeutlichen.
Er sprach weiter: „Die Trennung ist für mich schon länger beschlossene Sache. Ich wollte nur nicht allein mit den beiden in Urlaub fahren. Außerdem gehört dir das Zelt mit allem drum und dran, da wäre ich ja blöd gewesen, mir das alles noch selbst zu besorgen. Du kannst ab sofort machen, was du willst. Aber lass mich in Ruhe, denn ich will den Urlaub genießen. Reiß dich gefälligst zusammen und versaue mir die paar Tage nicht.”
Mir brummte der Kopf und ich hoffte, aus diesem Albtraum bald zu erwachen. Was sollte ich denn allein in dieser Einöde tun? Ihm gehörte das Auto, und er würde mich sicher nicht mit meiner ganzen Ausrüstung zu einem Bahnhof bringen, wo er doch froh war, diese benutzen zu können. Handys gab es noch nicht, sonst hätte ich ein Taxi rufen können, und bis zur nächsten Siedlung waren es mindestens zwanzig Kilometer.
Für mich brach eine Welt zusammen. Ich konnte kaum noch einen klaren Gedanken fassen und nahm die Umgebung wie im Nebel wahr. Die Drei hatten ziemlich viel Spaß und ließen sich durch meine Anwesenheit nicht stören. Sie ignorierten mich, behandelten mich einfach wie Luft.
Als ihr erholsamer Urlaub beendet war, packten sie ein und ich war sehr erleichtert, dass Georg mich in seinem Auto wenigstens noch mit nach Hause nahm.
Von diesem Schock erholte ich mich nicht so schnell.
Zum Glück begann kurze Zeit später mein Studium, und ich musste mich auf andere Dinge konzentrieren.
Georg sah ich fast jeden früh auf dem Weg zum Bahnhof. Er fuhr mit seinem Auto an mir vorbei, bald auch in weiblicher Begleitung.
Nach längerer Zeit verlor ich ihn dann aus den Augen und wurde nicht mehr regelmäßig erinnert.
Viele Jahre später lief mir sein Vater über den Weg. Er war erfreut, als er mich traf, und sprach mich an. Er wollte wissen, wie es mir geht, was ich so mache und fragte mich: „Sag mal, Mädchen, warum war denn eigentlich bei euch damals Schluss? Wir konnten das gar nicht verstehen, meine Frau und ich.”
„Das kann ich nun nicht verstehen”, sagte ich verblüfft. „Ihre Frau hat doch Georg gewarnt, dass er nicht glücklich wird, wenn ich studiere. Nur deswegen hat Georg unsere Beziehung beendet.”
Daraufhin sah er mich verständnislos an und schüttelte ungläubig seinen Kopf.
„Der Georg hätte mal lieber bei dir bleiben sollen”, sprach er weiter. „Der hat vielleicht ein Pech mit dem nächsten Mädel gehabt. Sie bekam ja auch bald ein Kind von ihm. Ihre Eltern wohnen in einem großen Haus, und die jungen Leute hatten die Möglichkeit, sich das ganze Dachgeschoss auszubauen. Unsere Verwandten und Georgs Freunde haben alle mitgeholfen. Die Wohnung ist ganz toll geworden. Und stell dir mal vor, die Freundin hat noch während der Einzugsparty zu unserem Georg gesagt: `Du kannst jetzt eigentlich gehen. Ich liebe dich nicht. Mir war nur wichtig, dass die Wohnung ausgebaut wird, denn du möchtest doch sicher auch, dass dein Sohn ein schönes Zuhause hat. Es hat ja auch alles gut geklappt mit den vielen Helfern aus deiner Verwandtschaft.´ Das hat ihn tief getroffen.”
Und tschüss ...
Die Berufsausbildung als Bauzeichnerin hatte ich hinter mir und gut abgeschlossen. Nun begann mein Studium.
Mein Vater hatte es nicht zum Bauingenieur geschafft, die letzten Prüfungen waren wohl zu schwer. Also erwartete er kompromisslos von mir, seinen Traum zu vollenden.
Nie wurde ich gefragt, welche Vorstellungen ich von meiner Zukunft habe. Mein kurzes Aufbegehren, dass ich gern einen Beruf erlernt hätte, bei dem ich mit Kindern zu tun hätte, eventuell mit dem Ziel Kinderheimleiterin, wurde gleich abgewürgt.
„Du willst dich wohl mit fremden Kindern rumärgern? Und Wochenend- und Schichtdienst hast du auch noch.”
Ich stellte mir das jedoch schön vor. Als Leiterin eines Kinderheimes hätte ich mich um Kinder, die auch nicht geliebt wurden und die niemand haben wollte, aufopferungsvoll kümmern können. Ich hätte alles dafür getan, dass sie sich wohl und nicht im Stich gelassen fühlen, denn ich weiß, wie weh es tut, nicht gewollt und nie gut genug zu sein.
„Du wirst Bauingenieur. Basta!”, lautete die Anweisung meines Vaters.
Seit frühester Kindheit hatte ich gelernt, dass es keinen Sinn hat, meinen Eltern zu widersprechen. Also gab ich meinen Berufswunsch auf und studierte pflichtbewusst Hochbau.
Bald merkte ich, dass mir die ganze Sache keinen Spaß macht, denn mindestens die Hälfte der Studienfächer interessierte mich überhaupt nicht.
Windlasten – entweder der Wind bläst oder er bläst eben nicht. Das ist mir doch egal.
Und was mache ich im Sommer mit den Schneelasten?
Dank meiner schnellen Auffassungsgabe und der Freundschaft zu einer Studienkollegin, mit der ich schon in der Berufsschule ganz gut auskam, habe ich mich durch das Studium geboxt, ohne auch nur einmal durch eine Prüfung zu rasseln. Ätsch!
Aber für mein Leben hat mir das nichts gebracht.
Was hätte bei meinem Potenzial alles aus mir werden können? Bei richtiger Förderung und mit etwas Verständnis hätte mir die Welt offen gestanden.
Aber da hätten meine Eltern mir ja mal zuhören und von ihren verbohrten Vorstellungen abweichen müssen.
Jeden Tag ging ich ungern zum Studium und später auf Arbeit und hoffte auf eine Änderung, die erst nach zehn Jahren mit der politischen Wende kommen sollte.