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2. Gregor - Freitag

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»Guten Morgen, Chef«, begrüßt mich meine Sekretärin, als ich das Vorzimmer meines Büros betrete.

Rosalie ist die gute Seele des Hauses. Für ihre einundsechzig Jahre hat sie sich gut gehalten. Wenn ich nicht wüsste, wie alt sie ist, würde ich sie auf Ende vierzig schätzen. Nur die grauen Haare, die in den letzten Jahren immer mehr geworden sind, verraten ihr Alter. Noch vor wenigen Jahren waren es ein paar vereinzelte Strähnen, die zwischen ihrem schwarzen Haar sichtbar waren. Inzwischen hat sich das Verhältnis umgekehrt. Von dem Schwarz ist nur noch wenig zu sehen. Doch Rosalie ist alles andere als eitel, sie steht zu ihrer natürlichen Haarfarbe. Sie ist eine der wenigen Frauen in meinem Leben, die sich nicht bis zur Unkenntlichkeit anmalen. Außerdem ist sie sehr herzlich. Für die Menschen, die sie liebt, kämpft sie wie eine Löwin.

»Guten Morgen, Rosalie!« Ich nicke ihr zu und gehe an ihr vorbei in mein Büro. Hinter mir schließe ich die Tür und atme tief durch.

Wie jeden Morgen genieße ich die ersten Minuten der Stille, bevor es hektisch wird. In einer halben Stunde beginnt unsere offizielle Öffnungszeit, bis dahin trudeln die restlichen Mitarbeiter ein.

Rosalie kommt meist eine Stunde früher und ist die erste. Durch meine morgendliche Joggingrunde treffe ich immer nach ihr ein.

Ich starte meinen Computer und lehne mich zurück. In Gedanken bin ich noch bei der Begegnung von heute Morgen. Ich sehe die leuchtend grünen Augen vor mir, die der Frau gehören, die behauptet hat, ich hätte sie geschubst. Dabei kann ich mich nicht daran erinnern, sie überhaupt berührt zu haben. Entweder war es ein Versuch, mich anzubaggern oder ich war so in Gedanken, dass ich es nicht bemerkt hatte. So sauer, wie die Kleine war, ist die erste Möglichkeit undenkbar. Sie könnte also im Recht sein. Trotzdem stritt ich es ab, sie umgestoßen zu haben.

Ich hätte es zugeben und sie nach ihrer Nummer fragen sollen.

Ein Klopfen an der Tür holt mich aus meinen Gedanken. »Ja«, rufe ich.

Die Tür wird geöffnet und Rosalie kommt mit einer Tasse Kaffee in der Hand hinein, die sie auf meinem Schreibtisch abstellt.

»Danke, du bist ein Schatz!«, sage ich und lächle meine Sekretärin an.

Insgeheim hoffe ich, sie in vier Jahren nicht an den Ruhestand zu verlieren. Die Hoffnung ist gering. Sie schwärmt mir ständig vor, wohin sie noch reisen will. Ihr Mann ist bereits in Rente und langweilt sich zu Hause zu Tode. Ihm wäre es am liebsten, wenn Rosalie ebenfalls sofort in den Ruhestand ginge und die beiden die Welt bereisen könnten.

Rosalie ist hin und her gerissen. Sie betont immer, wie gern sie für mich arbeitet und wie sehr sie es vermissen würde, wenn es vorbei wäre. Gleichzeitig ist sie vom Fernweh gepackt.

Sie lächelt mir mit ihrem typischen warmen Lächeln zu. »Gerne. Mittlerweile kenne ich deine Koffeinvorliebe.«

Ich lache laut auf. Meine Sekretärin kennt mich wirklich gut, besser als meine Eltern.

»Ach ja, Cindy von der Buchhaltung hat um einen kurzfristigen Termin gebeten. Ich habe sie heute dazwischen gequetscht. Ich hoffe, es ist okay.«

Ich seufze. »Klar. Scheint wichtig zu sein«, antworte ich. Insgeheim weiß ich, worauf ihr Besuch hinauslaufen soll. Mit Rosalie möchte ich aber nicht darüber reden.

»Bestimmt, was es genau ist, wollte sie mir nicht sagen.«

Ich nicke. »Na schön, dann wollen wir mal«, murmle ich gedankenverloren und greife nach der Maus. Seit ich die Firma gegründet habe, komme ich immer seltener dazu, meiner Leidenschaft, dem Programmieren, nachzugehen. In den letzten Jahren sind wir so gewachsen, dass ich zu viele andere Dinge zu tun habe. Mein Highlight sind die Besprechungen mit den Programmierern, wenn sie mir ihre Arbeit zeigen. Hin und wieder tüftle ich noch mit ihnen an Problemen. Leider ist das nur ein winziger Bruchteil meiner Arbeitszeit.

***

Es klopft an der Tür, als ich gerade damit beschäftigt bin, E-Mails von Kunden zu beantworten.

»Herein«, rufe ich und schaue auf.

Rosalie steckt den Kopf zur Tür hinein und hält einen Stapel Briefumschläge in der Hand. »Ich bringe dir die Post«, sagt sie und kommt herein. »Cindy ist auch schon da. Soll ich sie dir gleich reinschicken?«

»Okay, danke. Gib mir zwei Minuten, damit ich die Mail zu Ende schreiben kann.«

»Gut.«

Rosalie verlässt das Zimmer.

Ich lese meine Antwort an den Kunden noch einmal durch und überprüfe sie auf Fehler. Nachdem ich keine finden kann, drücke ich auf Senden und lehne mich zurück.

Mein Schreibtisch ist voll mit Arbeit, aber etwas Neues anzufangen, lohnt sich nicht, da die Buchhalterin jeden Moment hineinkommen wird.

Ich hoffe für sie, dass es wirklich wichtig ist. Bei Cindy weiß man das nie. Sie kam schon häufiger unter einem Vorwand zu mir.

Es klopft erneut an meiner Bürotür.

Ich atme tief durch und setze mich aufrecht hin. »Herein!«, rufe ich mit fester Stimme.

Die Tür geht auf und eine aufgetakelte Cindy betritt das Büro. Ihr schwarzer Rock ist kurz genug, um als Gürtel durchzugehen. Die weiße Bluse, die sie anhat, sieht aus, als würde sie jeden Moment explodieren wollen. Sie sitzt sehr eng und hat ordentlich damit zu tun, Cindys Oberweite zu halten. Die oberen beiden Knöpfe sind bereits geöffnet und bieten einen tiefen Einblick. Sie trägt wieder einmal High Heels, in denen sie kaum laufen kann. Sobald sie etwas schneller gehen muss, sieht sie aus, als würde sie über rohe Eier balancieren.

Ich schaue meiner Buchhalterin ins Gesicht. Wie immer ist sie stark geschminkt. Ich würde jede Wette eingehen, sie ungeschminkt nicht zu erkennen.

Ihre blonden Haare sind hochgesteckt, nur vereinzelte Strähnen hängen heraus. Ich bin mir sicher, Cindy hat sie mit Absicht so drapiert.

Sie trägt eine Mappe unter dem Arm und setzt ein Lächeln auf, als sie meine Musterung bemerkt.

Ich wende meinen Blick von ihr ab. »Bitte!«, sage ich und deute auf einen der Besucherstühle.

In Zeitlupe setzt sich meine Buchhalterin auf den Stuhl, der meinem genau gegenübersteht. Dabei achtet sie darauf, ihre Brust rauszustrecken und sich möglichst lange gebückt zu halten, um mir einen Einblick auf ihre Oberweite zu gewähren.

»Was gibt es so Dringendes?«, erkundige ich mich.

»Nun ja …«, stammelt sie.

Das Gestammel reicht mir, um zu wissen, wie unnötig dieser Termin ist.

»Was?«, frage ich in einem schroffen Ton.

»Ich habe da eine Buchung entdeckt, die ich nicht zuordnen kann.« Cindy starrt mich an und zieht dabei einen Schmollmund.

»Aha. Und?«

Sie erhebt sich im Schneckentempo, läuft um den Schreibtisch herum, bis sie neben mir steht. Sie beugt sich nach vorn und legt die Mappe auf den Tisch.

Ich klappe sie auf und starre auf einen Kontoauszug. »Und?« Meine Stimme klingt genervt. Es fällt mir schwer, Cindy nicht anzuschreien.

Mit einem langen roten Fingernagel deutet sie auf eine Zahl. »Diese hier!«

Ich schaue mir erst die Zahl an und wandere dann in der Zeile weiter, um zu sehen, von wem die Überweisung getätigt wurde. Als ich den Namen Murphy Limited lese, kocht in mir die Wut hoch. Nun kann Cindy nicht mehr leugnen, dass sie einen fadenscheinigen Grund gesucht hat, um herzukommen.

Murphy Limited ist ein Kunde, für den wir mehr als ein Mal gearbeitet haben. Cindy müsste das wissen, sie ist von Angang an in der Firma. Sie war eine der Ersten, die ich vor zehn Jahren, als ich die Firma gründete, eingestellt hatte.

Aber vielleicht ist genau das ihr Problem. Anfangs verhielt ich mich meinen Mitarbeitern gegenüber eher wie ein Kumpel. Im Laufe der Jahre erlernte ich erst den richtigen Umgang mit Angestellten. Ich versuche stets streng, jedoch fair zu sein und mich wie ein Chef zu verhalten. Natürlich ist es schön, freundschaftlich miteinander umzugehen. Leider nutzen das die meisten Leute aus und nehmen einen nicht mehr für voll. Cindy ist so eine Kandidatin. Umso erfolgreicher wir wurden, desto aufdringlicher wurden ihre Annäherungsversuche. Obwohl ich nie darauf eingehe, versucht sie es immer wieder.

Ich atme tief durch. »Was soll das?«, frage ich mit ruhiger fester Stimme. »Überfordert dich dein Job so sehr, dass du unsere Kunden nicht erkennst? Willst du dir vielleicht etwas anderes suchen?«

Cindy erhebt sich aus ihrer gebückten Haltung und starrt mich verwirrt an. Das Lächeln ist ihr längst aus dem Gesicht gefallen.

»Was?«, piepst sie.

»Du kommst her und verschwendest meine Zeit, das ist!«

Sie schluckt und läuft rot an.

»Was soll das?«, wiederhole ich meine Frage. »Was willst du?«

»I-Ich …«

»Ich höre!«

»N-Nichts!«

»Gut. Dann kannst du ja jetzt zurück an deinen Arbeitsplatz gehen. Und wenn du noch einmal meine Zeit mit so einem Schwachsinn verschwenden willst, betrachte es als deine erste Abmahnung!« Ich wende mich von ihr ab, starre auf meinen Bildschirm und warte, bis Cindy geht.

Langsam setzt sie sich in Bewegung. Ich höre jeden ihrer Schritte durch mein Büro klackern. Nach einer gefühlten Ewigkeit wird endlich die Tür geöffnet und fällt kurz darauf wieder zu.

Ich atme erleichtert aus. Es war das erste Mal, dass ich Cindy in ihre Schranken gewiesen habe. Normalerweise stehe ich über solchen plumpen Anbaggerungsversuchen, aber heute sind meine Nerven zum Zerreißen gespannt. Ich fühle eine innere Unruhe und weiß nicht, woher sie kommt.

Keine zwei Minuten später klopft es.

»Ja!«, rufe ich genervt.

Ich rechne schon damit, Cindy wieder zu sehen. Doch es ist Rosalie, die ihren Kopf hineinsteckt. »Darf ich?«, fragt sie zaghaft.

Ich nicke.

Rosalie kommt näher. »Ich will mich ja nicht einmischen, aber was war hier gerade los? Cindy sah aus, als hätte sie einen Geist gesehen.«

»Sie …«

»Sie hat also wieder versucht, bei dir zu landen«, spricht Rosalie die Worte aus, die mir fehlen.

»Du weißt es! Na klar.« Ich lächle ihr dankbar zu.

»Was hast du gemacht? Sie in ihre Schranken gewiesen?«

»Ja.«

»Irgendwann musstest du es ja mal tun. Sie erzählt den anderen Kolleginnen in den Pausen immer, du würdest mit ihr flirten.«

»Was?« Schockiert hebe ich den Kopf und schaue Rosalie in die Augen. Ich suche nach einem Anzeichen, das mir den Humor hinter der Aussage verrät, aber es gibt keins. »Wirklich?«, frage ich flüsternd.

»Ja, ich weiß es auch nur von den anderen. Vor mir traut sie sich das wohl nicht, zu sagen.«

Ich nicke.

»Kopf hoch, Gregor! So eine ist es nicht wert, sich über sie aufzuregen.«

»Ja, du hast recht«, krächze ich.

»Kann ich dir irgendetwas bringen?«

»Nein. Ich muss endlich weiterarbeiten«, antworte ich und deute auf den Computerbildschirm.

***

»Du bist spät, Gregor«, begrüßt mich meine Mutter, als ich eintreffe. »Du weißt, dein Vater mag es nicht zu warten.«

»Hi Mom«, grüße ich zurück und gebe ihr einen Kuss auf die Wange. Auf mein Zuspätkommen gehe ich nicht weiter ein. Es hat sowieso keinen Zweck, sich zu rechtfertigen.

Wenn es nach meinem Vater geht, kann ich sowieso nichts richtig machen. Er sieht meine Firma noch immer als Spielerei. Dass wir inzwischen pro Jahr einen Millionenumsatz erwirtschaften, kann oder will er nicht kapieren. Für ihn gibt es nur sein eigenes Unternehmen. Er hätte es viel lieber gesehen, wenn ich in seine Firma eingestiegen wäre. Dagegen habe ich mich aber immer gesträubt. Ich habe mich noch nie für Schrauben interessiert. Auch, wenn mein Vater einer der größten Hersteller für Nägel und Schrauben ist, hat es mich nie gereizt, in das Unternehmen einzusteigen. Am Ende wäre es vielleicht auf das Gleiche rausgekommen. In beiden Fällen hätte ich weniger mit der Produktion, als mit Kundenkontakten und der Mitarbeiterführung zu tun. Doch seit ich denken kann, wollte ich Programmierer werden. Wenn es sein muss, kann ich auch einen Nagel in die Wand hauen oder mit Schrauben umgehen, aber das ist eher ein notwendiges Übel.

Meine Mutter hat keine eigene Meinung. Sie zeigt mir nicht, ob sie stolz auf mich ist. Das hat sie noch nie getan. Sie ist meinem Vater hörig und redet ihm nach dem Mund.

Gerit Sander sagt, seine Frau soll nicht arbeiten. Also bleibt Dina zu Hause. Seit ich aus dem Haus bin, muss sich meine Mutter schrecklich langweilen. Für anfallende Arbeiten im Haushalt gibt es schließlich Personal.

Freunde hat meine Mutter auch keine. Wenn sie Besuch bekommen, sind es Geschäftspartner meines Vaters, die in Begleitung kommen.

Ich gehe an meiner Mutter vorbei. Es wundert mich, dass sie heute selbst an die Tür gekommen ist. Normalerweise sind dafür die Angestellten zuständig.

Als ich das Wohnzimmer betrete, sehe ich meinen Vater auf einem Sessel sitzen. Er ist in eine Zeitung vertieft und bemerkt mein Eintreffen nicht sofort.

Ich straffe meine Schultern und gehe auf ihn zu. »Hallo Vater!«

»Es wird ja Zeit, dass du endlich kommst. Wir warten schon seit einer Ewigkeit auf dich mit dem Essen.«

Ich könnte ihm jetzt von meinem Termin erzählen, der sich in die Länge gezogen hat, aber es wäre sinnlos. Ich kenne seine Antwort. Er würde mir erklären, wie schlecht meine Zeitplanung ist und mir sagen, ich hätte den Termin nicht so knapp vor dem Essen legen sollen. Schließlich ist das gemeinsame Abendessen freitags fix. Dabei frage ich mich immer, warum ich mir das antue. Ich könnte jetzt zu Hause auf der Couch sitzen, mir eine Pizza reinziehen und mir irgendeinen Film anschauen. Stattdessen bin ich bei meinem Eltern und muss ein steifes Essen durchstehen.

Mein Vater legt die Zeitung auf den kleinen Beistelltisch und geht an mir vorbei, ohne mich zu berühren. Ich bin es von ihm nicht anders gewohnt. Er hat mich noch nie in den Arm genommen oder mir gesagt, er würde mich lieben. Wenn ich ehrlich bin, weiß ich nicht, ob er mich liebt oder er mich nur duldet, weil ich sein Sohn bin.

Für meine Arbeit hatte er auch nie ein gutes Wort übrig.

Das sind die Momente, in denen ich meinen Kumpel Tim beneide. Seine Eltern zeigen ihm, wie sehr sie ihn lieben. Sie haben vielleicht nicht so viel Geld, wie meine, aber sie scheinen definitiv glücklich zu sein. Deshalb bin ich lieber bei ihnen, als bei meiner Familie.

Ich folge meinem Vater ins Esszimmer. Er hat sich bereits an das Kopfende des riesigen Tisches, an den vierundzwanzig Personen Platz finden, gesetzt und wartet.

Das Zimmer wirkt wie die meisten Räume des Hauses kalt und unpersönlich. Nur die hauseigene Bibliothek und mein ehemaliges Jugendzimmer, das unverändert ist, sind warm und haben so etwas wie eine Seele.

Das Gesicht meines Vaters ist ausdruckslos. Nur seine dunklen Augen verraten seinen Unmut.

Ich setze mich, wie immer, auf den Stuhl rechts von ihm.

Kurz nach mir trifft meine Mutter ein und setzt sich mir gegenüber.

»Und wie war dein Tag, Schatz?«, fragt meine Mutter und schaut mich fragend an.

Ich zucke mit den Schultern und überlege, was ich antworten soll. Zum Glück taucht in diesem Moment eine der Angestellten auf und serviert uns die Suppe.

Nachdem sie den Raum verlassen hat, löffeln wir sie schweigend.

Meine Mutter scheint ihre Frage glücklicherweise vergessen zu haben. Das erspart mir, darüber nachzudenken, was ich ihr in Gegenwart meines Vaters erzählen soll. Ich muss mir jedes Wort genau überlegen, um einer Moralpredigt zu entgehen.

Gedanklich wandere ich durch meinen Tag. Ich muss schmunzeln, als ich wieder diese leuchtend grünen Augen vor mir sehe.

»Was ist los? Du grinst wie ein Idiot!«, sagt mein Vater mit strenger Stimme.

Ich lasse meine Mundwinkel nach unten sinken und zucke mit den Schultern. »Nichts.«

Meine Mutter mustert mich. »Gibt es ein Mädchen, das dich so zum Lächeln bringt?«

Ich schaue sie mit hochgezogenen Augenbrauen an. »Wie kommst du denn darauf?«

»Deine Mutter will dir damit sagen, dass du nicht mehr der Jüngste bist und bald anfangen solltest, eine Familie zu gründen«, antwortet mein Vater für sie.

Ich ignoriere ihn und esse weiter, damit der Abend möglichst friedlich endet. Sobald ich mich auf seine spitzen Bemerkungen einlasse, würden wir uns gegenseitig immer weiter anstacheln, bis ich wutentbrannt die Villa verlasse. Das kam in der Vergangenheit schon mehr als einmal vor.

Meiner Mutter zuliebe versuche ich, solche Eskalationen zu vermeiden. Sie ist diejenige, die es besonders mitnimmt. Bei jeder unserer Vater-Sohn-Diskussionen weint sie, aber sie traut sich nie, einzuschreiten.

***

»Na, wie war's?«, begrüßt mich mein bester Freund, als ich vor seiner Tür stehe.

Tim kennt meine Freitage und ist darauf vorbereitet, mich nach dem Familienessen wieder aufzubauen. Es gibt kaum einen Freitag, an dem ich nicht bei ihm auftauche.

Ich schiebe mich an ihm vorbei, gehe ins Wohnzimmer und lasse mich auf die Couch sinken. »Bescheiden, wie immer«, antworte ich und seufze.

»Ich habe nichts anderes erwartet. Dein Vater wird sich nie ändern.«

Ich nicke zustimmend. Denn ich sehe es genauso. Während des Essens hatte mein Vater noch ein paar Mal versucht, mich zu provozieren, aber ich habe es nicht zugelassen. Innerlich kochte ich vor Wut, doch äußerlich ließ ich mir nichts anmerken. Das Pokerface habe ich eindeutig von ihm geerbt. Er ist Meister darin, sich niemals ansehen zu lassen, was er fühlt. Vielleicht liegt es auch daran, dass er gefühllos ist.

»Wieso lässt du diese Freitagsfarce nicht einfach sein? Du kannst dich nicht so quälen, nur um deiner Mutter einen Gefallen zu tun!«

»Du hast ja recht«, murmle ich.

»Ich weiß. Deshalb wirst du nächsten Freitag mit mir essen, damit du erst gar nicht in Versuchung kommst, wieder in dein Elternhaus zu fahren.« Tim schaut mich mit einem Blick an, der mich zum Schmunzeln bringt. Er versucht, ernst auszusehen. Doch das gelingt ihm nicht. Seine Mundwinkel zucken verdächtig. Ich muss ihn nur lange genug angrinsen, bis er in Gelächter ausbricht.

»Und was machen wir heute?«, fragt er, nachdem wir uns endlich beruhigt haben. »Bier und Glotze oder rausgehen?«

»Von mir aus können wir gerne das mit dem Bier und der Glotze machen. Irgendwie ist mir nicht mehr nach Gesellschaft.«

Wieder sehe ich diese grünen Augen vor mir. Mit jedem Mal ist mein Wunsch größer, diese Frau wiederzusehen. Sie ist irgendwo da draußen. Obwohl ich samstags eigentlich nicht laufen gehe, werde ich es morgen tun. Vielleicht ist sie auch im Park unterwegs.

»Hey, Erde an Gregor!«, schreit Tim mir ins Ohr.

Ich zucke zusammen und sehe meinem Freund in die Augen. Inzwischen sitzt er neben mir. Mir ist entgangen, wann das passiert ist. Genau wie seine Worte.

»Was?«, frage ich.

»Wo warst du denn mit deinen Gedanken? Gibt es irgendwas Neues bei dir?«

Ich denke einen Moment darüber nach, ob ich ihm von der Unbekannten im Park erzählen soll, entscheide mich dann dagegen. Es ist albern über einer Frau zu sprechen, die ich nur wenige Augenblicke lang gesehen habe. Wie soll ich auch erklären, dass ich sie nicht mehr aus dem Kopf bekomme.

»Nein, es ist alles wie immer.«

»Dafür bist du mit deinen Gedanken aber ziemlich weit weg.«

»Ach nein. Es ist nur das Übliche. Ich denke ständig an unsere Mitarbeiterversammlung übernächste Woche.«

»Aha, gibt es irgendwelche Probleme?«

»Nein, trotzdem sollte alles gut geplant sein«, flunkere ich.

Tim sieht mich prüfend an. Als mein bester Freund durchschaut er mich sofort, doch er reitet nicht weiter auf dem Thema herum. »Also wollen wir einen Film schauen?«

»Klar, aber vergiss das Bier nicht!«

Tim salutiert und geht in die Küche. Ich höre, wie er den Kühlschrank öffnet und es klirrt.

Mein Handy brummt. Ich ziehe es aus meiner Tasche und schaue auf das Display. Es ist eine Nachricht von meiner Mutter.

Mom: Es tut mir leid, Schatz. Kuss.

Ich frage mich, was ihr leidtut. Die Provokationen meines Vaters? Oder ihr unbeteiligtes Verhalten?

Ich: Schon okay.

Am liebsten hätte ich ihr sofort mitgeteilt, dass ich nicht mehr zum Freitagsessen komme, aber das hebe ich mir auf. Heute habe ich keine Kraft mehr für unnötige Diskussionen.

»Alles klar?«, fragt Tim, der im Türrahmen steht und mich beobachtet.

»Ja, es war nur wieder meine Mom, die mir schreibt, wie leid es ihr tut.«

»Was? Dass du nächsten Freitag nicht da bist?«

Zaghaft schüttle ich den Kopf. »Nein, das habe ich ihr noch nicht gesagt. Ich schätze, sie meint das Verhalten meines Vaters.«

Tim kommt näher, stellt die Bierflaschen auf den Couchtisch und lässt sich neben mir auf der Couch nieder. »Also, was wollen wir schauen?«

»Keine Ahnung, such du etwas aus!«

»Hm, so wie du aussiehst, könntest du eine Komödie vertragen«, stellt er fest und erhebt sich, um zu seiner altmodischen DVD-Sammlung zu gehen.

Ich ziehe ihn manchmal damit auf. In Zeiten von Online-Streaming ist Tim ein seltenes Exemplar. Aber er ist stolz auf seine riesige Sammlung und sieht es überhaupt nicht ein, sie aufzulösen, nur, weil sich die Technik weiterentwickelt. Im Grunde kann ich froh sein, dass er keine Videokassetten mehr hat.

Er wühlt in seinem monströsen Schrank herum und holt nach einer gefühlten Ewigkeit eine DVD hervor.

»Was ist das?«, frage ich neugierig, da ich die Hülle nicht erkennen kann.

»Lass dich überraschen.« Er legt die DVD in seinen Player und grinst mich an. »Bereit?«

»Bereit!« Ich grinse zurück.

Seerosenzauber

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