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4. Maja - Samstag

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Leise schleiche ich mich nach unten in die Küche. Obwohl ich heute etwas länger liegen geblieben bin und auf meine morgendliche Joggingrunde verzichtet habe, bin ich todmüde.

Es ist kein Wunder. Bis um vier Uhr morgens musste ich meine beste Freundin trösten. Dann ist sie in einen tiefen Schlaf gefallen.

Pascal hatte einige Male versucht, mich telefonisch zu erreichen. Nach dem ersten Versuch stellte ich mein Handy auf lautlos. Ich hatte keine Lust, mich mit ihm auseinanderzusetzen.

Gini hatte ihr Handy sofort ausgeschaltet, als sie bei mir war. Zu dem Zeitpunkt hatte Pascal noch nichts von ihrem Auszug bemerkt. Seine Kontaktversuche begannen erst kurz vor Mitternacht.

Der gestrige Tag schlauchte mich. Obwohl ich völlig fertig war, lag ich eine Weile wach, bis ich endlich einschlafen konnte. Die Ereignisse der letzten Stunden beschäftigten mich sehr.

»Waldi, komm!«, rufe ich und gehe zur Tür, um sie zu öffnen.

Der Dackel macht keine Anstalten, sich in Bewegung zu setzen.

»Na los, komm schon!«, sage ich ein weiteres Mal und klatsche in die Hände. »Los! Die Sonne scheint, du kannst heute dein Geschäft im Trockenen verrichten.«

Als ob er mich verstanden hätte, erhebt er sich schwerfällig und kommt auf mich zu. Noch bevor er mich erreicht hat, gehe ich nach draußen. Waldi folgt mir.

Es dauert nicht lange, bis er fertig ist und wieder zurück ins Haus trottet. Ich folge ihm. Mein Weg führt mich in die Küche.

Ich schalte die Kaffeemaschine ein und decke den Tisch.

»Guten Morgen«, brummt mein Großvater. Er kommt in die Küche geschlürft und lässt sich an seinem Stammplatz fallen.

»Ich habe Waldi schon rausgelassen«, sage ich.

Mein Opa nickt. »Kriegen wir Besuch zum Frühstück?«, fragt er mit festem Blick auf das dritte Gedeck.

»Gini hat bei mir übernachtet«, erkläre ich.

»Aha.« Sein fragender Blick durchbohrt mich. Er will wissen, ob es einen Grund dafür gibt, aber er würde mich nie danach fragen.

»Sie hat Ärger mit Pascal«, sage ich und winke ab.

»Ärger?«, kreischt meine Freundin, die plötzlich hinter mir steht.

Ich zucke vor Schreck zusammen.

»Ich habe keinen Ärger mit dem Mistkerl! Er betrügt mich!«, sagt sie wütend und geht zu meinem Opa und drückt ihm einen Kuss auf die Wange.

Meine Großeltern mochten Gini schon immer. Sie war für sie fast wie eine zweite Enkelin.

Wir kennen uns seit dem Kindergarten. Anfangs hätte wohl niemand gedacht, dass wir irgendwann Freundinnen werden könnten. Am ersten Tag in unserer Kindergartengruppe hatten wir uns angezickt. Wir schlugen uns gegenseitig mit Sandkastenschippen und beschmissen uns mit Sand. Unsere Erzieherin hatte alle Hände voll mit uns zu tun.

Unser Krieg ließ erst nach, als wir beide von einem Jungen geärgert wurden. Er zog uns immer an den Haaren und beleidigte uns, sobald unsere Kindergärtnerin nicht hingesehen hatte. Alleine hatte keine von uns eine Chance, aber irgendwann taten wir uns im Kampf gegen ihn zusammen. Um genau zu sein, half sie mir. Als er mir mal wieder an den Haaren gezogen hatte, schlich sich Gini von hinten an und zog ihm einfach die Hose runter. So schnell, wie er mich losgelassen hatte, konnte ich gar nicht gucken. Anschließend hatte er noch wenige Male versucht, eine von uns zu ärgern. Jedoch war die andere sofort zur Stelle. Meist lief es aufs Hoserunterziehen hinaus. Ihm gefiel das überhaupt nicht. Deshalb hörte er schnell auf, uns zu piesacken und suchte sich neue Opfer.

Seitdem sind Gini und ich miteinander befreundet. Wir merkten damals, dass die jeweils andere doch nicht so doof ist, wie wir dachten.

Ginis Kindheit war kaum besser als, meine. Obwohl sie bei ihren Eltern aufgewachsen war, sie beide Elternteile bis heute noch hat, war sie viel allein. Sie war ein sogenanntes Schlüsselkind. Ihre Eltern waren nie da. Gini musste sich um sich selbst kümmern.

Ich hätte es ja verstanden, wenn die Zimmermanns so viel gearbeitet hätten, um über die Runden zu kommen. Doch sie hatten keine Geldsorgen. Sie wollten einfach Karriere machen. Das war ihnen wichtiger als ihre eigene Tochter. Deshalb war Gini oft bei uns. Als ich noch bei meinem Vater wohnte, nahm ich sie nachmittags mit zu mir. Wir machten unsere Hausaufgaben zusammen und unternahmen dann etwas.

Nachdem mein Vater nicht mehr da war und ich bei meinen Großeltern lebte, kam sie mit dorthin. Sie wurde wie ein weiteres Familienmitglied integriert.

Spätestens um neun Uhr am Abend wollte sie immer zu Hause sein, damit ihre Eltern nichts merkten. Aber ich glaube kaum, dass sie gemerkt hätten, wenn Gini komplett bei uns eingezogen wäre.

»Dann schmeiß ihn raus!«, brummt mein Großvater. Sein Blick ist zornig. Ich bin mir sicher, wenn Pascal jetzt vor ihm stünde, würde mein Opa ihm die Hölle heißmachen.

Er findet sowieso keinen Kerl gut genug für eine von uns. Das ist auch einer der Gründe, warum ich nie jemanden mitbringe. Das hatte ich ein Mal versucht, damals lebte meine Oma noch. Es dauerte keine fünf Minuten, bis ich es bereute. Mein Opa stellte David, dem armen Kerl, so viele Fragen. Es hatte nur noch gefehlt, dass er seine Fingerabdrücke genommen und eine DNA-Probe verlangt hätte.

David verschwand unter einem Vorwand und meldete sich nie wieder bei mir. Dabei fand ich ihn nett. Wir waren gerade in der Kennlernphase. Mehr als ein bisschen Rumgeknutsche und Händchenhalten lief bei uns nicht.

Nach dieser Erfahrung traf ich mich mit Jungs nur an neutralen Plätzen. Aus Angst, mir könnte ebenfalls so eine Befragung blühen, traute ich mich nicht, zu einem der Jungs nach Hause zu gehen. Es sei denn, derjenige hatte sturmfreie Bude.

»Ich bin gegangen«, antwortet Gini verlegen. Inzwischen ist ihr klar, dass sie ihn hätte rausschmeißen sollen, statt selbst zu gehen.

Mein Opa nickt ihr zu. »Du kannst hier bleiben, solange du willst. Maja macht dir bestimmt das Gästezimmer fertig.« Er sieht mich fragend an.

Ich nicke ihm zu und schau dann zu Gini. »Wenn du möchtest?«

»Gerne.« Gini lächelt gequält. Sie schaut zwischen mir und meinem Opa hin und her. »Danke, ich wüsste nicht, was ich ohne euch machen würde.«

»Hey, das ist doch klar. Wir sind schließlich Freunde«, sage ich und bin froh, dass sie das Angebot meines Großvaters annimmt.

Gini kann unheimlich stolz sein. Sie lässt sich nicht von jedem helfen und schon gar nicht von ihren Eltern. Eher würde sie in ihrem Auto schlafen, als sie um Asyl zu bitten. Dabei hätte sie das Haus die meiste Zeit für sich allein. An den Karriereplänen der Zimmermanns hat sich bis heute nichts geändert. Sie arbeiten nach wie vor rund um die Uhr. Zu Hause sind sie nur zum Schlafen.

Gini hat den Kontakt zu ihren Eltern drastisch reduziert. Sie gratuliert ihnen noch zu ihren Geburtstagen und ruft zu den Feiertagen an, geht aber selten vorbei. Um sie zu besuchen, muss Gini schon eingeladen werden. Das passiert sogar ein paar Mal im Jahr, wenn die Zimmermanns Partys schmeißen. Zu den Anlässen darf die eigene Tochter nicht fehlen, damit sie die Vorzeigeeltern spielen können.

Gini hat sich mit dieser Situation arrangiert. Was soll sie auch sonst machen? Schließlich kennt sie es nicht anders.

Umso mehr tut es mir leid für sie, dass es mit Pascal nicht funktioniert hat.

»Was machst du heute? Hast du frei?«, frage ich, als mir einfällt, dass Gini jetzt eigentlich schon arbeiten müsste. Sie arbeitet als Zahntechnikerin.

Gini schaut mich irritiert an, so als wäre ich verrückt. »Heute ist Samstag. Da habe ich für gewöhnlich frei.«

»Oh«, antworte ich und klatsche mir die Hand gegen die Stirn. In meinem Beruf als Köchin gibt es kein klassisches Wochenende. Dadurch komme ich häufig durcheinander.

Meine Freundin lächelt mich zaghaft an. »Ähm, ich kann mir ja das Zimmer zurechtmachen und meine Sachen auspacken«, schlägt sie verlegen vor.

»Das wäre toll«, antworte ich. »Ich weiß nämlich noch nicht, wie spät es heute bei mir wird. Seit gestern bin ich die stellvertretende Küchenchefin.«

»Was?«, quietscht Gini. »Warum hast du denn nichts gesagt. Das ist ja …«

»Anstrengend«, unterbreche ich sie.

»Ja, aber du wolltest doch schon immer deinen eigenen Laden haben.«

»Ja, klar. Im Moment habe ich nur eine Menge Verantwortung, ohne kreative Entscheidungen treffen zu können.«

»Es ist doch eine gute Gelegenheit für dich, in die Selbstständigkeit hineinzuschnüffeln.«

»Das stimmt. Ich weiß jetzt, dass ein eigenes Restaurant nicht nur kochen bedeutet.«

»Du schaffst das!«, motiviert mich Gini. Dann dreht sie sich zu meinem Großvater. »Ich … Ich möchte aber nicht umsonst hier wohnen.«

»Du brauchst keine Miete zahlen«, winkt mein Großvater ab. »Wenn du unbedingt etwas beisteuern willst, kannst du hin und wieder einkaufen gehen.«

Gini schaut mich fragend an.

Ich nicke ihr zu.

»Na schön«, stimmt sie zu.

»Ich muss mich langsam fertigmachen«, sage ich und springe auf. »Könnt ihr bitte den Tisch abräumen?«

»Klar«, sagt Gini. »Ich habe heute jede Menge Zeit.«

»Danke, du bist ein Schatz.«

Ich drücke erst Gini einen Kuss auf die Wange, dann meinem Großvater, bevor ich nach oben verschwinde.

Während ich immer zwei Stufen auf einmal nehme, fällt mir wieder der Brillenfund im Tiefkühlfach ein. Ich wollte Gini von dem Vorfall erzählen und sie bitten, ein Auge auf meinen Opa zu haben. Ich werde ihr später eine Nachricht schreiben.

Obwohl ich die Sache mit Gini und Pascal traurig finde, bin ich froh, meine Freundin jetzt hier zu haben. Seit Eduards Ausfall fühle ich mich etwas überfordert. Ich muss mich um so viele Dinge kümmern, da belastet mich die Vergesslichkeit meines Großvaters besonders stark.

Wenn ich ihn doch nur zu einem Arztbesuch überzeugen könnte.

Ich stehe gerade mit einem Fuß im Badezimmer, als mein Handy klingelt. Nach dem Aufstehen habe ich den Ton wieder angeschaltet, falls es etwas Wichtiges gibt.

Hastig laufe ich ins Schlafzimmer und greife nach meinem Mobiltelefon, das auf dem Nachttisch liegt. Auf dem Display leuchtet eine Nummer auf, die ich nicht kenne. Normalerweise nehme ich ungern Gespräche mit unbekannten Rufnummern an.

»Hoffentlich ist es nicht Pascal«, murmle ich. Ich bin drauf und dran, den Anrufer einfach wegzudrücken. Da ich jetzt aber stellvertretende Küchenchefin bin, kann ich mir das nicht leisten.

»Hallo?«, frage ich.

»Maja«, schreit mir eine bekannte Stimme ins Ohr. »Bist du schon im Laden?«

Mein Ohr schmerzt. Ich halte das Telefon etwas von meinem Ohr weg, bevor ich Eduard antworte. »Nein, ich mache mich gleich auf den Weg. Was gibt es denn?«

»Heute Nachmittag kommt Gregor Sander, um das Menü für übernächste Woche zu besprechen. Ich …«

»Was?«, unterbreche ich ihn. Bisher habe ich noch nie Menüabsprachen mit Kunden getroffen.

»Maja!«, herrscht er mich an. »Gregor Sander ist ein wichtiger Kunde. Er möchte sich Essen für einhundert Personen außer Haus liefern lassen. Wenn wir ihn zufriedenstellen, lässt er uns zukünftig alle seine Veranstaltungen beliefern. Wir dürfen das mit ihm nicht verpatzen!«

»Für einhundert Personen? Außer Haus? Wie sollen wir das stemmen?«, erkundige ich mich schockiert.

»Wir schaffen das! Sander ist wirklich wichtig!«

»Schon klar, aber ist es dann nicht besser, wenn wir den Termin verschieben und du mit ihm alles besprichst?«

»Normalerweise würde ich ja sagen, doch das ist zu kurzfristig. Also musst du das übernehmen.«

Ich atme tief durch. »Na schön. Ich schätze, du hast etwas ausgearbeitet, was ich ihm zeigen muss?«

»Ja. Ich habe einige Menüvorschläge vorbereitet. Du müsstest dich aber um die Koordination der Zubereitung kümmern, falls ich bis dahin noch nicht zurück bin.«

»Was? Wie stellst du dir das vor? Ich bin Köchin und keine … keine …«

»Beruhige dich! Du schaffst das schon. Heute ist erst mal das Gespräch. Auf meinem Schreibtisch findest du eine Mappe mit Vorschlägen. Herr Sander wird um vierzehn Uhr da sein. Bis dahin solltest du dich einlesen.«

»Eduard, du bist verrückt! Warum muss ausgerechnet ich das machen?«

»Du schaffst das, Maja! Ich muss jetzt Schluss machen.«

Bevor ich etwas erwidern kann, hat Eduard aufgelegt.

Ich starre mit offenem Mund die Wand an und fühle mich völlig überrumpelt.

Natürlich hat Eduard irgendwann mal den Gedanken geäußert, auch Veranstaltungen zu beliefern. Die Restaurantküche ist groß genug, um eine Ecke nur für die Cateringvorbereitungen zu nutzen. Allerdings hatte ich keine Ahnung, wie konkret seine Pläne sind. Er verlor bisher kein Wort darüber, dass übernächste Woche bereits der erste Kunde beliefert werden soll. Ich weiß noch nicht mal, ob auch Geschirr benötigt wird und wenn ja, ob sich Eduard darum gekümmert hat.

Das ist wieder einer der Momente, in denen ich meinem Chef den Hals umdrehen könnte. Bisher fand ich meinen Küchenjob ziemlich monoton. Was mir an Abwechslung gefehlt hatte, prasselt nun auf mich ein.

In meinem Kopf dreht sich alles. Es dauert einen Augenblick, bis ich mich gefangen habe.

***

»Du bist ganz schön spät! Nicht, dass der Job als Küchenchefin dir zu Kopf steigt«, rügt mich John, als ich völlig abgehetzt die Restaurantküche betrete.

»Haha«, erwidere ich und ziehe einen Schmollmund.

»Was ist dir denn für eine Laus über die Leber gelaufen?«

»Eduard«, antworte ich.

John schaut mich fragend an. Als ich nichts weiter sage, räuspert er sich. »Und? Was ist mit ihm?«

»Er hat mich gerade angerufen und mich darüber in Kenntnis gesetzt, dass wir übernächste Woche den ersten Kunden mit Essen für einhundert Personen beliefern müssen. Er kommt heute für die Menübesprechung vorbei.«

»Oh«, ist alles, was John dazu einfällt.

»Du sagst es. Kommt ihr eine Weile ohne mich zurecht? Ich muss mich in Eduards Unterlagen einlesen.«

»Ähm, klar. Es nützt ja nichts.«

»Danke.«

»Nicht dafür. Ich frage mich nur, wie Eduard sich das vorstellt. Wenn er zusätzlich Essen außer Haus liefern möchte, muss er mehr Personal einstellen. Ich glaube kaum, dass wir das auch noch hinbekommen.«

Ich seufze. »Ich weiß. Bevor ich ihn fragen konnte, hat er einfach aufgelegt. Ich versuche, den Termin heute irgendwie zu bewältigen und danach mache ich mir Gedanken, wie wir das schaffen sollen.«

John nickt und widmet sich seiner Arbeit.

Ich verlasse die Küche und gehe in Eduards Büro. Sein Schreibtisch ist ein einziges Schlachtfeld. In der Küche ist er so ordentlich und hier liegt alles kreuz und quer herum.

Wieder klingelt mein Telefon. Ich zucke vor Schreck zusammen und krame es aus der Hosentasche. Der Name auf dem Display lässt mich aufstöhnen. Es ist Pascal. Ich schwanke, ob ich den Anruf einfach wegdrücken oder annehmen soll. Die Aussicht, er könnte mich den ganzen Tag belästigen, bringt mich dazu auf das grüne Symbol zu drücken.

»Was willst du?«, frage ich schroff und verzichte auf eine Begrüßung.

»Na endlich, Maja! Ist Ginette bei dir? Sie ist heute Nacht nicht nach Hause gekommen und ihr Telefon ist ausgeschaltet.«

»Ach, sag bloß!«, stelle ich mit trockener Stimme fest.

»Maja, bitte! Wenn du etwas weißt, musst du es mir sagen!«

»Muss ich das?«

»Maja, bitte!«

»Hör zu, Pascal! Ich habe dir nichts zu sagen. Gini übrigens auch nicht. Also hör auf, mich zu terrorisieren. Ich will weder Anrufe noch Besuche von dir, klar?«

»Maja, was ist los?«

»Das fragst du Allenernstes mich? Gini hat euch gesehen.«

»Oh.«

Es herrscht Schweigen.

Pascal weiß genau, worum es geht, sonst würde er nachhaken.

»War es das?«, erkundige ich mich nach einer Weile. »Ich habe zu tun.« Ohne eine Antwort abzuwarten, lege ich einfach auf.

Ich wühle mich durch einen Berg Papiere, bis ich tatsächlich einen Schnellhefter mit der Aufschrift Sander - Software Construction entdecke. Neugierig klappe ich den Hefter auf und lese, was Eduard sich ausgedacht hat. Bereits nach dem ersten Vorschlag weicht mir die Farbe aus dem Gesicht. Das Menü besteht aus vielen aufwendigen Komponenten. Der Aufwand, es für einhundert Personen zuzubereiten, übersteigt unsere Kapazitäten. Wenn wir es in der Stammbesetzung schaffen sollen, müssen wir das Restaurant für mindestens einen Tag schließen. Jetzt, wo Eduard ausfällt, vielleicht sogar für zwei Tage. Es ist nahezu unmöglich, das Tagesgeschäft und den Cateringauftrag unter einen Hut zu bekommen.

Ich lese weiter. Insgeheim hoffe ich auf einen Menüvorschlag, der schnell geht. Aber jedes, der fünf Angebote ist gleich aufwendig.

Meine Hoffnung, am Ende des Hefters Hinweise zu finden, wie Eduard sich den Ablauf vorgestellt hat, ist ebenso geplatzt.

Ich überlege, ob ich mir noch etwas anderes ausdenken soll, was leichter zu bewältigen ist, doch wenn ich das mache, wird Eduard mich köpfen.

Andererseits, wenn er nicht da ist, merkt er es nicht.

Mit der Mappe hetze ich in die Küche.

»John!«, rufe ich.

Mein Kollege dreht sich zu mir um und schaut mich fragend an.

»Wir haben ein Problem.« Ich deute auf den Hefter. »Die Menüvorschläge sind alle viel zu aufwendig. Wenn wir eines davon kochen müssen, schaffen wir das Tagesgeschäft nicht.«

Um ihm das zu demonstrieren, schlage ich die erste Seite auf und halte sie John vor die Nase.

Nach kurzer Zeit schüttelt mein Kollege ununterbrochen den Kopf, während er noch weiter liest. »Das wird definitiv nichts. Hat der Chef wirklich nichts von zusätzlichem Personal gesagt?«

Ich schüttle den Kopf und fasse mir nachdenklich ans Kinn. »Ich werde nach dem Termin zu ihm ins Krankenhaus fahren. Wir müssen das durchsprechen.«

John nickt. »Auf jeden Fall. In unserer jetzigen Besetzung schaffen wir das definitiv nicht.«

»Ich weiß noch nicht mal, ob Eduard sich um Geschirr gekümmert hat. Am liebsten würde ich den Termin absagen, aber Eduard meinte, dieser Sander wäre so wichtig.«

»Sander?«

»Ja, Sander.« Ich blättere zurück zum Deckblatt. »Software Construction.«

»Was?«, fragt John aufgekratzt. »Der Sander von Software Construction

»Ja, warum? Kennst du ihn?«

»Nein, noch nicht. Aber Sander ist ein ausgezeichneter Programmierer. Seine Software ist der absolute Hammer. Die haben sogar eine Abteilung, die Spiele entwickelt.«

»Aha«, murmle ich desinteressiert.

John hat noch nie ein Geheimnis daraus gemacht, dass er nach Feierabend zum Runterkommen Computerspiele spielt.

Ich kann dem Ganzen nichts abgewinnen. Technik ist im Allgemeinen nicht so mein Ding. Na ja, bis auf mein Smartphone. Ohne das Gerät kann ich nicht mehr leben. Dabei telefoniere ich kaum. Vielmehr sind es die Chats, die ich mit Gini habe. Wenn es das nicht geben würde, hätten wir manchmal tagelang keinen Kontakt. So eine Nachricht ist schneller geschrieben, als ein Telefonat zu führen.

Wobei ich auf die Chats in nächster Zeit verzichten kann. Es ist unglaublich, aber Gini und ich wohnen jetzt zusammen. Als Kinder sprachen wir oft davon, irgendwann zusammenzuziehen. Da ich im Haus meiner Großeltern die obere Etage für mich habe, hatte ich nie einen Grund, um auszuziehen. Gini musste auch noch nie alleine wohnen. Sie lebte bisher immer mit einem Mann zusammen. Selbst, wenn eine ihrer Beziehungen zu Bruch gegangen war, blieb sie nie lange Single. Irgendwie hatte sie jedes Mal einen Neuen am Start. Ich glaube, sie kann nicht alleine sein.

»Ich muss wieder«, sage ich und mache auf dem Absatz kehrt.

Mitten im Büro bleibe ich stehen und drehe mich im Kreis. Ich frage mich, ob Eduard in diesem Schlachtfeld den Kunden empfangen wollte. Einen Moment denke ich darüber nach, ob ich mich mit diesem Sander an einen Tisch im Gastraum setzen soll. Doch die Mahnung des Küchenchefs, wie wichtig dieser Typ ist, hält mich davon ab. Also muss ich hier ein wenig aufräumen.

Ich lege den Hefter auf einen der Stühle, damit ich ihn nicht aus Versehen irgendwo vergrabe und gehe zum Tisch.

Wahllos greife ich nach den Papieren, um sie ordentlich aufzutürmen. Am liebsten würde ich sie komplett vom Schreibtisch verbannen, nur weiß ich nicht, wo ich sie lassen soll. Die Schränke, die uneinsehbar sind, wurden von Eduard schon bis oben hin vollgestopft. Sie in die wenigen freien Fächer der Regale unterzubringen, würde sie auch nicht unsichtbar machen. Also kann ich sie gleich auf dem Tisch liegen lassen.

Ein letztes Mal schaue ich mich um, bevor ich den Hefter auf den Schreibtisch lege und das Büro verlasse. Auf dem Weg in die Küche gehe ich im Gastraum vorbei und gebe Charlotte Bescheid, dass ich einen Kunden erwarte.

Seerosenzauber

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