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3. Maja - Freitag
Оглавление»Du bist aber spät, Kleines«, begrüßt mich mein Großvater, als ich den Flur betrete. »Du hättest mich ruhig anrufen können!«, tadelt er mich.
»Entschuldige, Opa!«, antworte ich und verpasse ihm einen Wangenkuss, der seinen Blick weicher werden lässt. »Heute war der Teufel los. Der Küchenchef ist von der Leiter gefallen und musste ins Krankenhaus. Er will, dass ich ihn vertrete.«
»Wirklich?«, fragt er und grinst mich an. »Du hast jetzt das Kommando?«
»Ja, sieht so aus«, antworte ich und reiche ihm die Dosen mit den Essensresten, um mir die Jacke auszuziehen.
Mein Großvater schnüffelt aufgeregt daran. Für ihn ist es das Highlight des Tages, wenn ich Essen mit nach Hause bringe. Er verhält sich dann, wie ein kleiner Junge zu Weihnachten, der es kaum erwarten kann, seine Geschenke zu öffnen.
»Soße und Fleisch?«, hakt er nach.
»Ja, Schmorbraten mit Kartoffeln, Gemüse und Soße.«
»Oh, fein«, sagt er freudig und verschwindet in der Küche.
Hastig hänge ich meine Jacke an die Garderobe, schlüpfe aus meinen Schuhen und folge meinem Großvater.
An der Küchentür begrüßt mich Waldi mit einem trägen Schwanzwedeln. Früher kam er angerannt und ist an mir hochgesprungen. Inzwischen ist es ein Wunder, wenn er überhaupt sein Körbchen verlässt, um jemanden zu begrüßen.
»Hast du Waldi schon gefüttert?«
»Natürlich!«, sagt mein Opa.
Der Küchentisch ist bereits gedeckt. Mein Opa hat die Dosen auf den Tisch gestellt und sich hingesetzt.
»Ich wärme es uns schnell auf«, schlage ich vor und nehme das Essen vom Tisch.
»Aber nicht in dem Ding da!«, erwidert mein Opa und deutet auf die Mikrowelle.
Ich muss schmunzeln. Ich bin auch nicht der größte Fan von Mikrowellen, allerdings spricht meiner Meinung nichts dagegen, darin Essen aufzuwärmen. Mein Großvater ist ein Gegner davon. Er mag im Allgemeinen keine Technik. Ihm ist alles suspekt, was nach seiner Jugend entwickelt wurde.
Ich hatte mal versucht, ihm ein Handy zu schenken, damit wir besser miteinander kommunizieren können. Erst hatte er es ungeachtet im Wohnzimmer liegen gelassen. Dann entsorgte er es einfach heimlich im Hausmüll samt SIM-Karte. Natürlich fand ich das erst Wochen später heraus und musste die Karte sofort sperren lassen. Zum Glück war das Handy nicht in die falschen Hände geraten. Das hätte sonst böse für mich enden können, da es sich um eine Partnerkarte meines Vertrags handelte.
Seitdem versuche ich, ihm keine technischen Neuerungen mehr aufzuschwatzen. Es ist schon ein Wunder, dass er die Mikrowelle noch nicht entsorgt hat. Vielleicht liegt es nur an ihrer Größe. Ihr Verschwinden würde schnell auffallen.
Mit der Anschaffung hatte ich nichts zu tun. Kurz vor ihrem Tod hatte meine Oma sie gekauft. Womöglich ist sie auch aus diesem Grund noch im Haus.
Ich hole zwei Töpfe aus dem Schrank. In einen gebe ich das Fleisch samt Soße und Kartoffeln und in den anderen schütte ich das Gemüse hinein.
Durch die Küche zieht ein leckerer Duft.
»Und wie war der erste Tag als Küchenchefin?«, fragt mein Opa, während er den Duft des Essens inhaliert.
»Verdammt anstrengend und ein Ende ist lange nicht in Sicht. Eduards Bein muss operiert werden. Er wird mindestens eine Woche im Krankenhaus bleiben und sich danach schonen müssen.«
Für mich ist es eine wertvolle Chance, die Eduard mir gegeben hat. Zum ersten Mal ist mir bewusst, dass die Führung eines eigenen Ladens mehr ist, als nur gut zu kochen.
Während mir die Mitarbeiterführung noch relativ leicht von der Hand geht - vielleicht weil ich die Leute schon eine Weile kenne und ich es auf freundschaftlicher Basis versuche - ist der Papierkram die Hölle für mich.
Falls ich den Chef länger vertreten muss, werde ich um die Abrechnung nicht herumkommen. Einerseits freue ich mich, wenn Eduard so schnell wie möglich zurückkommt und mir die Verantwortung wieder abnimmt. Andererseits wird das kein Zuckerschlecken, solange er noch nicht vollständig einsatzfähig ist. Ich sehe ihn schon vor mir, wie er in der Küche auf einem Stuhl sitzt und uns antreibt. Diese Vorstellung lässt mir einen Schauer über den Rücken laufen.
»Wo ist denn meine Brille?«, murmelt mein Großvater, der sich eine Zeitschrift geholt hat und darin herumblättert. Er schaut sich suchend um.
Auch ich lasse meinen Blick durch die Küche schweifen. »Mmh, hast du schon im Wohnzimmer nachgesehen?«
»Ja, da ist sie nicht.«
»Na ja, das Essen ist sowieso gleich fertig. Danach suchen wir sie in Ruhe. Sie kann ja nicht weg sein.«
Mein Opa brummt etwas Unverständliches vor sich hin und schmeißt die Zeitschrift auf die Anrichte.
Ich belade die Teller mit Essen. Eigentlich habe ich keinen Hunger mehr. Wenn ich den ganzen Tag Gerichte abschmecken muss, habe ich am Abend kein Hungergefühl mehr. Entsprechend klein fällt meine Portion aus. Ich würde auch komplett darauf verzichten, aber ich möchte meinem Opa Gesellschaft leisten. Er ist ohnehin tagsüber schon mit Waldi alleine. Zum Mittag scheint er nie etwas zu essen. Entweder vergisst er es oder er isst ungern allein.
Als meine Oma noch da war, hatte es das nie gegeben. Sie hatte darauf geachtet, dass es ihm gut ging.
Sie fehlt mir so sehr. Ich vermisse sie jeden einzelnen Tag. Seit meiner Kindheit waren sie und mein Opa die Menschen, die mir am nächsten standen.
Als mein Vater starb, waren meine Großeltern diejenigen, die mich ohne zu zögern zu sich nahmen. Für sie muss es genauso schlimm gewesen sein, wie für mich. Immerhin hatten sie ihren Sohn verloren.
Ich erinnere mich an den Morgen vor meinem zehnten Geburtstag, als wäre es erst gestern gewesen. An diesem Tag war ich bei meinen Großeltern. Ich hatte bei ihnen übernachtet, damit mein Vater einen Männerabend mit seinem besten Freund machen konnte. Die beiden hatten jede Menge Spaß, bevor mein Vater sich auf den Heimweg machte. Nur leider kam er nie zu Hause an. Unterwegs sah er, wie sich zwei Kerle über eine Frau hermachten. Wie er nun mal war, überlegte er nicht lange und griff ein. Die Typen wandten sich sofort ihm zu, dadurch konnte die Frau fliehen. Sie hatte die Polizei gerufen. Kurz nach ihnen traf auch ein Krankenwagen ein. Doch für meinen Vater kam jede Hilfe zu spät. Seine Verletzungen waren zu schwer. Die beiden Schläger traten noch nach ihm, als er bereits bewusstlos am Boden lag.
Wir saßen gerade beim Frühstück, als die Polizei eintraf und meinen Großeltern den Verlust ihres einzigen Sohnes mitteilte. Ich hatte das Gespräch belauscht. Anfangs fand ich es so aufregend, dass wir Besuch von zwei Polizisten hatten. Das ging aber vorbei, sobald ich erfuhr, warum sie da waren. Ich brach in Tränen aus und konnte mich stundenlang nicht beruhigen.
Die Täter wurden nie geschnappt. Sie laufen irgendwo da draußen ungestraft herum und dürfen ihr Leben einfach so weiterführen, nachdem sie meinem Vater seines nahmen.
Bei dem Gedanken spüre ich Wut in mir hochkochen. Wut auf die Kerle, Wut auf die Frau und Wut auf meinen Vater. Warum musste er sich einmischen und den Helden spielen? Er hätte sich auch zurückziehen und die Polizei rufen können. Genauso wie die Frau um diese Uhrzeit nicht allein zu Fuß unterwegs sein musste. Wenn sie nicht dort gewesen wäre, würde mein Vater vielleicht noch leben.
Ich weiß, wie mies und falsch diese Gedanken sind und auch, dass die alleinige Schuld bei den beiden miesen Kerlen liegt, aber ich kann nicht anders. Diese Wut ist die einzige Möglichkeit, mit der Trauer besser umgehen zu können.
Wenn ich meinen Opa anschaue, denke ich automatisch an meinen Vater. Die beiden sehen sich so verdammt ähnlich. Auch ich habe ihre Augen. Wenn ich in den Spiegel schaue, sehe ich meinen Vater. Er ist immer präsent.
Schweigend sitzen wir nebeneinander. Während ich mein Essen von der einen auf die andere Seite schiebe, verschlingt mein Opa seine Portion.
***
»Oh nein, nicht jetzt«, fluche ich, als mein Handy klingelt.
Meine Hände sind mit Creme verschmiert, weil ich gerade dabei bin, mir das Gesicht einzucremen.
Hastig wische ich die Creme an meinen Oberschenkeln ab und haste in mein Schlafzimmer. Auf dem Nachtisch leuchtet mein Handy. Das Display zeigt das Bild einer wunderschönen schwarzhaarigen Frau mit schokoladenbraunen Augen. Es ist meine Freundin Ginette. Ich muss lächeln.
»Hallo Süße«, begrüße ich sie.
»Hi Maja«, erklingt ihre Stimme traurig.
»Was ist los?«, frage ich.
Am anderen Ende der Leitung ist ein Schniefen zu hören.
»Gini?«
»J-Ja, ich bin noch da.«
»Was ist passiert?«
»Pascal … Er hat eine andere«, schluchzt sie.
»So ein Mistkerl!«, fluche ich. »Woher weißt du das? Hat er es dir gesagt?«
»Nein, ich habe sie gesehen.«
»Was? Wann? Wo?«
»Eben habe ich sie Händchen haltend im Park gesehen.«
»Was? Händchen haltend? Kennst du sie?«
»Nein. Keine Ahnung, wer sie ist, aber die beiden sahen so vertraut miteinander aus.«
»Hast du Pascal zur Rede gestellt?«
»Nein. Ich habe mich versteckt.«
»Du hättest ihn zur Rede stellen sollen.«
»Vielleicht …«
»Wo bist du?«
Am anderen Ende der Leitung herrscht Stille.
»Gini?«
»Äh, ich sitze im Auto.«
»Wo?«
»Keine Ahnung. Als ich die beiden gesehen habe, bin ich nach Hause gefahren und habe meine Sachen gepackt.«
»Was? Wieso hast du deine Sachen gepackt? Es ist eure gemeinsame Wohnung!«
»Ich weiß, aber ich will da nicht mehr sein.«
»Verstehe. Willst du herkommen?«
Wieder ist es still in der Leitung.
»Gini! Komm her! Es sei denn, ich soll zu dir kommen.«
»Nein, ich komme … Danke, Maja.«
»Fahr vorsichtig, Süße. Wenn du da bist, klingelst du mich auf dem Handy an, ja? Mein Opa schläft schon.«
»Klar, danke.«
Bevor ich antworten kann, hat Gini aufgelegt.
Ich atme tief durch und mache mich auf eine lange Nacht gefasst.
Es fällt mir schwer, mir vorzustellen, dass Pascal Gini hintergehen könnte. Die beiden waren für mich das absolute Traumpaar. Insgeheim habe ich sie immer beneidet und mir gewünscht, auch einem Mann wie Pascal zu begegnen.
Ich schleiche die Treppe nach unten und mache mich auf die Suche nach Alkohol und Fresskram. Waldi sieht mich gelangweilt an, als ich an ihm vorbei in die Küche zum Kühlschrank gehe, um die Flasche Sekt zu holen. Eigentlich steht sie dort für besondere Anlässe, aber Liebeskummer scheint mir auch ein Anlass zu sein. Mal davon abgesehen ist es der einzige Alkohol, der da ist.
Dann schaue ich ins Tiefkühlfach, ob noch Eis da ist. Gini liebt Schokoeis. Normalerweise habe ich immer eine Packung vorrätig. Doch statt Schokoladeneis finde ich die Lesebrille meines Opas, die wir nach dem Abendessen erfolglos suchten. Dabei hatte ich das ganze Haus auf den Kopf gestellt.
Mein Opa war so frustriert, dass er nach ein paar Minuten bereits aufgegeben hatte und lieber schlafen gehen wollte.
Also musste ich mit Waldi vor die Tür. Heute war er besonders stur, weil es ein bisschen genieselt hatte. Es dauerte ewig, bis er sein Abendgeschäft verrichtete.
Ich frage mich, wie die Brille in das Eisfach gelangen konnte. Langsam mache ich mir wirklich Sorgen um die Vergesslichkeit meines Großvaters. Wenn ich ihn doch nur zu einem Arztbesuch überreden könnte.
Bevor ich weiter darüber nachdenken kann, vibriert das Handy in meiner Hand. Ohne drauf zu schauen, weiß ich, wer es ist.
Ich haste zur Tür und nehme eine verheulte Gini in Empfang. Ohne ein Wort zu sagen, lässt sie sich in meine Arme sinken und schluchzt.
Ich drücke sie fest an mich und streichle ihr sanft über den Rücken, bis sie sich von mir löst.
»Lass uns nach oben gehen!«, flüstere ich.
Gini nickt und steigt die Treppe hinauf.
»Ich komme gleich nach«, sage ich leise und gehe in die Küche zurück.
Ich schnappe mir die Flasche Sekt und finde in einem der Hängeschränke noch eine Tüte Chips und eine Schachtel Pralinen. Beides nehme ich mit nach oben und mache mir gedanklich eine Notiz, die Vorräte wieder aufzufüllen.
Zuerst schaue ich in meinem kleinen Wohnzimmer nach meiner Freundin, doch es ist leer.
Im Schlafzimmer finde ich sie dann in meinem Bett liegend.
Ich lege die Vorräte auf dem Nachtschränkchen ab, setze mich neben Gini und streichle ihr über den Kopf.
Mit verheulten Augen schaut sie mich an. »Wie konnte er mir das antun?«, flüstert sie.
Mir fehlen die Worte. Was soll ich auch dazu sagen? Ich an ihrer Stelle hätte Pascal zur Rede gestellt, statt einfach davon zu laufen. So ein überstürzter wortloser Auszug wäre nicht mein Stil gewesen, aber was weiß ich schon. Ich bin seit zwei Jahren Single und ein schlechter Ratgeber in Beziehungsfragen.
Gini geht es ohnehin mies genug, da muss ich sie nicht auch noch mit meinen Ansichten weiter hinunterziehen. Stattdessen höre ich ihr einfach zu und bin für sie da.