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Kapitel 3

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Nina

Als ich auf dem Parkplatz vor der JVA parkte, stellte mein Chef, Tom Tellmann, ebenfalls den Wagen ab. Er wartete auf mich und ich ging lächelnd auf ihn zu. Mit den blonden, kurzen Haaren und den blauen Augen sah er sogar in der Uniform gut aus, was sicher auch an seiner eindrucksvollen Größe lag.

„Guten Morgen, Nina. Schönes Wochenende gehabt?“

„Danke, ich hab viel geschlafen“, antwortete ich ausweichend.

„Ja, an die Nachtschichten muss man sich erst gewöhnen.“

„Ich komme damit klar.“ Tom war für die Schichtpläne zuständig und ich wusste, dass er mich mochte. Auf keinen Fall wollte ich, dass er mir deshalb eine Sonderbehandlung zukommen ließ.

„Jetzt hast du ja erst mal drei Wochen Tagschichten. Was hältst du davon, wenn wir am nächsten Wochenende zusammen ins Kino gehen?“ Entgegen seinem sonst eher lauten Wesen klang er bei der Frage beinah schüchtern und er war eindeutig rot geworden. Süß. Ich wollte zwar nichts mit einem Kollegen anfangen, insbesondere nicht mit meinem Chef, aber warum sollte ich nicht mit Tom ins Kino gehen. War ja nichts dabei und vielleicht fand ich durch ihn ja ein paar neue Freunde. Auf jeden Fall war ein Kinobesuch mit Tom besser, als wieder das ganzen Wochenende heulend auf dem Sofa zu verbringen.

„Ja, warum nicht, wenn etwas Gutes läuft“, antworte ich und bemühte mich, locker zu klingen. Tom strahlte.

„Ja? Das ist super. Wir sehen später nach, was läuft. Heute wird hoffentlich ein ruhiger Tag. Keine Neuzugänge, keine Entlassungen und wie ich gehört habe, ist auch mit Kanter am Wochenende alles gutgegangen.“

Ich war erleichtert, das zu hören, versuchte aber, es mir nicht anmerken zu lassen. Zwischen all dem Selbstmitleid hatte ich am Wochenende immer wieder an Kanter gedacht und war mehrmals kurz davor gewesen, in der JVA anzurufen, um mich nach ihm zu erkundigen.

„Tom, du hast mir ja die Aufgabe mit der Bibliothek gegeben, hast du etwas dagegen, wenn ich Kanter zur Unterstützung hole?“, fragte ich. Er zuckte gleichgültig mit den Schultern.

„Eigentlich ist das Wagners Aufgabe, aber wenn du lieber Kanter willst, okay. Ist deine Entscheidung.“

„Ich dachte nur, dass er nach dem Suizidversuch Beschäftigung braucht und ich kann ihn dann auch besser im Auge behalten.“

„Ja, gute Idee. Lass ihn nur nicht allein in der Bibliothek, nicht dass er etwas findet, womit er sich wieder die Pulsadern aufschneidet.“

Ich schluckte. Obwohl ich von dem Selbstmordversuch wusste, hatte ich mir keine Gedanken darüber gemacht, wie er es versucht hatte. Verletzungen hatte ich nicht gesehen, aber so genau hatte ich mir seine Arme auch nicht angesehen und als ich seinen Puls gefühlt hatte, war es fast dunkel gewesen.

Als wir ins Aquarium kamen, hatte Christian Rau schon wieder seinen Mörderkaffee gekocht und ich mischte das tödliche Gebräu zur Hälfte mit Milch und viel Zucker.

„Sicher, dass du nicht lieber Kakao trinkst?“, fragte Christian, während er angewidert meine Barista-Arbeit beobachtete.

„Kaffee ist okay, aber ich brauche meine Magenschleimhaut auch in den nächsten Jahren noch.“

Wir waren zu dritt in der Frühschicht, die von 6.00 bis 14.00 Uhr dauerte und mit der Frühstücksausgabe begann. Das Frühstück wurde von Häftlingen, die in der Anstaltsküche arbeiteten, ausgegeben. Mit Christian schloss ich eine Zelle nach der anderen auf, damit sich die Häftlinge ein Tablett mit ihrem Frühstück holten und mit in ihre Zelle nahmen. Als ich die Tür mit der Nummer sieben aufschloss, zitterte meine Hand zu meinem große Ärger und Unverständnis und es gelang mir nur mit Mühe, den Schlüssel umzudrehen. Als ich mit ärgerlichem Gesicht die Tür öffnete, stand Kanter direkt dahinter. Erschrocken wich ich zurück, auch Kanter trat einen Schritt nach hinten und hob beschwichtigend die Hände.

„Entschuldigung, ich wollte Sie nicht erschrecken, Frau Larsen.“

„Nein, war meine Schuld, ich war in Gedanken.“ Ich trat beiseite und er ging an mir vorbei, ohne mich anzusehen. Ich schaute ihm nach und mein Blick fiel automatisch auf seine Arme. Trotz des für heute angekündigten warmen Wetters trug er einen langärmligen blauen Anstaltspullover, von seinem Selbstmordversuch war nichts zu erkennen. Er machte nicht den Eindruck eines gebrochenen Mannes. Ich hatte ihn zwar erst einmal kurz lachen sehen, aber er hielt sich gerade und sprach mit fester Stimme, wenn er mal etwas sagte.

Der gesunde Eindruck lag sicher auch an seiner guten körperlichen Verfassung. Er hatte breite Schultern, eine schmale Taille und einen sehr knackigen… Bevor ich den Gedanken zu Ende führte, wandte ich mich schnell ab. Was dachte ich denn da!

Als ich zur nächsten Zelle kam, stand Christian schon an der geöffneten Zellentür.

„Träumst du? Bei deinem Tempo verhungern die Häftlinge ja.“

Ich verdrehte die Augen und lief zurück zur ersten Zelle, um wieder abzuschließen. Irgendwann würde mir von der ganzen Ab- und Aufschließerei noch der Arm abfallen.

Das Aufschließen der Zellen, damit die Männer ihre Frühstückstabletts zurückbrachten, überließ ich den Kollegen, stattdessen sah ich mich in der Bibliothek um.

Bibliothek war eine hochgegriffenen Bezeichnung für den zwanzig Quadratmeter großen Raum mit Regalen an drei Wänden und zwei Tischen mit Stühlen in der Mitte. Auf einem der Tische stand ein antiquierter Computer, der für die Erfassung und Verwaltung des Buchbestandes genutzt wurde. Die beiden Fenster waren wie überall in der Abteilung vergittert. Vor einem der Regale stapelten sich zehn Kartons mit gebrauchten Büchern. Eine Spende, die von mir Buch für Buch kontrolliert werden musste, bevor ein Häftling, Kanter, sie in der Datenbank erfassen, mit einem Code bekleben und in die Regale einräumte. Arbeit für mindestens eine, wenn nicht für zwei Wochen. Ich zwang mich zu einem Stöhnen, obwohl ich die Aussicht auf die Arbeit mit Kanter eigentlich erfreulich fand. Bevor ich den Raum wieder verließ, schaute ich in allen Ecken und Winkeln nach, ob etwas Scharfes, wie ein Nagel oder ein Glas herum lag, fand aber nichts Gefährliches.

„Fertig für einen Arbeitstag in der Bibliothek?“, fragte ich, als ich die Tür zu Zelle sieben öffnete. Kanter stand in der Mitte des acht Quadratmeter kleinen Raumes, der aufgrund seiner Körpergröße von über 1,90 m noch winziger wirkte und nickte. Er kam aus der Zelle, als ich die Tür abschloss, sah ich, dass er schmerzlich das Gesicht verzog.

„Kein schönes Geräusch, da haben Sie recht“, sagte ich, aber er reagierte nicht. Würde wohl ein schweigsamer Arbeitstag werden. Vielleicht redete Kanter ja nur nachts, aber für einen Vampir war er eindeutig nicht blass genug.

In der Bibliothek erklärte ich ihm, was wir zu tun hatten und er schaltete den Computer ein, der eine halbe Ewigkeit brauchte, bis die Programme luden. Als ich den ersten Karton auf den Tisch stellen wollte, nahm mir Kanter die schwere Kiste ab.

„Danke“, sagte ich, er nickte nur und setzte sich wieder an den Computer.

Die Bücher waren gut erhalten und ich blätterte jedes Einzelne durch, um sicher zu gehen, dass nichts zwischen den Seiten versteckt war. Dann legte ich sie neben den Computer, damit Kanter sie in der Datenbank erfasste.

„Sie kennen sich mit Computern gut aus. Womit haben Sie draußen ihr Geld verdient?“, versuchte ich, ein unverfängliches Gespräch zu beginnen, aber ich bekam keine Antwort.

„Das wird aber eine ganz schön langweilige Woche, wenn Sie nicht mit mir reden.“ Ich setzte mich auf die Tischkante neben die Bücher, die ich bei ihm aufgestapelt hatte.

„Dann hätten Sie jemand anderen bitten sollen, Ihnen zu helfen“, antwortete er, ohne aufzusehen.

„Sind Sie sauer, weil ich Sie Freitagnacht ständig geweckt habe?“

Jetzt sah er doch auf.

„Warum sollte ich deshalb sauer sein, Sie haben nur ihre Arbeit gemacht.“

„Größtenteils ja, aber ich hätte Sie nicht mitten in der Nacht mit Kaffee abfüllen müssen.“ Ich zuckte entschuldigend die Schultern und bemerkte, dass etwas von seiner Anspannung von ihm abzufallen schien.

„Ich fand das eigentlich nett von Ihnen“, antwortete er.

„Ja, ich auch. Ich meine, ich fand es nett, mit Ihnen zu reden.“ Gott, was sagte ich denn jetzt schon wieder! Schnell stand ich auf, um weitere Bücher durchzusehen und mein rotanlaufendes Gesicht zu verstecken. Als ich auch nach einigen Minuten noch immer kein Tastaturgeklapper hörte, sah ich zu Kanter hinüber, der mich nachdenklich betrachtete. Verunsichert schaute ich an mir hinunter. Hatte ich meine Uniformbluse falsch zugeknöpft?

„Was ist?“, fragte ich, als ich nichts Ungewöhnliches entdeckte.

„Sie sind anders, als die anderen Schließer“, sagte er schlicht.

„Hey, Schließer ist aber keine nette Bezeichnung. Ich nenne Sie ja auch nicht Knacki.“ Er zuckte bei meiner Bemerkung fast unmerklich zusammen und mir taten meine Worte sofort leid. Aber ich entschuldigte mich nicht dafür, das hätte lächerlich gewirkt.

„Warum meinen Sie, dass ich anders bin?“, fragte ich stattdessen.

„Sie sind die hartnäckigste Vollzugsbeamtin, die ich in den letzten zwei Jahren kennenlernen durfte“, antwortete er.

„Und ist das gut oder schlecht?“

„Weiß ich noch nicht.“ Er nahm ein Buch vom Stapel.

„Hat Ihnen schon mal jemand gesagt, dass sie ein wirklich anstrengender Gesprächspartner sind?“, fragte ich.

„In letzter Zeit nicht.“

„Ja, natürlich nicht. Sie sprechen ja mit keinem.“

„Ich spreche doch mit Ihnen.“

„Ja, das tun Sie“, sagte ich und lächelte ihn an, was ihn zu verunsichern schien, denn er starrte angestrengt auf das nächste Buch, ohne zu bemerken, dass es falsch herum lag.

„Warum reden Sie nicht mit den anderen Häftlingen?“, ich musste die Gelegenheit nutzen, gesprächig und verunsichert hatte ich Kanter noch nicht erlebt.

„Ich bin lieber für mich“, antwortete er, ohne aufzusehen. Als ich das Buch herum drehte, auf das er noch immer starrte, lächelte er bitter und sah dann mit seinen warmen braunen Augen direkt in meine.

„Ich habe diese Strafe verdient, wissen Sie? Und vier Jahre sind noch viel zu wenig.“

„Und deshalb sind Sie der Ansicht, Sie müssten sich zusätzlich mit Einsamkeit bestrafen, wenn Sie Ihr über Sie selbst verhängtes Todesurteil schon nicht vollstrecken konnten?“

Er hielt meinen Blick eine ganze Minute, dann tippte er weiter.

„Sie sollten dem Richter glauben, dass die Strafe, die er Ihnen gegeben hat, ausreichend ist. Sie müssen sich nicht zusätzlich selbst bestrafen.“

Er straffte seine Schultern und setzte sich kerzengerade hin, bevor er mich wieder ansah. Sein vorher so warmer Blick hatte jede Sanftheit verloren.

„Frau Larsen, ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie ihre sozialpädagogischen Zwangshandlungen und Ihr Gutmenschentum an jemand Anderem ausließen und jetzt bitte ich Sie, mich zurück in meine Zelle zu bringen. Ich fühle mich nicht wohl.“ Damit stand er auf und wartete neben der Tür.

Ich hatte es ja sowas von verbockt! Unprofessionell und dämlich. Nur weil ich einsam war und trotz allem den verdammten Marc vermisste, konnte ich doch nicht einfach fremden Menschen Gespräche aufdrängen! Vor allem nicht Häftlingen, die sich gegen meine Aufdringlichkeiten nicht wehren konnten.

Ich brachte Kanter zurück in seine Zelle.

„Wenn Sie sich morgen besser fühlen und weiter in der Bibliothek arbeiten möchten, sagen Sie es einem der Vollzugsbeamten von der Frühschicht, ich werde erst zur Mittagsschicht hier sein“, erklärte ich, als ich die Tür zu Zelle sieben aufschloss. Er ging hinein, blieb vor dem kleinen vergitterten Fenster stehen und schaute hinaus. Das war wohl die ganze Antwort, die ich von ihm erhalten würde, also schloss ich ihn in der Zelle ein und trottete zurück zum Aquarium.

Bevor ich an diesem Tag nach Hause fuhr, um mich mit einem Glas Wein und meiner liebsten Heul-Musik in die Badewanne zurückzuziehen, ging ich noch beim Hausmeister vorbei, um ihm einen Auftrag zu geben.

Lebendkontrolle

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