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Kapitel 5

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Nina

Schlecht gelaunt betrat ich das Aquarium kurz vor Schichtbeginn um 14.00 Uhr. Normalerweise tröstete mich meine Arbeit über mein nicht vorhandenes Privatleben hinweg, aber der gestrige Misserfolg hatte mir nicht mal das gelassen. Christian Rau packte gerade seine Sachen zusammen, um nach Hause zu fahren.

„Hallo Christian. Wer hat heute mit mir Dienst?“

„Der Chef“, sagte er und deutete auf einen der Beobachtungsmonitore, auf denen Tom zu sehen war. Christian hatte schon die Tasche in der Hand, als er sich nochmal an mich wandte.

„Ich soll dir von Kanter ausrichten, dass er gern weiter in der Bibliothek arbeiten möchte. Ich weiß ja nicht, wie du das gemacht hast, aber er scheint langsam aufzutauen.“

Perplex sah ich ihm nach, damit hatte ich nicht gerechnet und meine Laune hob sich sofort merklich.

„Hallo Lieblingskollegin. Was zaubert denn dieses liebenswerte Lächeln auf dein Gesicht? Ich hoffe, es ist die Tatsache, dass du heute mit mir arbeiten darfst“, sagte Tom grinsend und warf sich lässig auf einen Stuhl.

„Bilde dir bloß nichts ein. Das liegt nur am herrlichen Sonnenschein und der Tatsache, dass ich heute ausschlafen konnte.“ Tom Tellmann legte beide Hände auf sein Herz und spielte mir einen unglaubwürdigen Herzinfarkt vor, bevor er wieder breit grinste.

„Hast du schon nachgesehen, was Samstag im Kino läuft?“, fragte er. Ich schüttelte verneinend den Kopf.

„Ich sehe nach und sag es dir später, okay?“

„Ja. Ich geh dann mal wieder in die Bibliothek.“

„Du machst deine Arbeit wirklich gut, Nina. Bisher ist noch keiner an Kanter rangekommen und er scheint sich durch die Arbeit mit dir positiv zu entwickeln.“

„Danke. Es bedeutet mir viel, dass du das sagst.“ Und das tat es tatsächlich.

Schon als ich den Schlüssel in der Zellentür mit der Nummer sieben drehte, merkte ich, dass sich meine gestrige Bestechungsaktion per Schokoriegel bei unserem Hausmeister ausgezahlt hatte. Fast lautlos öffnete sich das Schloss. Diesmal erschrak ich nicht, als Kanter direkt hinter der Tür stand. So schnell würde ich mich nicht wieder von ihm aus der Fassung bringen lassen.

„Hallo, Herr Kanter, bereit für die Arbeit?“, fragte ich und trat beiseite, aber er machte keine Anstalten, die Zelle zu verlassen.

„Danke“, sagte er und wies auf das Schloss.

„Gern geschehen.“ Ich konnte das Strahlen nicht unterdrücken und nach einem Moment erwiderte er mein Lächeln.

„Können wir dann?“, fragte ich und er ging vor mir in Richtung Bibliothek.

Kanter schien heute guter Stimmung zu sein, vielleicht öffnete er sich mir ja noch etwas weiter.

„Und, worüber sollen wir uns heute unterhalten?“, fragte ich, um nicht wieder unbeabsichtigt ein heikles Thema anzuschneiden und setzte mich zu ihm an den Tisch.

„Ich beantworte Ihre Fragen, wenn Sie mir meine beantworten“, sagte er und lächelte. Der Anblick war so ungewohnt, dass ich ihn beinah nicht wiedererkannte.

„Einverstanden. Aber bevor Sie wieder sauer werden, wenn ich eine Frage stelle, die Ihnen nicht gefällt, sagen Sie passe. Okay?“ Er nickte und ich fuhr fort: „Erste Frage. Sind Sie ein Außerirdischer, der den Körper von Julian Kanter übernommen hat?“

Er grinste.

„Passe!“

„Oh, da hab ich jetzt aber wirklich Angst vor Ihnen. Los, Sie sind mit Fragen dran.“ Er lehnte sich auf dem Stuhl zurück.

„Sie wollen das wirklich durchziehen, so wie in Das Schweigen der Lämmer?“

„Gut, dann hab ich eben Angst vor Ihnen, weil Sie ein genialer Kannibale sind.“

„Ich dachte, ich bin der junge, gutaussehende FBI Agent und Sie die kannibalische Serienmörderin.“

„Natürlich, die Rolle passt gut zu mir, aber ich hoffe, Sie kommen nicht wegen meiner Ähnlichkeit mit Antony Hopkins auf diese Rollenverteilung.“

„Nein, ich denke, deshalb müssen Sie sich keine Sorgen machen.“

Ich nahm das erste Buch in die Hand und wartete, dass er eine Frage stellte, aber er blieb still. Dann würde ich eben anfangen.

„Warum haben Sie sich entschieden, weiter mit mir zu arbeiten?“ Es war riskant, gleich mit so einer tiefgehenden Frage anzufangen, aber seine gute Laune machte mich mutig.

„Das Schloss“, sagte er schlicht und ich musste erst einen Moment darüber nachdenken, bevor mir klar wurde, was er meinte.

„Das Geräusch hat Sie wirklich gestört, was?“

„Ich bin dran. Warum haben Sie mich ausgesucht?“, fragte er.

„Ich mag Herausforderungen und ich denke, Sie sind eine von den ganz Großen, Herr Kanter.“

„Julian“, sagte er und blickte direkt in meine Augen.

„Ich weiß nicht, ob das gut ist. Wäre nicht sehr professionell.“

„Nur während wir FBI Agent und Serienmörderin sind. Bitte.“

Scheiß auf die Professionalität, dachte ich mir.

„Also gut, Agent Julian.“

„Ich kenne nicht mal Ihren Vornamen“, sagte er und ein dunkler Schatten legte sich über seine Augen.

„Nina, mein Name ist Nina.“

„Dr. Nina Lecter, es ist mir eine Freude, Sie kennen zu lernen.“ So schnell der Schatten aufgezogen war, so schnell war er wieder verschwunden.

„Warum sind Sie ins Saarland gekommen, Nina?“

„Wegen des Jobs. Warum reden Sie mit niemandem?“

„Weil ich nichts zu sagen habe.“

Ich sah ihn abschätzend an.

„Ich verstehe schon. Also fange ich mit meiner Antwort nochmal von vorn an.“

Julian nickte und lächelte. Er würde mich nicht mit oberflächlichen Antworten davonkommen lassen, wenn ich Tiefgründiges von ihm erwartete.

„Als meine Eltern vor drei Jahren bei einem Autounfall ums Leben kamen, hat mich das ziemlich aus der Bahn geworfen. Statt wie geplant meinen Master in Sozialpädagogik zu machen, hab ich eine Ausbildung zur Justizvollzugsbeamtin gemacht und da es nach der Ausbildung keine Stelle in der Nähe gab, hab ich meine Zelte im Ruhrgebiet komplett abgebrochen und bin her gezogen. Also, Julian, warum reden Sie mit niemandem?“

Er sah mich ernst an und nickte. Für meine Offenheit würde ich eine ehrliche Antwort von ihm erhalten, aber es fiel ihm offensichtlich schwer, diese in Worte zu fassen.

„Weil ich die Ablenkung nicht verdiene.“

„Das verstehe ich nicht.“

Er presste die Kiefer so fest zusammen, dass man das Spiel der Wangenmuskeln sah, als er mich anblickte.

„Sie wissen wirklich nicht, was ich getan habe“, stellte er leise fest.

„Ich möchte es nur wissen, wenn Sie es mir erzählen.“

Er schüttelte den Kopf.

„Ist schon in Ordnung. Wir müssen nicht darüber reden, aber ich bin da, wenn Sie sich eines Tages anders entscheiden.“

Er sah auf seine Hand und erst jetzt merkte ich, dass ich meine daraufgelegt hatte. Ich wollte sie zurückziehen, aber er drehte seine schnell um und hielt mich fest. Vorsichtig strich er mit dem Daumen über meinen Handrücken.

„Es ist mir egal, was Sie getan haben. Ich freue mich, dass Sie überhaupt mit mir reden, es müssen nicht gleich die ganz schweren Themen sein“, sagte ich.

„Es ist schön, mit Ihnen zu sprechen. Sie sind etwas Besonderes, Nina.“ Als er mich ansah, flogen tausend Schmetterlinge in meinem Bauch auf und ich zog erschrocken die Hand zurück. Was tat ich denn da? Ich musste dringend hier raus. Fahrig stand ich auf.

„Ich denke, wir sollten eine kleine Pause machen. Ich hole uns einen Kaffee.“

Bevor er antwortete, war ich schon aus dem Raum geflohen und den halben Gang zu den Waschräumen hinunter. Als mir einfiel, dass ich vergessen hatte abzuschließen, lief ich schnell zurück und holte das nach. Dann flüchtete ich in die Damentoilette.

Aus dem Spiegel blickte mir eine Frau mit großen, erschrockenen Augen und geröteten Wangen entgegen.

„Scheiße, bin ich echt so verzweifelt, dass ich schon Häftlinge anmache?“, flüsterte ich und wusch mein Gesicht mit kaltem Wasser. Lange konnte ich nicht fortbleiben, ich durfte Julian nicht allein in der Bücherei lassen, schließlich waren noch nicht alle Kartons kontrolliert und es konnte sonst was rumliegen.

So, wie sich Julian verhielt, war die Suizidgefahr keinesfalls gebannt und ich machte das Ganze mit meinem pubertären Verhalten nur noch schlimmer. Wie konnte ich nur mit einem Gefangenen Händchen halten? Und ihm war dabei nicht der geringste Vorwurf zu machen, schließlich hatte ich damit angefangen.

Als ich mich einigermaßen gefangen hatte, ging ich zurück zur Bibliothek. Julian hatte sich keinen Millimeter bewegt, seit ich den Raum verlassen hatte. Er lächelte wissend und sah auf meine leeren Hände. Mist, den Kaffee hatte ich vergessen. Ich drehte mich um und wollte den Raum wieder verlassen, aber er war mit drei Schritten bei mir und hielt mich am Arm zurück. Gequält sah ich ihn an.

„Es ist alles okay. Sie müssen keine Angst haben, dass ich etwas in Ihr Verhalten hinein interpretiere, was nicht da ist. Ich bin ein Häftling und Sie tun ihren Job, indem Sie sich mit mir beschäftigen.“

Ich wollte ihm widersprechen, ihm sagen, dass er für mich mehr als irgendein Gefangener sei, er sollte sich nicht wie eine Nummer fühlte, aber er bot mir einen so einfachen Ausweg aus meiner Misere, dass ich nicht widerstand.

„Ja, interpretieren wir nichts hinein. Vielleicht arbeiten wir einfach noch etwas weiter, sonst werden wir mit dem Bücherberg niemals fertig“, sagte ich feige.

In den nächsten zwei Stunden arbeiteten wir schweigend. Ich hatte bereits drei Kartons kontrolliert und auch Julian kam mit der Erfassung in der Datenbank gut voran. Nur langsam ließ meine Spannung nach und ich warf immer wieder verstohlene Blicke auf den Mann am Computer. Julian sah kaum von seiner Arbeit auf.

Als die Tür geöffnet wurde, war ich von dem plötzlichen Geräusch so überrascht, dass ich erschrocken zusammenfuhr. Tom kam in die Bibliothek und grinste mich an.

„Kann ich dich mal kurz sprechen?“ Ich nickte und folgte ihm auf den Flur, die Tür ließ ich einen Spalt offen.

„Wie läuft es mit ihm?“, fragte Tom.

„Oh, gut. Wir kommen voran.“

„Ja, du machst das wirklich toll, hab ich dir ja schon gesagt. Ich hab mir das Kinoprogramm angesehen. Es läuft Ein ganzes halbes Jahr und so ein Action-Streifen. Ich dachte, du möchtest den schmalzigen Frauenfilm sehen.“

„Nett von dir, dass du dich opfern willst, aber Action ist mir lieber.“

„Ja, Dramen haben wir hier ja genug.“ Er sah auf die Tür zur Bibliothek, aber ich konnte seinen Blick nicht deuten.

„Wann läuft der Film?“, fragte ich.

„Um acht Uhr geht es los. Möchtest du vorher etwas mit mir essen gehen?“

„Oh, das hört sich aber schwer nach einem Date an. Ich dachte, wir gehen nur als Kollegen ins Kino.“

„Auch Kollegen müssen essen, aber wenn du nur ins Kino willst, hole ich dich um halb acht ab. Du wohnst doch in der Innenstadt?“

„Ja, in dem Apartmenthaus an den Kasematten. Nummer sieben. Kannst du dir das merken, oder soll ich dir die Adresse aufschreiben. Sieben wie die Zellennummer von Kanter.“

Tom sah mich mit erhobenen Augenbrauen an.

„Danke für die Eselsbrücke, das kann ich mir merken.“

„Okay, ich gehe dann mal wieder rein und arbeite weiter.“

Ich schloss die Tür der Bibliothek hinter mir und lehnte ich mich erleichtert dagegen. Als ich aufsah und in Julians undurchsichtiges Gesicht blickte, zuckte ich zusammen. Ich war so froh, Tom loszuwerden, bevor er mir meinen aufgewühlten Zustand anmerkte, dass ich vergessen hatte, dass ich nicht allein war.

„Ein Date mit dem Boss. Sie verstoßen wohl gern gegen die Regeln, Frau Larsen.“

„Das ist kein Date“, beteuerte ich, aber wem wollte ich etwas vormachen? „Halt die Klappe, Julian und hau in die Tasten“, sagte ich und schnappte mir das nächste Buch.

Das Klappern der Tastatur mischte sich mit seinem leisen Lachen, aber ich sah nicht rüber. Ich würde ganz bestimmt nicht mein verkorkstes Liebesleben mit einem Häftling diskutieren!

Lebendkontrolle

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