Читать книгу Der tote Rottweiler - Heike Brandt - Страница 10

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Bobi fährt mit dem Fahrrad. Er weiß genau, wo der Schrebergarten von Natalie ist. In derselben Siedlung hatten seine Großeltern früher auch ein Grundstück. Nachdem sie das Restaurant aufgemacht hatten, konnten sie den Garten allerdings nicht mehr so pflegen, wie die Gartenordnung es verlangte, und gaben den „Strebergarten“ auf, wie Abuelo Victor ihre Parzelle nannte. Bobi ist sich nicht sicher, ob das an seinem schlechten Deutsch lag oder ob er das Wort mit Absicht gewählt hatte. Als Bobi jetzt auf den Weg zur Gartenanlage Unsere Scholle einbiegt, denkt er, es wird wohl Absicht gewesen sein.

Das Gelände ist von einem hohen Zaun umgeben. Neben dem Eingang hängt ein Schild mit der Gartenordnung. Alle Gärten sind einheitlich groß und erstklassig gepflegt. Pro Grundstück gibt es einen oder zwei Bäume, Hecken und Beete mit Nutzpflanzen oder Blumen, die ordentlich in Reih und Glied stehen, kein fremdes Kraut dazwischen. Die kleinen Rasenflächen sind sorgfältig gemäht, die Wege geharkt, die Zäune dazwischen in Schuss. Doch, Strebergarten passt, denkt Bobi, als er auf die Parzelle von Natalie zuradelt. Zwei Fahrräder lehnen schon am Zaun, Manuels Moped steht daneben.

Alle pünktlich da.

Natalie führt die drei in ihrem Garten herum, auch der ist recht gepflegt, allerdings wächst hier mehr durcheinander als in anderen Gärten.

„Wir stellen die Pflanzen so zusammen“, sagt Natalie, „dass Schädlinge abgehalten werden, ohne Chemie. Meine Mutter macht eine richtige Wissenschaft daraus“, lacht sie. „Aber es klappt! Könnt alles unbesorgt essen.“

Amal bückt sich und zupft was aus einem Beet, das Bobi für Unkraut hält. Aber dann sieht er, dass eine Möhre dranhängt.

„Meine Oma hat auch einen Garten“, sagt Amal, wischt die Erde von der Möhre und beißt rein. Als sie Bobis neugierigen Blick sieht, hält sie ihm die Möhre hin:

„Abbeißen?“

Ehe er sich versieht, hat er genickt und zugegriffen. Eigentlich mag er Möhren nicht besonders, aber Amals Lächeln ist stärker. Er beißt ab, kaut und verzieht das Gesicht. Zwischen seinen Zähnen knirscht Erde.

„Na ja“, lacht Amal, als sie es bemerkt. „Naturkost!“

Und Bobi lacht auch.

Unter dem Apfelbaum liegen ein paar grüne Äpfel, die Natalie aufsammelt und auf den Holztisch vor der Hütte legt. „Den Tisch hat mein Vati selbst gebaut“, sagt Natalie und packt das Filmequipment aus, „die Hütte auch.“

Da es ein bisschen windig ist, montiert sie einen Windkorb ans Mikrofon. Bobi prüft derweil das Licht. Am blauen Himmel stehen ein paar Wolken, also wählt er einen Schattenplatz neben der Hütte, damit die Lichtunterschiede nicht so groß sind, wenn die Sonne mal hinter einer Wolke verschwindet. An der hölzernen Hüttenwand ist auch der Hintergrund einigermaßen ruhig, deshalb stellt er den Stuhl, den Natalie aus der Hütte holt, dort hin und überlegt dabei schon, welche Bilder er für Zwischenschnitte aufnehmen könnte.

Manuel und Amal schauen den beiden fasziniert, aber auch ein bisschen irritiert zu, weil sie nicht so recht wissen, was sie tun sollen.

Natalie montiert das Mikro mit dem Windkorb an die Angel und schlägt vor, dass alle Fragen aus dem Off kommen sollen. Bobi nickt und schraubt die Kamera aufs Stativ.

„Was?“, fragt Manuel.

„Na ja, wer dran ist, setzt sich auf den Stuhl, und wer eine Frage hat, hebt den Finger, und ich halte das Mikro hin und los geht‘s. Ganz einfach.“

„Ja“, sagt Bobi. „Dann muss ich nicht immer mit der Kamera hin und her.“

„Aber ey, wenn wir nun stottern oder Scheiße reden? Mann, ich bin noch nie interviewt worden“, sagt Manuel, der sich nervös eine Zigarette anzündet. Inzwischen ist ihm die Sache etwas unheimlich.

„Das wird doch hinterher montiert“, beruhigt ihn Bobi. „Alles kann wieder rausgeschnitten werden. Und wenn du dich verhaust, hörst du einfach auf und fängst noch mal von vorne an. Ich mach ein paar Bilder von der Umgebung, die können wir dazwischen packen, dann gibt’s keine Sprünge.“

„Außerdem ist das doch erst mal nur für uns“, sagt Natalie leicht gereizt, weil sie endlich loslegen will. „Ob wir davon was für die Präsentation benutzen, wissen wir noch gar nicht. So ein Film entsteht doch erst im Schnitt.“

„Natalie! Du weißt, wie das geht, aber wir doch nicht!“, versucht Amal zu vermitteln. „Also: Wir setzen uns auf den Stuhl, sagen, wer wir sind, warum wir das Projekt machen wollen und so, ja?“

„Genau“, sagt Bobi lächelnd. „Genau so. Und wer fragen will, hebt die Hand und fragt.“

Seine Kamera steht, er kennt seine Aufgabe und freut sich auf die Interviews.

„Können wir?“

Manuel nickt, Amal nickt. Natalie stülpt sich die Kopfhörer über, Bobi stellt sich hinter die Kamera und fragt, wer anfangen will. In dem Moment stellt der Nachbar seinen Rasenmäher an. Alles auf Stopp. Aber noch ehe sie sich richtig ärgern können, ist es schon wieder vorbei. Natalie meint trocken:

„Die sind echt wie Wunderkerzen: Anstecken, abbrennen, fertig“, und setzt ihre Kopfhörer wieder auf.

Aber es ist noch nicht vorbei, der Nachbar auf der anderen Seite muss erst von Natalie begrüßt werden und danach dringend drei Hölzer schreddern, so dass sie wieder warten. Genau wie die Kinder am Zaun, die neugierig zur Kamera rübergucken und denken, das Fernsehen wäre da. Zum Glück sind die Kinder weit genug weg und werden gehen, wenn’s langweilig wird. Und das wird es sicher bald, denn vom Zaun aus können sie nichts hören, auch nicht, als der Schredderer endlich fertig ist.

Manuel will anfangen, damit er es schnell hinter sich hat. Er drückt seine Zigarette im Aschenbecher aus, setzt sich breitbeinig auf den Stuhl und fährt sich mit beiden Händen durch die halblangen, rötlichbraunen Haare. Er benetzt die Lippen mit der Zunge, beißt sich auf die Unterlippe, kneift seine blitzblauen Augen zu und reißt sie auf, sagt aber nichts, bringt keinen Ton heraus.

„Hallo?“, sagt Natalie und schwenkt das Mikro vor ihm hin und her. „Kann losgehen!“

Amal hebt die Hand, Natalie schwenkt das Mikro zu ihr, und Amal sagt:

„Manuel, du kannst das! Erzähl doch erst mal was von dir, so wollten wir doch anfangen.“

Erwartungsvolles Schweigen.

Endlich macht Manuel den Mund auf, bringt aber nur ein wütendes: „Scheiße, nein, kann ich nicht“, heraus und springt auf.

„Mach du erst mal, Amal.“

„Gut.“

Amal nimmt seinen Platz ein, ruckelt sich zurecht, bis sie bequem sitzt, und legt die Hände auf dem Schoß zusammen. Bobi betrachtet sie im Display seiner Kamera und bemerkt verblüfft, dass ihm noch nie aufgefallen ist, wie rund alles an ihr ist, der Kopf, das Gesicht, das Grübchen in der linken Wange, der Leberfleck unter dem linken Auge, die Nase, das Kinn, die Fingerkuppen. Nur ihre Haare, die sind borstig und kurz. Eigenartiger Gegensatz. Ihre Haut ist ockerfarben, die Haare sind blauschwarz, die Augen rabenschwarz, die dunklen Wimpern ewig lang und seidig. Die Augenbrauen sehen aus wie mit Kohle gezeichnet. Bobi sorgt dafür, dass ihr Grübchen gut ins Bild kommt, wenn es sich zeigt. Denn das gefällt ihm so gut, dass er sich glatt reinfallen lassen könnte.

„Also“, fängt Amal an, ihre Stimme ist leise aber fest. „Ich heiße Amal, bin sechzehn Jahre alt und gehe in die zehnte Klasse. Ich will Industriekauffrau werden, weil … keine Ahnung, wahrscheinlich, weil ich schon einen Ausbildungsplatz hab. Genau. Und, das ist total cool, weil ich … dann kann ich Geld verdienen …, weil, egal. Bloß … also ich …“

Sie zögert, hält inne, streicht sich mit der Hand über den Kopf, will weiterreden, unterbricht sich aber selbst mit einem energischen:

„Egal.“

Bevor jemand nachfragen kann, spricht sie schnell weiter:

„Genau. Also der Beruf, den ich will, der muss was mit Zahlen zu tun haben. Zahlen mag ich. Zahlen sind so klar, so eindeutig, da kann man nix dran drehen. Mit Zahlen kann man viel ausdrücken, und manchmal geht das schneller als mit Worten. Zahlen sind überall und für alle gleich. Zehn ist zehn ist zehn. Klar, zehn kann viel sein oder auch wenig, je nachdem, wofür die Zehn steht. Das muss man natürlich definieren. Bilder und Wörter kann man immer so oder so sehen, Zahlen nicht. Zahlen sind verlässlich. Ich glaube, verlässlich sein ist für mich was ganz Wichtiges.“

Sie lächelt verlegen. Sie sieht dabei aber nicht unsicher aus, findet Bobi, sondern tatsächlich: verlässlich.

„Na ja. Und das mit dem Projekt, also ich … ich bin wegen Krieg hier. Meine Eltern kommen aus Jugoslawien, also so hieß das früher, das gibt‘s ja nicht mehr. Meine Mama ist Bosniakerin, mein Papa Serbe, die Familie von meiner Mama muslimisch, die von meinem Papa serbisch-orthodox. War aber meinen Eltern egal, denn die sind nicht religiös, beide nicht, die waren nie in der Moschee oder in der Kirche, mein Papa ist nicht mal getauft. Aber dann kam der Krieg und Jugoslawien ging kaputt, oder Jugoslawien ging kaputt und der Krieg kam, keine Ahnung, jedenfalls war’s auf einmal wichtig, wer Serbe war oder Bosniake oder Kroate oder Muslim oder orthodox oder katholisch oder was weiß ich.“

Sie schiebt die Hände unter die Beine und guckt auf den Boden, so dass ihr Gesicht nicht mehr zu sehen ist. Bobi will gerade mit den Fingern schnipsen, da blickt sie schon wieder hoch und redet weiter. Jetzt sehr ernst. Ihre dunklen Augen schimmern. Ihre Stimme wird leiser, Natalie verstellt was an ihrem Aufnahmegerät.

„Alles wurde anders. Viel weiß ich nicht, weil … meine Eltern reden nicht darüber. Papa wollte nicht Soldat sein, wollte nicht auf seine Verwandten und Freunde schießen, bloß weil die auf einmal Feinde sein sollten. Er ist erst untergetaucht und dann abgehauen, nach Deutschland, zu Verwandten. Hat Asyl gekriegt, war aber schwer. Mama war schwanger mit meinem Bruder und ist später nachgekommen, mit dem Baby, das muss schlimm gewesen sein, aber auch sie redet nicht. Wenn ich sie frage, lacht sie und nimmt mich in die Arme und sagt: ‚Das ist vorbei, Kind, wir leben, und wir leben gut, und wir haben noch dich dazubekommen, mein Herzblatt, was wollen wir mehr?‘ Aber ich weiß, dass hinter ihrem Lachen eine Trauer wohnt. Ihr Papa ist getötet worden, damals, und ihr Bruder auch. Viele sind erschossen worden, ganz viele. Zum Glück lebt ihre Mama noch, und wir können sie in den Ferien besuchen, im Dorf. Jetzt ist ja kein Krieg mehr.“

Sie atmet einmal tief durch. Niemand sagt etwas. Das müssen sie erst mal verdauen. In der Schule hat Amal noch nie darüber gesprochen. Bobi stellt fest, dass er eigentlich sehr wenig von den anderen weiß. Dabei hocken sie jeden Tag viele Stunden im selben Raum, seit Jahren schon. Merkwürdig.

Natalie hebt die Hand, hält sich das Mikro vors Gesicht und fragt:

„Erzählt deine Oma dir was?“

„Ja, aber nur von früher, von vor dem Krieg. Vom Krieg selber nicht. Sie sagt, das will ich gar nicht hören. Und sie will es vergessen.“

„Ist vielleicht besser“, murmelt Manuel und steckt sich eine neue Zigarette an.

„Ich weiß nicht“, meint Amal. „Wenn alle immer schweigen, ändert sich doch nix. Dann fängt alles immer wieder von vorne an.“

Sie zieht die Stirn kraus.

„Jedenfalls will ich deswegen bei dem Projekt mitmachen. Wenn die Waffen nicht gewesen wären, wäre das vielleicht alles nicht passiert, oder? Das will ich rauskriegen. So, das reicht – wer will jetzt?“

Sie steht vom Stuhl auf, nimmt sich einen Apfel vom Tisch und schnuppert daran, bevor sie reinbeißt. Das Apfelgrün passt gut zu ihrem Gesicht, stellt Bobi fest.

„Schön“, sagt Natalie und drehte an ihren Knöpfen. „Manuel? Du jetzt? Oder du, Bobi?“

„Okay, ich probier’s“, sagt Manuel.

Er pflanzt sich auf den Stuhl, legt den Kopf zur Seite, wirft die Haare aus dem Gesicht, räuspert sich dreimal, lässt alle Finger einzeln knacken, schlägt ein Bein übers andere, lässt sich im Stuhl so tief runterrutschen, dass sein Gesicht aus dem Display zu verschwinden droht. Aber dann kriegt er sich ein, stellt die Füße nebeneinander, richtet sich auf, guckt in die Kamera und legt los:

„Ich heiße Manuel, bin sechzehn Jahre alt, gehe in die zehnte Klasse Realschule. Schule find ich blöd, aber ohne Abitur kann man nix werden, das hab ich jetzt kapiert, und deswegen will ich‘s aufs Gymnasium schaffen.“

Er kneift die Augen zusammen.

„Auch wenn alle ‚Streber‘ sagen. Is mir egal. Ich will Tierarzt werden. Erstens, weil ich das mag, so mit Tieren was machen. Ich finde das total geil, wenn ich es schaffe, einem Riesenköter einen Dorn aus der Pfote zu pulen, und der frisst mich nicht auf.“

Er grinst. Seine anfängliche Scheu ist verflogen.

„Hab ich neulich gemacht. Echt, das war voll geil! Meine Mutter, die arbeitet beim Tierarzt als Sprechstundenhilfe, und ich jobbe da manchmal, Moped abstottern. Ich möchte alles machen, was der Tierarzt macht, also operieren und so, das stelle ich mir total cool vor. Und zweitens: Ich will später mehr haben als die paar Mäuse, die meine Mutter verdient – also, verdient, das ist echt ein blödes Wort, verdient hat sie bestimmt mehr. Ihr Lohn reicht gerade so für sie und mich, kleine Wohnung, kleines Auto, kleines Leben. Ihr Chef aber, der streicht jede Menge Kohle ein, großes Auto, großes Haus, Karibikurlaub. Ihr glaubt gar nicht, wie viel Geld die Leute für Haustiere ausgeben. Ich will Kohle machen. Glasklare Sache. Ja.“

Er räuspert sich.

„Und dein Vater?“, fragt Natalie.

„Äh, mein Vater?“

Manuel streicht sich die Haare aus dem Gesicht.

„Na ja, was soll ich sagen. Ich hab keinen.“

Er lacht auf.

„Mich hat der Storch gebracht, hat mir meine Oma immer erzählt. Weil meine Mutter so gerne einen kleinen Jungen wollte und sich extra einen mit himmelblauen Augen bestellt hat.“

Doofe Geschichte, denkt Bobi. Totale Verarsche.

„Also, keine Ahnung, wer mein Vater ist. Aber ich brauche keinen, ich versteh mich echt gut mit meiner Mutter. Die lässt mich machen und stresst überhaupt nicht. Da muss ich sie nicht mit blöden Fragen stressen.“

Er blickt Natalie scharf an.

„Okay, sorry“, sagt Natalie und hebt eine Hand.

„Na ja, und was das Thema betrifft. Ich denk darüber nach, warum Leute andere erschießen, aber jetzt nicht im Krieg, sondern im Frieden. Polizisten, Gangs, Amokschützen, sowas. Weil, mein Cousin, in dem seiner Schule war so’n Amokschütze gewesen, und mein Cousin, der hat das alles voll mitgekriegt, 14 war der da. Voll krass, was der mir erzählt hat, echt voll krass.“

Er macht eine Pause und fügt dann hinzu:

„Ey, dem sein bester Freund ist erschossen worden, einfach so, weil dieser Arsch die Knarre von seinem Papa klauen konnte. Das geht doch gar nicht! Mein Cousin, der war zwar nicht verletzt, also am Körper, aber den lässt das nicht mehr los, auch wenn’s schon lange her ist. Er hat immer noch Alpträume. Bloß weil der Typ so ´ne Scheißknarre hatte.“

Er schweigt, kneift die Lippen zusammen und macht kurz die Augen zu.

„Eh, der kann noch nicht mal einen Film sehen, in dem geschossen wird. Kriegt er Panikattacken!“, sagt er dann noch.

Die anderen rühren sich nicht. So was erlebt haben sie noch nicht, aber an ihrer Schule gibt es in regelmäßigen Abständen Amokalarm – als Übung. Mit Sirene und in Deckung gehen und allem, was dazugehört. Gruselig. Weil’s so unwirklich ist, und gleichzeitig irgendwie nah dran. Passiert ja auch in echt.

Nach einem Moment steht Manuel auf, winkt Natalie zu und sagt wieder so locker wie sonst:

„Jetzt du. Ich nehm deine Angel und fisch dir die Worte aus dem Mund.“

Natalie lächelt und drückt ihm den Stab in die Hand, zeigt ihm, wie er ihn halten soll, und hängt ihm das Aufnahmegerät um.

Dann nimmt sie auf dem Stuhl Platz. Schlägt die Beine übereinander, winkelt die Arme an, faltet die Hände im Schoß. Lange, feine Finger. Die blonden Haare frisch gestylt, bürstenkurz auf der einen Seite, schulterlang auf der anderen. Das Gesicht rosa-rosig, die Nase platt, als hätte einer mit dem Finger draufgedrückt. Sie schminkt sich nicht, dennoch sind ihre Lippen knallrot.

„Ich heiße Natalie, bin sechzehn Jahre alt und gehe in die zehnte Klasse Realschule. Meine Eltern haben in der DDR gelebt, in Thüringen, aber nach der Wende hat ihr Betrieb dichtgemacht. Arbeit futsch, alles futsch. Da haben sie rübergemacht, hierher. Hier im Werk gab’s Arbeit, meine Mutti hat in der Kantine angefangen, mein Vati als Lagerarbeiter. Vati ist inzwischen Pförtner, Mutti schafft immer noch in der Kantine.“

Sie legt den Kopf in den Nacken und streicht sich mit der Hand über den Hals, bevor sie fortfährt:

„Irgendwie stimmt das schon, was Patrick gesagt hat. Ich meine, dass wir hier alle von der Waffenherstellung leben, ich doch auch. Und nicht schlecht. Das hatte ich so noch gar nicht gesehen.“

Sie guckt direkt in die Kamera.

„Muss ich drüber nachdenken. Ja.“

Und schweigt.

Bobi schwenkt die Kamera zu Amal, weil sie so angespannt guckt, und fängt ein gedankenverlorenes Nicken ein.

Manuel sagt:

„Später. Mach erst mal weiter.“

Bobi richtet die Kamera wieder auf Natalie.

„Äh, ja. Also. Ich habe eine große Schwester, die lebt in Stuttgart und arbeitet als Erzieherin. Sie hat ein Kind gekriegt, und dann hat sie gesagt, na, dann kann sie ja gleich lernen, wie das geht. Finde ich gut, aber ich will erst mal keine Kinder, ich will eine Ausbildung als Gärtnerin machen oder auf einem Bio-Bauernhof Landwirtschaft lernen, irgend sowas, ich will auf alle Fälle was mit Natur machen und draußen arbeiten. Und das Projekt will ich nicht nur wegen Krieg machen, das auch, klar, aber das mit der Natur finde ich auch wichtig. Ich finde, die Menschen haben nicht das Recht, die Umwelt zu zerstören, nur damit sie bequemer leben können und immer reicher werden. Ich finde, Tiere und Pflanzen haben auch ein Recht zu leben. Ich möchte im Einklang mit der Natur sein.“

Amal hebt die Hand, und Manuel schwenkt die Angel zu ihr.

„Okay, verstehe ich“, sagt sie. „Aber was hat das mit Frieden schaffen ohne Waffen zu tun?“

Natalie legt die Finger übereinander, so dass sie ein Zelt bilden, und drückt sie gegeneinander.

„Also, ich finde, Frieden und Waffen, das ist ein totaler Widerspruch. Und als ich den Satz Frieden schaffen ohne Waffen gelesen hab, dachte ich, genau das ist es, so muss das sein, Waffen müssen weg. Meine Schwester sagt immer, man kann nicht Kinder schlagen, damit sie anständige Menschen werden. Ist doch richtig, oder?“

Sie hält einen Moment inne, blickt allen ins Gesicht, als erwarte sie Zustimmung. Und es nicken auch alle, selbst Bobi hinter der Kamera. Sie fährt fort:

„Und ja, mit der Natur, da ist das auch so. Wenn man die schützen will, darf man das nicht mit Gewalt tun. Ich will Frieden mit der Natur. Und keinen Krieg. Aber genau das machen Jäger mit ihren Waffen.“

Ihre blaugrünen Augen blitzen zornig, sie gerät immer mehr in Fahrt, spricht schnell und hektisch.

„Ich glaub, Jäger sind sowas wie Soldaten. Ich hab mir mal eine Website für Jagdwaffen angeguckt, und da sieht man ganz genau, dass Jagd irgendwie dasselbe ist wie Krieg: Jäger wollen den Feind – sie sagen, das Wild – aufspüren, töten; sie wollen sich beweisen, stärker sein, Herr über Leben und Tod sein – so was eben. Müsst ihr mal gucken. Widerlich ist das, so … so … großkotzig! Also ich bin gegen Krieg, gegen die Jagd, ich bin gegen Waffen. Ich finde, das hängt irgendwie zusammen. Krieg abschaffen ist schwer. Aber vielleicht kann man ja mit der Jagd anfangen? Keine Ahnung, wie man das durchsetzen kann. Da hängt so viel dran. Ist echt ein Riesending.“

Sie legt die Hände an die Wangen, die sich rot gefärbt haben, und guckt für einen Moment ganz verloren. Dann steht sie auf, nimmt Manuel die Angel ab und nickt Bobi zu. Er ist dran.

Schon puckert sein Herz wie wild, und er bekommt Schwitzefinger. Hinter der Kamera ist deutlich entspannter als vor der Kamera, schießt ihm durch den Kopf. Jetzt chill mal, sagt er sich, hören dir doch nur drei Leute aus deiner Klasse zu, und die haben gerade selber was erzählt. Er holt tief Luft, guckt noch mal aufs Display der Kamera, prüft, ob sie richtig ausgerichtet ist, drückt auf den Auslöser und setzt sich auf den Stuhl.

Bobi ist nicht besonders groß und ziemlich dünn, er selbst findet sich ein bisschen mickrig. Er hat dunkle Augen, eine unauffällige Nase, zwei kleine Pickel direkt daneben, seine Haut ist eher blass, das Haar dunkelbraun, lockig und so fest, dass seine Mutter Drahtwolle dazu sagt. Zu Bobis großem Bedauern hat er diese Wolle nicht nur auf dem Kopf, sondern fast überall auf dem Körper. Im Gesicht, auf der Brust, den Beinen, den Armen, auf dem Rücken, sogar auf dem Po. Seit ihm diese Haare mit zwölf, dreizehn gewachsen sind, hadert er damit. Er wollte sich das Zeug abrasieren, aber Xabier hat ihm dringend davon abgeraten:

„Mach das bloß nicht! Dann kriegst du überall Stoppeln! Gewöhn dich dran, es gibt Schlimmeres.“

Als Bobi vor der Kamera sitzt, versteht er sofort, warum Manuel erst gar nichts rausgebracht hat. Wahrscheinlich war dem auch einfach die Spucke weggeblieben so wie ihm jetzt. Sein Mund ist wie ausgetrocknet. Bobi schluckt, fährt mit der Zunge über die Lippen, zappelt wie früher in der Schule, wenn er sich nicht konzentrieren konnte. Dann fällt sein Blick auf Amal. Die lächelt ihn so aufmunternd an, dass er denkt, okay, ihr erzähl ich das. Und auf einmal ist die Spucke wieder da, und die Beine halten still.

„Also, ich bin Bobi. Eigentlich heiße ich Borislav, aber da, wo meine Eltern mich geholt haben, haben alle Bobi zu mir gesagt, und dabei ist es dann …“

„Wie, deine Eltern haben dich geholt?“, fragt Amal, ohne den Finger gehoben zu haben. „Hat dich auch der Storch gebracht?“

In ihrer Wange kringelt sich das Grübchen wie ein kleiner Strudel.

„Nö, das nicht. Aber meine Eltern haben mich adoptiert, als ich vier war. Aus einem Kinderheim in Bulgarien. Weil sie selber keine Kinder kriegen konnten. Im Waisenheim haben sie uns immer gesagt, eines Tages kommen eure Eltern und holen euch. Und für mich waren das dann Sofia und Xabier.“

„Wie – dann bist du Bulgare? Hast du bulgarisch gesprochen? Kannst du das immer noch?“, fragt Manuel erstaunt.

„Ach was. Ich bin Bobi, weiter nix. Bulgarisch hab ich vergessen, Sofia und Xabier haben Spanisch mit mir gesprochen, im Kindergarten hab ich Deutsch gelernt.“

„Weißt du was von deinen richtigen Eltern?“, fragt Manuel.

Er hat schon zum zweiten Mal den Finger nicht gehoben, und Natalie kommt mit dem Schwenken kaum hinterher.

„Ich weiß nix mehr, kann mich auch nicht mehr an das Heim erinnern. Ich bin total happy mit Xabier und Sofia.“

„Aber du hast doch zwei kleine Geschwister, oder?“, fragt Amal nach. „Haben deine Eltern doch noch Kinder gekriegt?“

„Nö, das sind Pflegekinder. Der Vater von Maja und Kevin sitzt im Knast, ihre Mutter ist völlig verpeilt. Kevin war erst in einer anderen Pflegefamilie, dann wollte er unbedingt zu uns.“

„Und, wie ist das für dich?“, fragt Amal.

„Ey, jetzt hör doch mal auf. Die Kleinen sind okay. Ich bin ihr großer Bruder, und gut“, fährt es aus Bobi heraus.

Amal schaut ihn sichtlich getroffen an, und Bobi ärgert sich sofort, dass er sie so angemacht hat.

„Äh, sorry. Kann ich jetzt weitermachen?“, schiebt er hinterher.

Niemand sagt etwas. Also macht er einfach weiter.

„Ich bin Bobi, bin siebzehn Jahre alt und gehe in die zehnte Klasse Realschule. Ich weiß noch nicht, was ich nach der Schule mache, vielleicht gehe ich nach Spanien. Keine Ahnung. Ich will nicht gleich wieder in so eine Anstalt wie Schule oder Betrieb oder so was.“

Manuel hebt die Hand:

„Und wovon willst du leben? Zahlen dir deine Eltern das?“

„Keine Ahnung. In Spanien hab ich Freunde, und da sind meine Großeltern. Mann, ich bin erst siebzehn, und da soll ich mich schon auf irgendeine Zukunft festlegen? Nö, mach ich nicht.“

Bobi zögert einen Moment, überlegt, ob er das wirklich sagen soll, aber dann denkt er, was soll’s, die anderen sind ja auch ehrlich gewesen.

„Eigentlich würde ich gerne Filme machen. Dokumentarfilme. Keine Ahnung, ob das geht, aber das würde ich wirklich gerne machen. Später mal.“

„Cool“, sagt Natalie. Und Amal guckt auch wieder freundlich.

„Ja. Äh … jetzt zu unserem Thema. Also ich … Ich finde auch, dass Frieden nur ohne Waffen geht. Was ich so sehe, in den Nachrichten, im Internet, im Fernsehen, die Bilder vom Krieg, die ganzen Leichen und so, Männer, die mit Knarren rumfuchteln, sogar kleine Jungs manchmal, das finde ich total gruselig. Warum haben die alle Waffen? Wo haben die die her? Wer Waffen hat, benutzt sie auch; wer angegriffen wird, schießt zurück, und so weiter. Ich glaube, wenn’s weniger oder am besten gar keine Waffen gäbe, wäre das anders. Keine Ahnung. Eigentlich würde ich am liebsten die Augen zumachen, so wie Maja beim Versteckspielen. Leider bin ich schon groß. Ich hab mit meinen Eltern über unser Projekt gesprochen. Die kannten den Spruch von früher und haben mir ´ne Menge erzählt von der Friedensbewegung, wo sie mitgemacht haben. Damals, in den Achtzigern, hatten alle Angst vorm Atomkrieg, da gab’s Blockaden gegen Raketenstützpunkte, riesige Demos und jede Menge action, irre Sachen haben die gemacht. Sogar ein Orchester hat Musik für den Frieden gemacht, bei Blockaden von Armeestützpunkten, richtige Konzerte haben die gegeben, vor Kasernen und so. Ich hab die mal gegoogelt – das Orchester gibt’s immer noch! Eh, und wisst ihr, wo die demnächst spielen? Hier bei uns, vor den Toren vom Werk! Da müssen wir hin!“

Der tote Rottweiler

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