Читать книгу Der tote Rottweiler - Heike Brandt - Страница 11
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ОглавлениеJulika ist verzweifelt. Bello ist und bleibt verschwunden, es gibt nach wie vor keine Spur von ihm. Ein Hund kann sich doch nicht einfach in Luft auflösen! Onkel Justus hat angerufen und noch einmal versichert, dass Bello nicht von einem Jäger erschossen wurde. Kein Kollege habe sich gemeldet, und die seien alle sehr zuverlässig. Julika hat stundenlang im Netz gesucht, um herauszufinden, ob Bello irgendwo zum Kauf angeboten wird, aber Fehlanzeige. Beim Tierarzt war sie auch noch mal, aber da weiß niemand was.
Eigentlich gibt es nur eine Möglichkeit: Bello hat sich verletzt und liegt irgendwo hilflos im Wald und wartet darauf, dass er gerettet wird. Wie lange kann ein verletzter Hund ohne Nahrung und Wasser überleben? Vielleicht ist er längst tot? Aber sie haben doch die Gegend rund ums Schützenhaus gründlich abgesucht, und das nicht nur einmal.
Trotzdem möchte Julika nach der Schule noch mal losziehen, aber das darf sie nicht. Denn ihr Opa hat Geburtstag, und da wird hingegangen. Zwar findet Julika diese Familienfeiern endlos öde, aber dass sie nicht teilnimmt, kommt überhaupt nicht in Frage. Selbst Christian muss mit. Er war zwar am Morgen noch nicht in der Schule, hat aber kein Fieber mehr und ist damit in den Augen seines Vaters gesund. Der Junge brauche sich ja nur ins Auto und dann an den Kaffeetisch zu setzen, die paar Schritte dazwischen werde er schon schaffen. Er selber habe ja auch noch mit dem Jetlag zu kämpfen, weil er erst am Morgen aus Mexiko zurückgekommen sei.
Diese Logik erschließt sich Julika zwar nicht, aber sie hat längst aufgegeben, die Entscheidungen ihres Vaters unter logischen Gesichtspunkten zu betrachten. Sie arrangiert sich auf ihre Weise.
Wenn sie schon mitmuss, wird sie mit dem Fahrrad fahren, verkündet sie ihren Eltern; die Stadt hat einen neuen Fahrradweg angelegt, der bis hinaus in den Vorort führt, wo die Großeltern wohnen. Den möchte sie ausprobieren.
Die Mutter findet, das sei viel zu weit fürs Fahrrad, der Vater zuckt die Achseln, kassiert aber ihre Kopfhörer, sie solle sich voll aufs Fahren konzentrieren. Widerspruch ist zwecklos, das weiß Julika, und Betteln ist längst unter ihrer Würde.
Sie macht, dass sie loskommt. Sonst fällt ihren Eltern noch ein, dass sie den Helm aufsetzen soll. Sie will aber ihren Kopf nicht einsperren.
Der neue Radweg verläuft nicht parallel zur Straße, sondern führt über eine eigene, breite Trasse durch den Wald und dann am Fluss entlang. Das Wasser glitzert, die Blätter schimmern im Sonnenlicht. Am Ufer steht reglos ein Fischreiher.
Julikas Rad rollt so leicht auf dem glatten Asphalt, dass sie immer schneller tritt, bis sie jeden Muskel spürt. Der Fahrtwind fährt ihr in die Haare und streicht sie nach hinten. Julika reckt ihr Gesicht in die Sonne und trampelt mit aller Kraft. Schneller, immer schneller. Wenn sie Flügel hätte, flöge sie hinauf in den Himmel.
Irgendwann biegt der Weg vom Fluss ab und führt leicht aufwärts durch eine Siedlung, lauter kleinere Einfamilienhäuser mit gepflegten Gärten drum herum, bis er schließlich in eine Straße mündet, die Julika zwar vom Auto aus kennt, aber bislang nie weiter zur Kenntnis genommen hat. Sie fährt langsamer und orientiert sich. Da vorne, an der nächsten Kreuzung muss sie rechts ab, dann die dritte Straße links, und sie ist da.
Als sie um die erste Ecke biegt, taucht plötzlich ein Fahrrad vor ihr auf. Vor Schreck bremst Julika so scharf, dass sie beinahe über den Lenker schießt, kann sich aber gerade rechtzeitig fangen. „Boah eh!“, stößt sie wütend hervor und stellt einen Fuß auf den Boden.
Die Fahrerin des anderen Rades, ein Mädchen in Julikas Alter, mit schwarzen, stoppelkurzen Haaren, hat auch scharf gebremst, springt lachend ab und sagt:
„Uups! Sorry! Das war knapp! Jetzt hätte ich dich beinahe umgefahren.“
Bevor Julika noch irgendwie darauf reagieren kann, ruft das Mädchen voller Freude:
„Hier ist es ja! Super.“
Sie schiebt ihr Rad auf den Bürgersteig, lehnt es an den recht wackeligen, verblichenen Jägerzaun des Eckgrundstücks und zeigt auf ein helles Schild zwischen wild wuchernden Büschen: Mahnmal gegen Krieg und Faschismus.
Die Fröhlichkeit des Mädchens und die Neugier auf dieses ungewöhnliche Schild lassen Julikas Wut im Nu verpuffen. Auch sie schiebt ihr Rad auf den Bürgersteig und stellt sich neben das Mädchen.
Links neben dem Schild stehen zwei große, fast ins Gestrüpp eingewachsene Steinbrocken mit reichlich verwitterten Holztafeln daran. Die Inschriften sind aber noch gut zu lesen:
Zur Erinnerung an die fremden Zwangsarbeiter im Krieg 1939-45.
Während des Zweiten Weltkrieges mussten weit über 5000 ausländische Männer und Frauen Zwangsarbeit in der hiesigen Rüstungsindustrie leisten. Über 300 kamen dabei ums Leben. Eines der zahlreichen Lager mit über 2000 Zwangsarbeitern wurde „Russenlager“ genannt. Es befand sich etwa 250 m von hier entfernt.
POLEN RUSSEN FRANZOSEN HOLLÄNDER BELGIER TSCHECHOSLOWAKEN UND ANDERE.
„Hast du das gewusst?“, fragt das Mädchen Julika und guckt sie dabei so eigenartig an, dass Julika nervös wird.
Was soll das? Was will die von ihr?
„Nein“, antwortet sie abwehrend. „Das wusste ich nicht. Ich sehe das zum ersten Mal.“
Dann fällt ihr Blick auf den Namen der Firma, für die diese Menschen arbeiten mussten. Es ist das Werk. Da sind ihre Eltern angestellt, genau wie ihr Opa und ihr Uropa früher. Weiß das Mädchen das?, überlegt Julika. Guckt sie mich deswegen so schräg an?
„Ich glaub, ich kenn dich“, sagt das Mädchen zögernd. „Du bist doch Julika, oder?“
„Äh, ja“, sagt Julika zögerlich. „Wieso? Und wer bist du?“
„Amal. Meine Mutter putzt bei euch.“
„Oh.“
Die Tochter von Sanya. Dass Sanya Kinder hat, weiß Julika, sie hat sie sicher auch schon mal gesehen, aber erkannt hätte sie Amal nicht. Obwohl ihr jetzt auffällt, wie ähnlich sie ihrer Mutter sieht – ihr Gesicht ist genauso rund und freundlich wie Sanyas, und sie hat das gleiche lustige Grübchen. Nur sind Amals Haare kohlschwarz und ganz kurz.
„Und – was machst du hier? Wohnt ihr hier?“, fragt Julika und stellt dabei fest, dass sie keine Ahnung hat, wo Sanya wohnt. Sie war noch nie bei ihr zu Hause.
„Nein, nein“, erwidert Amal. „Wir wohnen in den Hochhäusern auf der anderen Seite vom Fluss. Ich bin hier, weil wir ein Projekt für die Schule machen. Da geht’s um Waffen – Frieden schaffen ohne Waffen. Und ich habe gedacht, ich fang mal mit der Rüstungsindustrie hier bei uns an, wo so viele aus der Stadt arbeiten. Deine Eltern doch auch“, sagt Amal.
„Ja“, antwortet Julika verwundert.
Worauf will die hinaus?, überlegt sie.
„Genau.“
Amal blickt nachdenklich auf den Stein.
„Fünftausend Zwangsarbeiter, dreihundert Tote. Krass, oder?“
Julika nickt.
„Und ich soll auch da …“, sagt Amal und atmet durch. „Also … deine Mutter, die hat mir einen Ausbildungsplatz im Werk besorgt, fürs nächste Jahr, als Industriekauffrau. Und das ist total wichtig, weil, also …“
Sie bricht ab und zieht die Augenbrauen hoch.
„Und wo ist das Problem?“, fragt Julika.
„Na ja. Erst fand ich das ja auch super, weil, mein Vater …“
Sie zögert wieder und setzt noch mal neu an:
„Egal, ich will Geld verdienen, wenn ich mit der Schule fertig bin, und ich will einen guten Beruf haben. Und ich glaub schon, dass mir Industriekauffrau Spaß macht. Aber jetzt … Ich meine, im Werk produzieren die ja nicht irgendwas. Sondern Waffen.“
„Ja klar“, sagt Julika. „Seit zweihundert Jahren. Und richtig gute. Die ganze Welt kauft bei uns ein.“
Kaum haben die Worte ihren Mund verlassen, denkt Julika: Warum sage ich das? Ich klinge genau wie Papa.
Amal nickt energisch.
„Genau. Und mit den Waffen wird Krieg gemacht. Will ich das? Also ich meine, will ich da mitmachen? Und das tue ich doch, wenn ich da arbeite, oder?“
„Musst du wissen“, murmelt Julika.
Das geht ihr jetzt alles viel zu schnell. Zudem ist ihr völlig unklar, wie jemand mit siebzehn Industriekauffrau werden wollen kann. Das klingt in ihren Ohren sowas von öde, egal, in was für einem Betrieb. Nicht ihre Welt.
„Sicher“, sagt Amal. „Bloß – ich weiß es eben nicht.“
Julika guckt auf die Uhr. Halb vier. Spätestens um vier wird sie bei Opa erwartet.
„Von dem Denkmal hier hat mir eine alte Frau aus unserem Haus erzählt“, erklärt Amal, ohne auf Julika zu achten. „Das haben Privatleute gemacht, gleich nach dem Krieg, auf ihrem Grundstück, weil die Stadt es woanders nicht erlaubt hat. Die Stadt wollte überhaupt kein Denkmal, auf keinen Fall, nirgends, hat die Frau gesagt. Niemand wollte sich an die Verbrechen der Nazis erinnern oder womöglich daran erinnert werden. Ist ja allen immer gut gegangen mit dem Werk, hat sie gesagt.“
Amal zieht ihr Handy aus der Tasche und fotografiert.
„Außer denen, die mit den Waffen umgebracht wurden, denke ich mal. Und den Zwangsarbeitern, natürlich“, fügt sie hinzu, nachdem sie das Foto gemacht hat.
„Wo soll das Lager denn gewesen sein?“, fragt Julika.
Ihr will das alles gar nicht so recht in den Kopf. Ringsum sieht sie nur Einfamilienhäuser mit schmucken Gärten, über die jetzt dunkle Schatten grauer Wolkenbänke ziehen.
„Da hinten“, sagt Amal und zeigt auf eine Wiese am Ende der Straße. „Da ist noch ein Mahnmal, das hat die Stadt machen lassen, vor ein paar Jahren, hat die Frau gesagt. Auf einmal! Über siebzig Jahre später!“
Amal nimmt ihr Rad, schwingt sich drauf und meint:
„Ich guck mir das an. Kommst du mit?“
„Okay. Ich mach nur noch schnell ein Foto.“
Als sie sich der Wiese nähern, sehen sie in deren Mitte ein gepflastertes, aus mehreren runden Steinblöcken umfasstes Rund mit einer gewaltigen, aufrechtstehenden Platte in der Mitte. Von weitem sieht es aus wie ein riesiges Buch.
Und das soll es auch sein. Vorne drauf steht Buch der Erinnerung, Zwangsarbeit von 1939-1945. Die Seiten bestehen aus mehreren beweglichen grausilbernen Metall-Tafeln, auf die jede Menge Informationen eingraviert sind.
Beide Mädchen stellen sich davor und lesen stumm. Von 1940 bis 1945 waren mindestens zwölftausend Menschen aus ihren von der deutschen Wehrmacht besetzten Heimatländern hierher verschleppt worden. Ohne diese Zwangsarbeiter wäre die Produktion im Werk und in den anderen Rüstungsfirmen des Ortes zusammengebrochen, denn die deutschen Arbeiter waren ja an der Front. Die zur Arbeit gezwungenen Menschen wurden in den örtlichen Rüstungsfabriken ausgepresst, in Lager eingepfercht, in Baracken gesteckt, sie litten unter Hunger, Ungeziefer, Kälte, Krankheiten. Und ganz sicher auch unter Heimweh, Sehnsucht nach ihren Familien und Freunden.
„Das ist doch Wahnsinn, oder?“, sagt Amal. „Ich meine, die Leute, die mussten Waffen herstellen, damit deutsche Soldaten Leute in ihrer Heimat damit umbringen konnten! Wie krank ist das denn? Wie haben diese Menschen das bloß ausgehalten?“
Julika hat das Gefühl, in ihrem Kopf ist ein Sturm ausgebrochen. Ihr Blick bleibt an den Namen der Menschen hängen, die im Lager gestorben sind.
„Wasili Kurtschuwi“, liest sie laut. „Guck mal, der ist nur siebzehn geworden, so alt wie ich jetzt bin.“
Sie versucht sich vorzustellen, wie das wäre, wenn sie in ein fremdes Land verfrachtet werden würde und dort von morgens bis abends in einer Fabrik schuften und als Gefangene in einem Barackenlager leben müsste.
Niemals würde sie das durchhalten.
„Sogar Kinder sind im Lager geboren …“, sagt Amal, „… und gestorben: Anatoli, Wanda, Tamara, Fernando, Lydia …”
Sie zählt stumm weiter.
„Einundvierzig. Manche haben noch nicht mal einen Vornamen bekommen.“
„Mein Opa Gunter ist zu der Zeit geboren, im Krieg. Auch hier im Ort. Aber nicht im Lager. Und er lebt noch“, sagt Julika tonlos. „Ich geh gleich zu seinem Geburtstag.“
Amal betrachtet jetzt die Karte, auf der alle Lager eingezeichnet sind. Zwölf hat es im Ort gegeben, aber Spuren davon gibt es so gut wie keine mehr.
Als die beiden Mädchen alles durchgelesen und angeguckt haben, setzen sie sich auf zwei der Granitsteine und sagen eine Weile lang gar nichts.
Julika ist unbegreiflich, wieso sie bis jetzt nichts von den Zwangsarbeitern gewusst hat. Das hätten sie doch in Geschichte machen müssen. Was für ein ungeheuerliches Verbrechen! Einfach Menschen verschleppen und für sich schuften lassen. Wie Sklavenhalter. Julika ist die freundliche Wiese mit dem idyllischen Fluss dahinter auf einmal unheimlich. Als säßen sie auf einem Friedhof.
„Wo sind die Gestorbenen eigentlich begraben?“, sagt sie schließlich. „Davon steht nichts auf den Tafeln.“
„Stimmt. Und wie sah das hier aus früher? Baracken mit einem Zaun drum herum? Mit Wachen? Und Strammstehen?“, fragt Amal. „Waren die Häuser hier schon da?“
„Und was haben die Leute hier darüber gedacht? Das Lager war doch nicht zu übersehen“, meint Julika. „Und die aus den Lagern mussten ja irgendwie in die Fabriken kommen, also sind sie durch die Straßen gelaufen oder sind gefahren worden. Das müssen doch alle gesehen haben!“
„Bestimmt“, meint Amal. „Das müssen alle gewusst haben! Aber hätten sie was dagegen machen können?“
„Keine Ahnung“, meint Julika. „Vielleicht nicht, vielleicht hatten sie Angst, selber ins Lager zu kommen. Also ich glaub, das war nicht so unrealistisch. Aber …“
Julika fährt sich mit den Zähnen über die Lippen.
„Aber wer sagt denn, dass sie was dagegen machen wollten? Vielleicht fanden die es ja gut?“
„Meinst du?“, fragt Amal skeptisch. „Und haben erst nach dem Krieg gemerkt, was sie eigentlich gemacht haben?“
Julika zuckt die Achseln.
„Ja, kann doch sein“, meint Amal. „Und dann war denen das nach dem Krieg so total peinlich, dass sie nicht drüber reden konnten und alles ganz schnell vergessen wollten? Meine Eltern reden auch nicht über den Krieg.“
„Weil es ihnen peinlich ist?“
„Nee, das nicht, stimmt. Okay, dann haben sich die Leute hier vielleicht schuldig gefühlt? Waren sie ja auch irgendwie, oder?“
„Weiß ich nicht, doch, schon, keine Ahnung. Aber trotzdem, als es vorbei war mit den Nazis, nach dem Krieg – wie konnten die dann einfach so weiterleben, einfach alles wegschieben und vergessen und so tun, als wär nichts gewesen? Mein Uropa, der muss das doch alles mitgekriegt haben, der hat doch im Krieg in der Firma gearbeitet!“
Julika hat das Gefühl, eine Lawine rollt auf sie zu.
„Frag ihn doch!“, sagt Amal.
Sie zupft zwei Grashalme ab, legt sie zwischen die Finger und bläst Luft durch. Erst jagt sie einen schrillen Pfiff über die Wiese, dann variiert sie die Töne, so dass es beinahe melodisch klingt. Julika zieht auch zwei Halme aus dem Boden und lässt sich von Amal zeigen, wie’s geht. Ist gar nicht so schwer, ein paar Mal üben und Julika hat es raus.
Dann pfeift ihr Handy. Eine Nachricht von ihrem Vater.
„Wo bleibst du?“
„Ich muss los“, sagt sie zu Amal und fügt hinzu: „Meinen Uropa kann ich nicht mehr fragen. Der ist tot. Aber ich frag seinen Sohn, meinen Opa.“
Julika schnappt sich ihr Rad.
„Bist du auf Facebook?“, fragt Amal.
„Ja. Julika Schaaf. Schick mir `ne Freundschaftsanfrage!“
„Okay.“
Julika steigt auf, winkt Amal zu und fährt los.
Vor dem Haus von Julikas Opa und Oma, einem rechteckig geschnittenen, aus gelben Ziegeln gemauerten Flachbau in einem Meer von bunten Blumen und Büschen, steht der silberne SUV von Julikas Vater. Julika stellt ihr Rad vor die Garage und will gerade an der Haustür klingeln, da wird die Tür schon von ihrer Mutter aufgemacht.
„Na, endlich“, sagt sie ungeduldig und reicht Julika die Tüte mit den frischen Sachen. Sogar an das Deo hat sie gedacht.
Super, denkt Julika, dass bloß nichts schiefgeht, als sie sich in der geräumigen Gästetoilette neben dem Eingang umzieht und kurz darauf in Bluse und Rock perfekt angezogen herauskommt. Opa und Oma legen Wert auf angemessene Kleidung. Shorts und T-Shirt sind an einem Geburtstag auf keinen Fall angemessen.
Im Wohnzimmer stehen die Terrassentüren offen, aber alle sitzen drinnen an dem mit Löwenmäulchen aus dem Garten geschmückten Kaffeetisch, denn für den Nachmittag ist Regen angesagt, und der Himmel zieht sich auch schon zu.
Offensichtlich wurde auf Julika gewartet. Denn kaum steht sie in der Tür, kommt Bewegung in die Runde. Für einen Moment meint Julika, vor ihr spielte sich eine Filmszene ab, nachdem jemand „action“ gesagt hat. Oma erhebt sich und gießt Kaffee ein, ihre Tochter nimmt den Tortenheber, verteilt saftigen Pflaumenkuchen auf die Teller der Gäste und reicht die Schüssel mit der Schlagsahne herum. Der blasse Christian nuckelt an seiner Cola und tippt auf seinem Handy rum. Kuchengabeln klappern, Gesprächsfäden werden wieder aufgenommen.
„Julika!“, posaunt Opa Gunter mit seiner dröhnenden Stimme quer durch den Raum und reckt ihr voller Freude sein rundes, rötliches Gesicht entgegen.
Julika drückt ihm hastig einen Geburtstagskuss auf das kleine Stückchen freie Wange zwischen weißem Backenbart, Nase und Auge, lässt sich von ihrer Oma Barbara, die für diesen Moment ihre Kaffeekanne abstellt, an den rundlichen, weichen Körper ziehen, gibt den anderen Gästen brav reihum die Hand und lässt sich dann auf den freien Platz neben ihrem Bruder aufs Sofa fallen.
Alles wie immer, stellt sie fest. Wie an jedem Familiengeburtstag der Familien Ritter/Schaaf, jahraus, jahrein, gefühlte hundert Mal pro Jahr. Am Nachmittag Kaffeeklatsch, wie Oma zu dieser Veranstaltung sagt, Einladungen sind nicht nötig, alle wissen Bescheid. Und wie immer scheinen sich alle zu amüsieren.
Abgesehen von Julika.
Ihr will nicht aus dem Kopf, was sie eben gesehen und gelesen hat. Und das passt überhaupt nicht hierher, wo alle nur mit sich selbst und ihrem guten Leben beschäftigt sind. Am liebsten würde Julika aufstehen und gehen. Doch das wagt sie nicht, und außerdem hat sie Amal gesagt, sie würde ihren Opa fragen. Im Moment kann sie sich allerdings nicht vorstellen, wie das gehen soll. Also lässt sie sich von Oma ein dickes Stück von dem mampfigen, zimtigen Pflaumenkuchen auftun, klatscht sich einen fetten Berg Schlagsahne drauf und verkriecht sich dahinter.
Heute sind außer Julikas Familie noch Opas ältere Cousine Gabriele da, wie immer in einem grellbunten Kostüm, sowie Opas ältester Freund und Ex-Kollege Klaus mit Frau Britta, die quasi zur Familie gehören. Sie wohnen auch gleich um die Ecke.
Die Eltern von Julikas Vater sind nicht angereist, sie kommen nur zu runden Geburtstagen.
Der ältere Bruder von Julikas Mutter, Opas und Omas Sohn Mark, kommt nie, weil er schon seit vielen Jahren mit seiner Familie in Australien lebt. Julika kennt sie nur vom Bildschirm.
Und Uromi fehlt. Zum allerersten Mal, seit Julika denken kann. Uromi will nicht mehr aus dem Bett, auch nicht zum Geburtstag ihres geliebten Sohnes. Das will was heißen.
Noch im letzten Jahr ist Uromi dabei gewesen. Julika sieht sie vor sich, wie sie sich in ihrem Rollstuhl strafft, wie ihre himmelblauen Augen aus dem zerknitterten Gesicht leuchten und wie sie – wie auf jedem der Geburtstage und mit fast immer identischen Worten – anhebt, die Geschichte von der komplizierten Geburt ihres Sohnes Gunter zu erzählen, im Jahr 1943, wie damals, als sie schon im Kreissaal voller Schmerzen in den Wehen lag, die Ärzte sie untersuchten und plötzlich laut zu lachen anfingen, weil sie schon sehen konnten, dass es ein Junge war. An der Stelle kicherte Uromi immer wie ein kleines Mädchen und Opa guckte peinlich berührt, bevor Uromi wieder ernst wurde und auf den Krieg zu sprechen kam. 1943 war ja schon Krieg, aber noch nicht in ihrem Städtchen, hier fielen die Bomben erst ein Jahr später; doch die Angst, die war natürlich da. Sie hatte immerhin das Glück, dass wenigstens ihr Mann zu Hause war, wegen seiner wichtigen Position im Werk. Die schwere Zeit, die kam erst nach dem Zusammenbruch, da hatten sie buchstäblich nichts, da wurde ihnen alles genommen. Aber zum Glück sei Gunter da ja schon aus dem Ärgsten raus gewesen.
„Was war der für ein liebes Kind!“
Das liebe Kind ist jetzt ein großer, fast kahlköpfiger Mann mit fleischigen Händen und einem dicken Bauch, bedeckt von einem straff anliegenden weißen Hemd, über das wie eine fette Raupe ein grüngelbgestreifter Schlips kriecht. Opa macht sich daran, die erste Flasche Wein des Tages zu öffnen.
Dieser Wein, trötet er, ein Moselwein, sei ein ganz besonderer Jahrgang, den er extra aufgehoben habe für den heutigen Anlass. Schon während er die Weinkelche aus dem Schrank holt, fallen Worte wie Abgang und Bouquet, blumig und erdig, mit denen Julika nicht viel anfangen kann.
Opa und sein Freund Klaus verstricken sich in eine lebhafte Debatte über die Preis- und Qualitätsunterschiede zwischen Aldi und Lidl, vor allem bei Champagner, Scampis und Schinken. Von dort aus gelangen sie problemlos zum Schützenverein, nun auch mit Beteiligung von Julikas Vater, der wie die beiden anderen Männer im Vorstand des Vereins ist, und sprechen über die bevorstehenden Wettkämpfe, überlegen, wer wohl die besten Chancen hat und wie die Zukunft von Christian aussieht, der so offenkundig begabt ist fürs Schießen – dabei gucken alle zu Christian hinüber, der immer noch mit seinem Handy beschäftigt ist und nichts hören kann, da er Kopfhörer übergestülpt hat. Sie streifen kurz und achselzuckend das Thema Bello, auch ihnen ist es ein Rätsel, wie ein so großer starker Hund einfach verschwinden kann, und sie einigen sich darauf, dass sie eben abwarten müssen. Ihre Stimmen werden leiser, Julika kann das Wort Mexiko heraushören, aber der Rest bleibt unverständliches Gemurmel.
Die Frauen, die am anderen Ende des Kaffeetisches sitzen, haben inzwischen das Thema Chor am Wickel. Julikas Oma quetscht ihre Tochter nach dem Neuen aus, dem jungen Mann mit der begnadeten Baritonstimme, bei dem Astrid seit einiger Zeit Yogastunden nimmt, und Oma Barbara meint, sie überlege, ob sie nicht auch Yoga machen solle, sie werde ja nicht jünger und spüre langsam all ihre Gelenke, und vielleicht helfe Yoga da.
Bestimmt, bestärkt sie Julikas Mutter und fügt fast schwärmerisch hinzu, ja, der Mann sei wirklich wunderbar, der habe so eine fröhliche, spielerische Art, dass man sich in seiner Gegenwart ganz leicht fühle. Dazu lächelt sie still.
Julikas Vater, der ihrer Mutter gerade Wein nachschenken will, hält inne und fragt stirnrunzelnd:
„Soll ich jetzt eifersüchtig werden oder was?“
Opa Gunter hält ihm sein Glas hin, lacht glucksend auf und sagt:
„Nein, lieber Schwiegersohn, das soll ein Ansporn sein, du weißt schon, auf Händen tragen und so. Das wollen die Frauen doch!“
Worauf die Oma ihm ein schnippisches „Was weißt denn du schon von Frauen?“ hinwirft und einen kräftigen Schluck Wein nimmt.
Betretenes Schweigen.
Da denkt Julika: Jetzt. Jetzt ist der richtige Moment, jetzt sage ich es, und bevor sie es sich anders überlegen kann, spricht sie aus, was ihr die ganze Zeit durch den Kopf geht:
„Ich habe auf dem Weg hierher ein Denkmal für Zwangsarbeiter gesehen, gleich hinterm Fluss.“
Aller Köpfe wenden sich ihr zu. Die Gesichter sind verschlossen, abwartend.
„Kennt ihr das?“, fährt Julika fort. „Hier, ich hab’s auf dem Handy?“
Sie hält ihr Handy mit dem Bild hoch und zeigt es herum.
„Wusstet ihr von den Zwangsarbeitern? Dass ganz viele von denen hier gestorben sind, sogar kleine Kinder?“
Für einen Moment wird es noch stiller.
Und dann reden alle auf einmal.
„Mädchen, das Denkmal steht doch schon lange dort. Die Debatten haben wir hinter uns.“
„Ach, du großer Gott, das Thema wieder! Ich dachte, damit sind wir durch.“
„Mein Vater ist im Krieg gefallen. Ich kann mich gar nicht an ihn erinnern.“
„Jetzt verdirb Opa doch nicht seinen Geburtstag.“
„Hast du das Denkmal wirklich noch nie gesehen? Da sind wir doch schon so oft dran vorbeigefahren.“
„Ach ja, das war wirklich eine schlimme Zeit damals. Gott sei Dank ist das lange her.“
Opa setzt sich auf und trompetet:
„Ach, Kind, du hast doch keine Ahnung, wie das damals war!“
„Dann erzähl’s mir doch.“
Er zieht beide Augenbrauen hoch und blickt sie erstaunt an.
„Ja, habt ihr das denn nicht in der Schule gehabt? Die reden doch andauernd von der NS-Zeit, als gäb’s keine anderen Probleme!“
„Schon. Aber mehr so allgemein. Nicht, wie das hier bei uns war“, antwortet Julika. „Mit den Zwangsarbeitern und so.“
„Mein Kind, ich will dir mal eins sagen: Das waren damals ganz andere Zeiten, das kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen. Ohne die Arbeiter aus dem Osten wäre hier die Produktion zum Erliegen gekommen, wir hätten die Front nicht mit ausreichend Waffen und Munition versorgen können. Und dann? Hätten wir etwa Stalin und die Bolschewisten gewinnen lassen sollen? Wenn die Amerikaner uns damals nicht in den Rücken gefallen wären …“
Opa winkt ärgerlich ab.
„Aber hör mal“, fährt Julikas Vater auf. „So einfach kannst du dir das aber nicht machen. Die Amerikaner …“
Opas Freund Klaus will sich einmischen, aber Oma Barbara legt beschwichtigend ihre Hand auf seinen Arm, klopft mit dem Löffel an ihr Glas und hebt energisch die Stimme:
„Ich möchte keinen Streit an Opas Geburtstag. Lassen wir die alten Zeiten ruhen und stoßen wir auf Opas neues Lebensjahr an.“
Sie hebt ihr Glas.
„Denn es gibt noch etwas zu feiern.“
Sie macht eine Pause, blickt in die Runde und verkündet dann strahlend:
„Die Gewebeproben sind negativ. Opa hat keinen Krebs.“
Alle greifen erleichtert nach ihren Gläsern und prosten Opa und Oma fröhlich zu. Außer Christian, der hat nichts gehört und daddelt weiter auf seinem Handy.
Julika freut sich für ihren Opa wie alle anderen, auch wenn sie von dem Krebsverdacht gar nichts gewusst hat. Sie ärgert sich, dass Oma das Gespräch über ihre Frage einfach so abgewürgt hat, was sonst niemanden zu stören scheint. Doch Julika bringt kein Wort des Protests heraus. Alle anderen sind schnell wieder in lebhafte Gespräche vertieft. Über so wichtige Themen wie den Kauf eines neuen SUVs, den Opas Freund Klaus beabsichtigt.
In Julika wächst das schale Gefühl von Fremdheit.