Читать книгу Der tote Rottweiler - Heike Brandt - Страница 7
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ОглавлениеJulika schwimmt. Bei jedem zweiten Zug dreht sie kurz den Kopf aus dem Wasser, atmet, taucht wieder ein. Ihre Beine schlagen kräftig und regelmäßig, ihre Arme recken sich fast ruckartig nach vorne und strecken ihren kurzen Körper in die Länge. Julika weiß, dass das nicht sehr elegant aussieht, aber das ist ihr egal.
Sie schwimmt ihre Bahnen, nicht sehr schnell, aber ausdauernd. Mit offenen Augen. Verfolgt ihren eiligen Schatten auf dem silbrigen Boden unter sich, verfolgt die vielen kleinen Luftbläschen, die von ihren Händen ausströmen, registriert für den kurzen Moment des Auftauchens die bunte Kugelkette der Bahn neben sich, lauscht dem dumpfen Gurgeln und Glucksen des Wassers um sich.
Irgendwann hat Julika genug vom Kraulen, rollt sich wie ein Seehund auf den Rücken, wieder schlagen ihre Beine kräftig und regelmäßig, wieder pflügen ihre Arme ruckartig durchs Wasser, nur andersherum. Jetzt schaut sie hinauf in den Himmel, versenkt sich in sein klares Blau und die bauschigen weißen Wolkenfetzen dazwischen.
Sobald sie spürt, dass Arme und Beine schwer werden, schiebt sie sich am Beckenrand in den Stütz, steigt aus dem Wasser und streicht ihre kurzen, dunkelblonden Haare aus dem Gesicht. Julika geht fast jedes Wochenende Schwimmen. Irgendwann nach dem Aufstehen braust sie mit dem Rad den Hang hinunter ins Zentrum der kleinen Stadt, den Fluss entlang, durchs Gewerbegebiet in der Flussaue.
Das supermoderne Schwimmbad dort wurde vor ein paar Jahren von der Firma, bei der auch Julikas Eltern arbeiten, gespendet, als Geschenk an die Stadt anlässlich des zweihundertjährigen Jubiläums der örtlichen Kleinwaffenproduktion. Für die Kinder der Angestellten des Werks gibt es kostenlose Dauerkarten. Das findet Julika sehr praktisch.
Nach dem Schwimmen geht sie hinüber zu den Leuten aus ihrer Schule, wo sie vorhin ihre Tasche abgelegt hat. Es ist kein verabredeter Treffpunkt, aber wer vom Otto-Hahn-Gymnasium ins Bad geht, sitzt hier, auf den terrassenartig angelegten Flächen neben den Sprungtürmen. Sie nickt den anderen kurz zu, legt sich auf ihr dunkelrotes Badehandtuch und lässt sich von der Sonne trocknen.
Julika ist dabei und nicht dabei. Mit geschlossenen Augen hört sie zwei Mädchen aus ihrer Klasse zu, die von der Party gestern Abend erzählen, zu der Julika nicht eingeladen war, wie Marko abgestürzt ist und Vivian sich Michael an den Hals geworfen hat …
Kopfhörer auf die Ohren, Smartphone an, Buch aus der Tasche und schon ist Julika raus. Doch so richtig will ihr das nicht gelingen. Nach ein paar Seiten nimmt sie ihr Handy und guckt, ob Clara online ist. Ist sie nicht. Julika schickt ihr eine Nachricht mit einem Foto von der Stelle, auf der Clara jetzt eigentlich sitzen müsste. Wie im vorigen Jahr. Und dem davor. Bis Clara mit ihren Eltern umziehen musste, nach Berlin.
„Vermiss dich“, schreibt sie und schiebt jede Menge Heulgesichter hinterher.
Ohne Clara ist alles nur öde.
Der Heimweg ist deutlich anstrengender als der Hinweg. Aber Julika nimmt das sportlich, klettert mit dem Rad die sich windende Straße hoch, als wäre es eine Alpenetappe bei der Tour de France. Zwanzig Minuten später steht sie schnaufend vor ihrem Zuhause, ein streng geometrisch gestalteter imposanter Neubau mit glatten, weißen Fassaden und großen Fensterfronten. Das Gartentor ist nur angelehnt. Das heißt, ihre Mutter und Bello sind noch nicht zurück.
Julika guckt auf die Uhr und wundert sich. Es ist bald sieben, um sieben gibt es Abendessen. „Einmal in der Woche können wir als Familie doch wohl zusammen essen“, wünscht ihr Vater, der unter der Woche oft auf Dienstreisen ist. Sonnabends kocht er gerne für alle und probiert neue Rezepte aus.
Im Haus riecht es nach Braten.
Julika rümpft die Nase. Sie hat keine Lust auf Braten, keine Lust aufs Familienessen, aber es führt kein Weg dran vorbei. Dass sie kein Fleisch isst, haben ihre Eltern akzeptiert. Aber Extrawürste gibt es deswegen nicht, hat ihr Vater gesagt und gar nicht gemerkt, was für einen Unsinn er da redet. Auf eine Diskussion, warum Julika kein Fleisch essen will, hat er sich nicht eingelassen. Das verwächst sich, meinte er nur, ich hab auch mal an den lieben Gott geglaubt.
Bei solchen Bemerkungen macht sich Julika eine mentale Notiz. Für den Fall, dass sie mal Kinder haben sollte.
Ihr Vater steht am Herd, rührt in der Soße, kostet und nickt, hebt den Deckel vom Topf daneben, prüft den Reis und die grünen Erbsen, nickt wieder, schaltet alle Platten aus und klappt den Ofen auf, in dem eine Ente schmurgelt. Ein Blick zur Küchenuhr zeigt ihm, dass er sehr gut in der Zeit ist. Zufrieden fährt er sich mit der Hand über die hellen Stoppeln seines frisch geschorenen Kopfes und rückt seine Brille zurecht.
Er muss Julika gehört haben. Ohne sich umzudrehen, ruft er ihr zu, sie solle den Tisch decken, die anderen zum Essen holen und Christian in den Keller nach Wein schicken. Dabei stellt er die vorgewärmten Schüsseln und die gehackte Petersilie für die Erbsen bereit. Seine Stimme ist nicht besonders laut, aber wie immer scharf und bestimmt. Für seine Begriffe brauchen Kinder klare Ansagen, sonst können sie sich in dieser immer komplexer werdenden Welt nicht orientieren.
Julika sieht das anders.
Der Tisch ist gedeckt, der Wein geholt, das Essen aufgetragen, die Schürze abgenommen. Julika, ihr Vater und ihr Bruder sitzen vor den dampfenden Schüsseln um den ovalen, rotbraun glänzenden Holztisch im Esszimmer. Und gerade, als Julikas Vater leicht verärgert sagt, sie könnten anfangen, obwohl ihre Mutter noch nicht da ist, schlägt die Haustür auf und gleich wieder zu.
Einen Moment später steht Julikas Mutter im Esszimmer, atemlos, aufgelöst. Ihre braunen Haare, die sie am Morgen noch sorgfältig aufgesteckt hatte, hängen ihr wirr um den Kopf, ihr Gesicht ist rot. Nur der Lidschatten ist nicht verschmiert, registriert Julika. Aber bevor sie den Gedanken weiterverfolgen kann, hat ihre Mutter herausgestoßen:
„Bello ist weg!“
„Wie? Bello ist weg“, fragt Julikas Vater irritiert und macht sich daran, die Ente zu tranchieren. „Was soll denn das heißen?“
„Was schon! Er ist weg, wie vom Erdboden verschluckt!“
Julikas Mutter presst die Worte eilig heraus. Ein Schweißtropfen läuft ihr über die Schläfe, unter den Achseln hat sie große Schweißflecken. Sie stützt sich mit beiden Händen auf die Lehne des Stuhles vor sich und blickt ratlos in die Runde.
Der Vater hört auf zu schneiden, Christian senkt den Kopf und schaukelt nervös mit den Beinen, Julika zupft sich am rechten Ohrläppchen.
Am schnellsten fasst sich Julikas Vater.
„Wie kann denn das sein? Hast du ihn etwa von der Leine gelassen? Du weißt doch genau, dass du das nicht sollst.“
Das klingt empört, aber auch ein bisschen sachlich, fast so, als wolle er einen Schlusspunkt setzen und damit das Unmögliche ungeschehen machen.
„Geht’s noch? Bevor du weißt, was passiert ist, machst du mir schon Vorwürfe?“, schnaubt Julikas Mutter und macht eine wegwerfende Geste.
„Aber was ist denn nun passiert, Mama? Wieso ist Bello weg?“, fragt Julika schnell, damit ihre Eltern nicht in den Streitmodus fallen, der immer mit solchen Sätzen beginnt, und es plötzlich nicht mehr um Bello, sondern um was ganz anderes geht.
Christian hebt den Kopf, so dass ihm seine glatten blonden Haare schräg ins Gesicht fallen, und blickt gespannt auf seine Mutter.
„Also“, sagt sie und holt tief Luft. „Wir waren schon aus dem Wald raus, waren am Parkplatz vorm Schützenhaus, da steigt Nadine aus ihrem Auto. Ich bleib also stehen, wir begrüßen uns und so, und Bello zieht und zerrt an seiner Leine. Keine Ahnung, was den geritten hat, jedenfalls hat er mich genervt und ich will ihn losmachen, da rast er schon los, die Leine im Schlepptau. Wir waren ja nicht mehr im Wald.“
Bedeutungsvoller Blick zu Julikas Vater.
„Und?“, sagt der und will Christian einen Entenschlegel auf den Teller legen. Christian aber schüttelt vehement den Kopf. Sein Vater stutzt einen Moment, legt den Schlegel dann sich selbst auf den Teller.
„Nichts und. Das war’s. Nadine geht ins Vereinsheim, ich will los und pfeif nach Bello, mehrmals, aber wer nicht kommt, ist Bello. Ich guck mir die Augen aus dem Kopf, rufe, pfeife, geh über die Wiese, denke, vielleicht steckt der in einem Kaninchenloch und kommt nicht wieder raus. Aber nix da. Hinter der Wiese ist ja der Stacheldrahtzaun vom Vereinsgelände, da konnte er nicht weiter.“
„Vielleicht ist er zurück in den Wald?“, fragt Julika. „Vielleicht hat er eine Spur verfolgt?“
Ihre Mutter hebt die Arme, als wolle sie ihre Unschuld beschwören.
„Ich weiß es nicht. Ich bin den Weg ein ganzes Stück zurückgelaufen, hab gepfiffen und gerufen, immer wieder. Bin ums Schützenhaus rum, hab alle Leute gefragt, die ich getroffen hab. Nichts, niente. Kein Bello. Ich versteh das nicht.“
„Das kann doch nicht sein. Bello läuft nicht weg. Hat der noch nie gemacht“, sagt Julikas Vater kopfschüttelnd. „Aber du hättest ihn nicht laufen lassen sollen, das hab ich dir schon hundertmal gesagt. Wenn der ein Kaninchen in der Nase hat … Willst du Brust oder Keule?“
Doch Julikas Mutter will erstmal duschen und läuft flink die Treppe hinauf.
„Jetzt esst doch, Kinder. Der Bello kommt schon wieder. So ein großer Hund verschwindet nicht einfach spurlos“, sagt Julikas Vater aufmunternd und geht mit gutem Beispiel voran. Seinem Sohn hat er inzwischen Erbsen, Reis und Soße aufgetan. Christian stochert lustlos im Essen herum, schiebt aber ab und zu einen Happen in den Mund.
„Immer noch Kopfschmerzen?“, fragt sein Vater mit sanfter Stimme und blickt ihn besorgt an.
„Geht“, antwortet Christian ohne aufzublicken.
„Wenn das öfter vorkommt, musst du zum Arzt. Du musst doch trainieren fürs Schützenfest, Ausfälle wie heute kannst du dir nicht oft leisten. Jedenfalls nicht, wenn du auf dem Treppchen stehen willst – und ich glaub, diesmal kann das klappen! Glaub mir!“
Seine Stimme glänzt wie die Entenkruste.
„Ja, klar“, murmelt Christian, nicht sehr überzeugend. Aber sein Vater dringt nicht weiter in ihn, sondern konzentriert sich auf den Entenschlegel auf seinem Teller.
Julika holt sich Mango-Chutney aus dem Kühlschrank, für den Reis. Die Entensoße rührt sie nicht an.
Julika war sieben, als die Familie in das neue Haus einzog und der Hund angeschafft wurde, ein reinrassiger Rottweilerwelpe, aus dem zweiten Wurf, Bomber. Julika sagte von Anfang an nur Bello zu ihm, und dabei blieb es. Denn der Rottweiler war nicht nur als Wachhund gedacht, sondern auch als Trost für Julika, die sich mit Leibeskräften gegen den Umzug gesperrt hatte. Sie wollte in ihrem alten vertrauten Haus in der Werksiedlung auf dem Hügel bleiben, wo auch die Urgroßeltern wohnten und alle Kinder, mit denen sie zusammen eingeschult worden war. Auf keinen Fall wollte sie dort weg, auf die andere Seite des Tales, auf eine neue Schule, wo sie niemanden kannte.
Der kleine, tolpatschige Welpe, mit dem Julika dann im großen Garten herumtollen durfte, war zwar kein Ersatz für all das, was sie nicht mehr hatte, half ihr aber doch über den größten Schmerz hinweg. Das Beste war, dass sie den Hund nicht mit ihrem Bruder Christian teilen musste, denn dem Zweijährigen war dieses hüpfende Fellknäuel äußerst unheimlich. Julikas Vater war das unbegreiflich. Vor allem, wenn ein Hund gut dressiert war, wofür er natürlich sorgte.
Der Hund lernte schnell, die gängigen Kommandos zu befolgen. Das klappte meistens auch bei Julika. Wenn sie „Aus!“ rief, rückte Bello den Ball raus, den er brav apportiert hatte. Aber den kleinen Christian nahm er nicht für voll. Wenn der ungeschickt nach seinem Spielzeug grabschte, brauchte Bello nur dumpf zu grollen, schon ließ Christian von ihm ab. Jedes Mal beschwor ihn sein Vater, erst „Aus!“ zu sagen und dann zuzugreifen. „Nicht der Hund hat einen Fehler gemacht, sondern du!“ Aber das begriff Christian damals nicht. Und später interessierte es ihn nicht mehr.
Christian mag Katzen. Seit die Katze der Nachbarinnen Junge bekommen hat, geht er oft in deren Garage, die sie als Werkstatt eingerichtet haben, und spielt mit den Katzenbabys. Außerdem macht er da auch irgendwas mit Holz, jedenfalls hat Julika ihn einmal an der Werkbank arbeiten sehen, als das Garagentor offenstand.
Gleich nach dem Essen will Julikas Vater nach Bello suchen. Julika fährt mit, keine Frage. Wenn es um Bello geht, ist sie mit ihrem Vater einer Meinung, immer. Ihr will genauso wenig wie ihm in den Kopf, dass der Hund einfach so verschwinden konnte; Bello ist keiner, der wegläuft. Irgendwas muss geschehen sein.
Es ist noch hell draußen, ein lauer Sommerabend, mit dem Auto sind sie schnell beim Schützenhaus. Von dort aus fährt Julikas Vater in den Wald hinein, obwohl der Weg für Autos gesperrt ist. Er fährt langsam, mit offenen Fenstern, und alle paar Meter ruft oder pfeift er. Er guckt nach links, Julika nach rechts.
Vergeblich.
Nach zwei Kilometern geben sie auf und fahren zurück; es dämmert schon, im Wald sehen sie nichts mehr. Bleibt noch das Gelände um das Schützenhaus. Sie gehen den Stacheldrahtzaun ab, suchen nach Fellresten, suchen nach Kaninchenlöchern, in denen Bello gebuddelt haben mag, denn das liebt er, wenn man ihn lässt. Dabei spitzen sie die Ohren und lauschen nach Geräuschen, nach leisem Winseln oder Bellen.
Aber sie finden ihn nicht.
Als sie wieder im Auto sitzen, meint Julika:
„Und wenn ihn nun der Förster erschossen hat? Oder ein Jäger?“
Sie spürt, wie sich in ihrem Bauch ein Knäuel bildet. Bis eben hat sie noch gedacht, wir suchen, wir finden und gut. Aber wenn Bello nun tot ist?
Für einige Augenblicke hängen Julika und ihr Vater schweigend ihren Gedanken nach, dann lässt der Vater den Motor an und sagt:
„Weißt du was, wir fahren mal bei Justus vorbei. Vielleicht weiß der was.“
Julika nickt. Sie könnten ja auch anrufen, aber im Auto zu sitzen und unterwegs zu sein fühlt sich besser an, als untätig auf irgendeine Information zu hoffen.
Sie zieht ihr Handy aus der Tasche, will eine Nachricht an ihre Klasse schicken, ist ja möglich, dass jemand Bello gesehen hat. Doch kaum hat sie das Gerät vor sich, legt ihr Vater seine Hand darauf und sagt:
„Lass das jetzt mal, Julika.“
Es ist nur eine kleine Geste, kein scharfer Ton, aber Julika kommt es vor wie eine Ohrfeige. Wortlos stopft sie ihr Handy in die Hosentasche und starrt geradeaus. Dann macht sie das eben später. Aus ihrer Klasse wohnt überhaupt nur einer in ihrer Nähe.
„Sag mal, weißt du eigentlich, was mit Christian ist?“, fragt ihr Vater, der Julikas Erstarren nicht wahrgenommen hat. „Er ist so still in letzter Zeit. Und er wollte keine Ente. Ist der jetzt etwa auch Vegetarier?“
Julika zuckt die Achseln.
„Mir hat er nichts gesagt.“
„Na ja, vielleicht brütet er was aus, er hatte ja Kopfschmerzen. Oder ist was in der Schule? Weißt du was?“
„Keine Ahnung. Frag ihn doch selber.“
Julika ist fünf Jahre älter als ihr Bruder, er ist versessen auf Computerspiele, sie nicht im Geringsten, er geht in den Schützenverein, sie auf keinen Fall. Es gibt nicht viele Gemeinsamkeiten. Wenn sie es sich genau überlegt, kennt sie ihren Bruder nicht besonders gut.
„Hab ich doch. Er weicht mir aus. Hat er eigentlich Freunde?“
Bin ich sein Vater oder du?, denkt Julika, antwortet aber:
„Weiß ich nicht. Auf dem Schulhof hängt er mit ein, zwei Nerds ab. Ich seh ihn nicht oft.“
„Und nachmittags?“
„Papa. Woher soll ich das denn wissen? Du gehst doch mit ihm in den Schützenverein. Und zu Hause zockt er, das weißt du doch. Hast ihm das neue Teil doch selber zum Geburtstag geschenkt. Wenn du öfter da wärst …“
Ihr Vater seufzt.
„Julika, das geht eben leider nicht. Ich kann mir das doch auch nicht aussuchen. Ich bin nun mal im Außendienst, das ist ein Superposten und ich verdiene gutes Geld damit. Dein Smartphone muss ja auch irgendwie bezahlt werden, oder?“
Darauf antwortet Julika nicht. Auf dieses Gespräch hat sie keine Lust. Was kann sie denn dafür, dass sie geboren wurde. Wer Kinder in die Welt setzt, muss auch für sie sorgen, oder?
„Oder, Julika?“, drängt ihr Vater.
Julika nickt, und ihr Vater hält das für Einverständnis.
„Mir gefällt mein Job.“
Er überlegt einen Moment und sagt dann mehr zu sich selbst als zu Julika:
„Wahrscheinlich muss ich den Jungen mehr rannehmen, damit er sich nicht so hängenlässt.“
Inzwischen haben sie den Friedhof und die Brücke über dem Fluss passiert, sind vorbei am gewaltigen, ehemaligen Kloster, dem Stadtmuseum und dem Industriegebiet zur Linken und dem Stadtzentrum zur Rechten, mit Kirche, Gymnasium, Kino, vielen mehrstöckigen Fachwerkhäusern und der Fußgängerzone mit diversen Geschäften. Die Straße windet sich wieder bergauf und wenige Minuten später hält der Wagen vor einem kleinen Holzhaus.
Onkel Justus, dessen Glatze immer glänzt, als hätte er sie frisch poliert, freut sich über den unverhofften Besuch, begrüßt erst seinen Jägerfreund Matthias überschwänglich mit Händedruck und Schulterklopfen und dann Julika mit dem Spruch:
„Meine Güte, was bist du groß geworden!“
Achselzuckend folgt Julika den beiden Männern auf die Terrasse hinter dem Haus, an deren Rückwand Jagdtrophäen hängen. Justus‘ Frau Beate serviert Bier, Limo und Knabberzeug und verzieht sich dann vor den Fernseher.
Justus hat Bello nicht gesehen, hat auch nicht gehört, dass jemand einen wildernden Hund erschossen hätte, möglich wäre es, sicher, aber das würde er erfahren – spätestens morgen, so lange müssten sie sich schon gedulden. Julika nimmt das erleichtert zur Kenntnis. Wenn Bello nicht sicher tot ist, lebt er.
Und schon ist das Thema Bello abgehakt. Das Gespräch der beiden Männer dreht sich nun um die Jagd. Im September sind alle Schonzeiten vorbei, und sie können wieder auf die Pirsch gehen.
Julika schaltet auf Durchzug, sie will nicht hören, wie sich die Männer darüber austauschen, wie man am schönsten, am aufregendsten, am effektivsten mordet. Für Julika ist das Mord, was die Jäger betreiben, denn es ist Mord, wenn jemand heimtückisch, aus Lust oder aus anderen niedrigen Beweggründen tötet, so haben sie es neulich in der Schule besprochen. Das bezog sich natürlich auf das Töten von Menschen.
Aber trotzdem: Jäger töten Wild, weil es ihnen Freude macht, weil sie sich an ihrer Macht über Leben und Tod berauschen, und sie tun es heimtückisch, denn sie verstecken sich feige auf Hochsitzen und locken ihre Opfer mit Futter oder Salzsteinen an. So sieht Julika das, auch wenn die Jäger etwas völlig anderes sagen und alle möglichen Argumente auffahren, um zu erklären, warum die Jagd etwas Edles, dem Menschen als Naturtrieb Innewohnendes und zudem eine Pflicht zur Schonung der Umwelt wäre, der sie nachkommen müssten.
Julika erinnert sich noch sehr gut daran, wie ihr Vater sie das erste Mal mit zur Jagd nahm, weil sie so sehr gedrängelt hatte, unbedingt mit wollte auf einen Ausflug mit Onkel Justus, und weil ihr lieber Papa seiner kleinen Prinzessin keinen Wunsch abschlagen konnte, obwohl seine Frau meinte, Julika sei dafür noch zu klein. Fand Julika natürlich überhaupt nicht, auch ihr Vater hatte nur abgewinkt und gesagt, wer weiß, vielleicht kriegen wir ja gar nichts vor die Flinte.
Der glitzernd grüne Wald so früh am Morgen war atemberaubend schön. So wie sein Bewohner, das Reh. Nur durfte das nicht einfach atemberaubend schön bleiben, das Reh musste erschossen werden.
Ihr Vater, Onkel Justus und Julika waren im Dunkeln aufgebrochen. Es dämmerte, als sie mucksmäuschenstill auf dem Hochsitz saßen, beide Männer mit dem Gewehr im Anschlag. Langsam wurde es ringsum hell und lebendig. Sie warteten. Und warteten. Julika wäre beinahe eingeschlafen.
Doch auf einmal stupste ihr Papa sie mit dem Ellbogen an und deutete nach rechts, zum Salzstein. Mit den ersten Sonnenstrahlen trat anmutig ein Reh auf die Lichtung, blickte sich mit seinen großen Augen um, sicherte aufmerksam und wollte gerade den Kopf zum Grasen neigen, da krachte es neben Julika, so dass sie meinte, ihr fliegt der Kopf ab, und im selben Augenblick brach das Reh zusammen, fiel zu Boden, zuckte noch einmal und blieb dann reglos liegen. Tot. Einfach so.
Julika war fassungslos, außer sich. Sie explodierte förmlich, schrie in die Waldesstille, trommelte wütend auf ihren Vater ein, obwohl nicht er geschossen hatte, sondern Onkel Justus. Sicher gab es Erklärungen wie „Wir haben dir doch gesagt, was geschehen wird“, beruhigende Worte wie „Kind, wir müssen doch den Wald schützen“, einen schnellen Heimweg und „Um das Reh kümmern wir uns später“, so wird es jedenfalls erzählt, aber Julika erinnert sich an nichts, was nach dem Knall, nach dem Umfallen, nach dem Zucken kam. Die Ohnmacht hingegen, der beißende Schmerz, der ihr in jede Faser ihres Körpers gekrochen war, der flammende Zorn auf die beiden Erwachsenen, die so etwas Entsetzliches tun konnten, diese Gefühle sind ihr alle noch so präsent, als wäre das erst gestern geschehen.
Seitdem will Julika mit Schießen nichts mehr zu tun haben. Deswegen weigert sie sich bis heute, in den Schützenverein zu gehen und Schießen zu lernen.
Justus ist kurz ins Haus gegangen und kommt mit einem Gewehr mit aufmontiertem Zielfernrohr zurück. Fast zärtlich legt er das Teil vor Julikas Vater auf den Tisch und sagt:
„Guck dir das mal an. Hab ich gerade gekauft. Edel, oder?“
Julikas Vater nimmt das Gewehr hoch, fährt mit der Hand über den braunen Holzschaft und betrachtet es von allen Seiten.
„Schon. Aber nicht von uns. Unsere sind besser.“
„Musst du ja sagen“, lacht Justus. „Stimmt aber nicht, guck mal, allein das Gewicht …“
Julika will das nicht hören. Sie zieht ihr Handy aus der Tasche, egal, ob ihrem Vater das jetzt passt oder nicht. Postet eine Suchanzeige für Bello und bei ihrer Klassengruppe. Findet eine Nachricht von Clara. Endlich. Ein Foto von ihr mit ein paar Leuten auf einer breiten Holztreppe, einer Art Terrasse, Clara in der Mitte, alle mit dem V-Zeichen. Chillen im Möckernpark. Wish you were here.
O Mann.
Julika seufzt. Das sieht so cool aus.
Sie hört plötzlich, wie ihr Vater „Bello“ sagt, steckt schnell ihr Handy weg und guckt hoch.
„Bello entführt?“, fragt Justus erstaunt. „Wie kommst du da drauf? Um dich zu erpressen? Womit denn? Hast du eine Freundin?“
Er grinst breit.
„Quatsch!“, antwortet Julikas Vater und fährt sich mit der Hand über die hellen Bartstoppeln in seinem Gesicht. „Aber es gehen so eigenartige Gerüchte um. Von wegen illegalen Verkäufen und so. Ist natürlich nichts dran. Aber wer sich in sowas verbeißt … Gibt ja genug Idioten.“
„Echt mal, Papa? Du glaubst, jemand hat Bello entführt“, sagt Julika. „Krass.“
„Ach, was, vergiss es!“
Ihr Vater winkt ab.
„Trotzdem, lass uns jetzt nach Hause fahren.“