Читать книгу Der tote Rottweiler - Heike Brandt - Страница 6
Prolog
ОглавлениеDie Waffe liegt da, wo sie immer liegt. Im Safe. Der Schlüssel dazu im Schreibtisch, in der zweiten Schublade von oben. Der schmächtige, blonde Junge schiebt sich die Haare aus der Stirn, schließt den Safe auf und greift nach dem schwarzglänzenden Metall. Er legt den Finger um den Abzugshahn, streckt den Arm, kneift ein Auge zu, zielt.
Drückt ab.
Klick.
Ein Sportschütze darf seine Waffe nicht geladen aufbewahren. Die Munition muss immer getrennt von der Waffe lagern.
Sie liegt in der dritten Schublade von oben.
Der Junge lädt mit schnellen Griffen die Pistole und steckt sie sich dann in den Hosenbund, unter das T-Shirt.
Sein Atem geht schnell.
Es ist niemand im Haus, das weiß er, trotzdem guckt er sich vorsichtig um, bevor er das Arbeitszimmer verlässt, hastig den Flur und die Küche durchquert und dann durch die Hintertür in den Garten huscht.
Auch hier niemand zu sehen.
Der Junge rennt über den Rasen, den kleinen Hang hinauf und verschwindet im Rhododendrongebüsch. Den hohen Zaun, der den Garten vom Wald trennt, überwindet er wie im Schlaf, landet sicher auf dem weichen Boden dahinter und folgt dem kleinen Pfad bis zum nächsten Waldweg. Dort liegt, im Gebüsch versteckt, sein Fahrrad.
Er vergewissert sich, dass die Waffe festsitzt, überprüft den Waldweg in beide Richtungen, bevor er aufs Rad steigt und losfährt.
Ein Eichhörnchen witscht vor ihm über den Weg und flitzt einen Baum hinauf. Ein Eichelhäher schlägt an. Ein Specht klopft. Manchmal streifen überhängende Zweige den Oberkörper des Jungen. Der tritt unbeirrt mit aller Kraft in die Pedale, blickt stur geradeaus, auf sein Ziel zu, will nichts anderes sehen, nichts denken. Doch immer wieder schiebt sich ein Bild vor sein inneres Auge. Das Auto, das wackelt. Die nackten Körper. Das eine, ihm zugewandte, das vertraute Gesicht mit den geschlossenen Augen und der verschmierten Wimperntusche.
Falsches Clownsgesicht.
Falsch. Falsch. Falsch.
Er wird es richtig machen.
Zehn Minuten später versteckt er sein Fahrrad im Gebüsch und biegt auf einen schmalen Pfad ab, der sich durch hohe Bäume und dichtes Gestrüpp bis zu einer Lichtung mit einem kaputten Hochsitz schlängelt. Seit dem tödlichen Sturz von Krügers Paul jagt hier niemand mehr. Man hat nie herausgefunden, was genau geschehen ist. Ein unheimlicher Ort. Die neue Holzhütte auf der anderen Seite der Lichtung wird nicht genutzt.
Doch der Hund ist da. Ein kräftiger, dunkler Rottweiler, angeleint am zugewucherten, moosbedeckten Holzpfosten des eingefallenen Hochsitzes. Der Hund wedelt mit dem Schwanz, längst bevor er den Jungen sehen kann. Die Vorderpfoten aufgestemmt, die Brust breit, den Blick erwartungsvoll auf den Pfad gerichtet, auf dem jetzt der Junge auftaucht.
Der bleibt stehen, atmet einmal tief durch, zieht die Waffe aus dem Hosenbund, geht ein paar Schritte auf den Hund zu, sagt: „Ruhig, ganz ruhig“, streckt den Arm aus, legt den Finger um den Abzug, zielt, drückt ab.
Ein trockener Knall.
Der Hund kippt zur Seite. Blut sickert aus der Wunde.
Der Junge verharrt einen Moment, sichert die Pistole, steckt sie in den Hosenbund, hebt die Patronenhülse auf, lässt den Hund nicht aus den Augen.
Doch der rührt sich nicht mehr. Auch nicht, als der Junge ihn mit dem Fuß anstößt.
Sauberer Schuss. Jetzt gibt es kein Alibi mehr.
Das war’s. Er hat es getan. Er hat es wirklich getan.
Mit zitternden Knien macht er sich auf den Heimweg. Was jetzt wird, liegt nicht mehr in seiner Hand.