Читать книгу Der tote Rottweiler - Heike Brandt - Страница 8

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Bobi zeichnet. Die Unterlippe über die Oberlippe geschoben blickt er immer wieder kurz nach vorne, dann auf seinen Zeichenblock. Mit knappen Strichen skizziert er die neue Klassenlehrerin, Frau Zylbersztajn.

Die Frau hat es ihm angetan, vom ersten Moment an. Sie ist zierlich, nicht sehr groß, aber auch nicht wirklich klein, das kurze, dunkelblonde Haar liegt wie eine Kappe auf ihrem Kopf. Die eigenartig hellen Brauen schwingen sich wie Halbmonde über tiefbraune, warm leuchtende Augen. Nase und Lippen ebenmäßig, unauffällig. Das Gesicht sonnengebräunt und ungeschminkt. Um den Hals hängt eine Kette aus weinrotschimmernden, runden, glatten Steinen.

Am Anfang hat Bobi noch zugehört, wie sie der Klasse, die im Stuhlkreis sitzt, das im 10. Schuljahr anstehende Kompetenzprojekt vorstellte: Sie sollen in kleinen Gruppen fächerübergreifend ein Thema erarbeiten, die Ergebnisse in einer Präsentation darstellen und das dann in einer mündlichen Prüfung diskutieren.

Die Themenwahl ist frei, dennoch muss das Thema von der Schulleitung genehmigt werden. Von wegen frei, hat Bobi gedacht, und außerdem ist das bestimmt nichts weiter als eine sinnlose Sammlung von Fakten und Daten, die man genauso gut im Internet findet, copy and paste, das kann er schon. Also schaltet er ab und konzentriert sich aufs Zeichnen, wie immer sein Rettungsanker im Sumpf der tödlichen Langeweile der meisten Schulstunden. Früher hat er gehampelt, Faxen gemacht und deswegen oft Stress gehabt, aber im letzten Schuljahr hat er beschlossen, sich in die hinterste Reihe zu verkrümeln und sich einfach still mit dem zu beschäftigen, was ihn interessiert. Zeichnen zum Beispiel.

Ein Jahr muss er noch durchhalten, dann ist Schluss mit Schule. Was er dann macht, weiß er noch nicht, nur was er dann nicht macht, das weiß er sicher: Er wird nicht versuchen, aufs Gymnasium zu wechseln, um Abitur zu machen. Und er wird ganz bestimmt keine Gastronomie-Ausbildung machen, wie sein Vater Xabier sich das wünscht, damit er später das Familien-Lokal übernehmen kann.

Erstens, meint Bobi, braucht er keine Ausbildung, weil er schon in dem Laden mitarbeitet, seit er über den Tresen gucken kann, und zweitens findet er diesen Blickwinkel reichlich beschränkt. Er will raus in die Welt, möglichst weit weg von dem piefigen Kaff, in dem er groß geworden ist.

Frau Zylbersztajn hat sich von der Klasse abgewandt und schreibt Vorschläge für Kompetenzprojekte ans Whiteboard: „Bionik – der Natur abgeschaut“ – „Der Wandel der Esskultur“ – „Kleider machen Leute“. Nichts für ihn dabei, stellt Bobi fest und will sich wieder seiner Zeichnung widmen, da hört er plötzlich die kratzige Stimme von Natalie:

„Frau Zylbersztajn, ich hab ein Thema: Frieden schaffen ohne Waffen.“

Frau Zylbersztajn nickt zustimmend und schreibt den Satz ans Whiteboard.

„Hä? Was’n das für’n Scheiß?“, poltert Dennis.

Der große, breitschultrige Junge, der auf seinem Stuhl mehr liegt als sitzt, blickt Natalie herausfordernd an.

„Bisschen differenzierter bitte, Dennis“, beschwichtigt die Lehrerin. „Kennt jemand diesen Spruch? Schon mal gehört?“

Reihum Kopfschütteln. Gelangweilte Gesichter.

„Bestimmt was Christliches!“, meint Lara. „So was wie die andere Backe hinhalten oder so?“

„Da ist was dran“, meint Frau Zylbersztajn. „Erklär doch mal, Natalie, wie du darauf kommst!“

Sie nimmt auf dem freien Stuhl neben Dennis Platz.

Natalie richtet sich auf, guckt für einen Moment auf den Boden, hebt entschlossen den Kopf, schiebt sich die hellen Haare, die sie auf der einen Seite lang, auf der anderen rappelkurz geschoren trägt, aus dem Gesicht und klemmt sie hinters Ohr. Ihre blaugrünen Augen funkeln angriffslustig.

„Also“, sagt sie. „Den Satz habe ich zufällig gefunden, bei den Sachen von meiner Oma. Die ist gestorben, im Januar. Frieden schaffen ohne Waffen war die Überschrift vom Berliner Appell von 1982, in der DDR, das war so ein Flugblatt, keine Ahnung, ob meine Oma da mitgemacht hat. Ich hab dann rausgefunden, dass der Satz eigentlich aus der westdeutschen Friedensbewegung stammt, und das war schon ein paar Jahre früher, da sind viele Leute auf die Straße gegangen wegen dem Wettrüsten und …“

Lautes Stöhnen in diversen Varianten. Unruhe.

„Echt mal, wen interessiert denn das?“

Natalie stutzt kurz, fährt dann aber unbeirrt mit etwas lauterer Stimme fort:

„Okay, lange her. Ich will auch kein Geschichtsprojekt machen. Aber trotzdem. Heute sagen alle: Frieden schaffen mit Waffen, anders geht’s nicht. Aber ich glaube, das ist falsch. Frieden und Waffen – das passt einfach nicht. Das ist wie Feuer und Wasser. Funktioniert auch nicht.“

Sie guckt sich um, als erwarte sie Beifall, erntet aber nur ungläubige Gesichter.

„Heißt das, du willst, dass Waffen abgeschafft werden?“, fragt Timo verblüfft und kippelt mit dem Stuhl nach hinten.

Natalie nickt energisch.

„Geht’s noch?“

Timo schüttelt den Kopf, sagt aber nichts weiter.

„Eh, Natalie“, ruft Patrick. „Du weißt schon, wo du lebst, oder?“

Er tippt sich mit dem Finger an die Stirn.

„Was willst du damit sagen, Patrick?“, fragt Frau Zylbersztajn, sehr gelassen, aber bestimmt.

Patrik hebt beide Hände und lässt sie auf seine Oberschenkel platschen.

„Also echt, ist doch sonnenklar!“

„Er will sagen“, übernimmt die kräftige Jennifer eifrig mit lauter Stimme, „der Ort, in dem wir leben, ist durch die Herstellung von Waffen groß geworden, und wir leben auch heute noch von der Herstellung von Waffen. Das willst du doch sagen, oder, Patrick?“

Patrick nickt. Und nicht nur er. Jennifer fährt fort:

„Und du willst sagen: Wir haben hier gerade 200 Jahre Waffenproduktion gefeiert, alle zusammen.“ Sie nimmt Natalie ins Visier: „Hast du das nicht mitgekriegt, Natalie? Das Stadtfest und alles?“

„Genau!“, sagt Patrick und grinst breit. „Wir alle leben davon – und richtig gut! Du doch auch, Natalie. Deine Eltern arbeiten im Werk. Genau wie meine.“

Natalie schluckt. Treffer. Aber bevor sie was sagen kann, ergreift wieder Dennis das Wort:

„Okay, egal. Aber Waffen sind einfach wichtig, ohne Waffen geht’s nicht. Bundeswehr und Polizei – die brauchen doch Waffen, oder?“

„Wirklich?“, meinte Natalie.

„Guck dir doch die Welt an, eh!“, sagt Dennis genervt.

„Eben! Genau deswegen!“, erwidert Natalie bestimmt. „Total im Eimer.“

Dennis richtet sich auf und reckt Natalie seinen ausgestreckten Zeigefinger entgegen:

„Klar braucht die Bundeswehr Waffen, wo lebst du denn? Und die Polizei auch. Sollen sie die vielleicht im Ausland kaufen und hier bei uns werden alle arbeitslos? Das ist doch total sinnlos!“

„Genau!“, unterstützt ihn Jennifer, deren Mutter eine Boutique in der Altstadt betreibt. „Wenn das Werk zumacht, dann sind die meisten Geschäfte und Restaurants platt, weil keiner mehr Geld verdient, das er ausgeben kann. Sollen wir hier alle auf Harz IV oder wie? Komm mal runter, Natalie.“

„Genau!“ Timo lacht verächtlich auf. „Stell dir mal vor, Natalie, da kommt so ein Terrorist und ballert rum, und die Polizei sagt höflich: ‚Bitte legen Sie die Waffe weg, können wir das nicht auch anders regeln?‘ Mensch, Natalie! Was für’n Scheiß ist das denn? Die machen uns fertig, wenn wir uns nicht wehren. Hat schon genug Tote gegeben.“

„Aber wenn die Terroristen keine Waffen hätten …“, wendet Natalie ein, aber weiter kommt sie nicht.

Alle reden durcheinander, die Stimmen überschlagen sich fast. Natalie lehnt sich enttäuscht zurück.

Frau Zylbersztajn steht auf, bittet um Ruhe und meint, man könne das Thema ja auch kontrovers diskutieren. Es müssten ja nicht alle in der Gruppe derselben Meinung sein. Sie sollten sich zu einem Thema eine Kompetenz erarbeiten, was nicht heiße, sie müssten alle dieselbe Meinung vertreten. Meinungen bilde man sich ja erst auf Grund von Fakten und Erfahrungen, und die müsse man erst mal zusammentragen – ein wichtiger Arbeitsschritt bei dem Projekt.

Achselzucken. Schweigen. Feindseliges Schweigen.

Natalie guckt trotzig im Kreis herum, bis ihr Blick an Bobi hängenbleibt. Bobi und sie haben im letzten Schuljahr einen Video-Kurs gemacht und beide sind schnell ein Team geworden – sie Ton, er Bild –, und haben richtig gut zusammengearbeitet, ohne Streit, ohne Stress. In Natalies Augen steht: Wenn hier jemand mitmacht, dann Bobi.

Nicht zu Unrecht. Bobi findet Natalies Projekt-Idee auch gut. Richtig gut. Er sieht das ähnlich wie sie. Krieg ist furchtbar, wahrscheinlich braucht man wirklich keine Waffen. Gewalt geht nicht durch Gewalt weg. Aber leider ist Bobi kein Held. Und da sich ganz eindeutig nicht genug Leute für diese Gruppe finden, muss er sich ja nicht auch noch raushängen wie Natalie und blöde Sprüche kassieren. Allein gegen alle, das hat er nicht drauf. Er senkt den Kopf. Auch wenn das feige ist, auch wenn es ihm peinlich ist, feige zu sein: Er hält sich lieber zurück.

Die Sache scheint gelaufen zu sein.

Doch plötzlich meldet sich Amal, die heute direkt neben Bobi sitzt, eine der eher Stillen der Klasse. Aber jetzt spricht sie laut und deutlich:

„Ich mache mit, Natalie. Schreiben Sie mich auf, Frau Zylbersztajn.“

Und im selben Augenblick reckt auf der anderen Seite des Klassenraums Manuel, der Streber, seinen Arm hoch, schnippst laut mit den Fingern und meint trocken:

„Bin auch dabei.“

Nicht zu fassen, durchfährt es Bobi, der Zug ist noch nicht abgefahren! Und ehe er sich versieht, hat er seinen linken Arm gehoben und kann Natalie wieder in die Augen gucken.

„Ihr spinnt doch!“, sagt Patrick und tippt sich wieder mit dem Finger an die Stirn. „Fantasten!“

Der Schulleiter genehmigt das Projekt Frieden schaffen ohne Waffen, aber nicht ohne Frau Zylbersztajn eindringlich auf ihre Verantwortung hingewiesen zu haben. Der Schulleiter fürchte, so erklärt es die Lehrerin der kleinen Gruppe, es könnten ideologische Fronten aufgebaut werden. „Wir wissen doch, aus welcher Zeit dieser Spruch stammt!“, habe er gesagt und verlangt, die Lehrerin solle unbedingt darauf achten, dass das Thema ausschließlich sachlich und unter Berücksichtigung aller relevanten Fakten angegangen werde. „Bedenken Sie bitte, in welcher Stadt wir leben“, habe der Schulleiter ihr noch mit auf den Weg gegeben.

Bobi beobachtet fasziniert, wie sich die heute smaragdgrünen Steine von Frau Zylbersztajns Halskette bei jedem ihrer Worte sachte auf der braunen Haut bewegen. Genau das würde er mit der Kamera aufzeichnen, wenn er eine hätte, überlegt er.

Manuel lacht laut auf:

„Verantwortung!“, sagt er. „Echt mal! Der Typ baut doch selber eine ideologische Front auf. Bedenken Sie, in welcher Stadt wir leben.“ Manuel kann die Stimme des Schulleiters fast perfekt nachahmen. „Hallo?“

„Ist doch Erpressung, oder?“, sagt Natalie. „Müssen Sie jetzt aufpassen, dass wir nichts gegen das Werk sagen?“

Frau Zylbersztajn zuckt die Achseln.

„Für mich heißt Verantwortung übernehmen, dass ich euch zur Verfügung stehe, wenn ihr mich braucht. Das heißt, ich werde euch Hilfestellung leisten, wenn nötig. Aber ich werde euch nicht reinreden. Und euch auch nicht sagen, wie ihr vorgehen müsst.“

„Okay“, sagt Manuel gedehnt.

Bobi sagt nichts. Aber er ist schwer beindruckt. Im Klartext heißt das, egal, was sie machen, sie steht hinter ihnen. Wenn Frau Zylbersztajn das wirklich so meint, ist das groß. Ob das an dem Thema liegt? Weil sie das auch so sieht?

Frau Zylbersztajn fährt fort:

„Ihr habt euch da ein Riesenthema vorgenommen. Seht zu, dass ihr es ein bisschen eingrenzt, sonst verzettelt ihr euch hoffnungslos. Möglicherweise wollt ihr auch einen persönlichen Bezug herstellen – es ist ja schließlich ein Thema, das sehr polarisiert, wie ihr ja schon in eurer Klasse bemerkt habt.“

Amal nickt nachdenklich.

„Abgesehen vom Inhalt müsst ihr natürlich eine Form finden, wie ihr eure Fakten zusammenstellt, wie ihr sie präsentiert.“

„Ich hab schon eine Idee“, sagt Natalie fröhlich und holt aus ihrer Tasche eine kleine Kamera.

„Du willst einen Film machen?“, fragt Bobi. „Geil.“

„Genau! Wozu haben wir denn den Kurs im letzten Jahr gemacht?“

„He, he, mal langsam“, sagt Manuel. „Wie soll denn das gehen? Ich hab von Film keine Ahnung. Du, Amal?“

Amal schüttelt den Kopf.

„Das macht doch nichts“, antwortet Natalie. „Also, die technischen Sachen, die können Bobi und ich. Er die Bilder, ich den Ton. Das können wir. Die Kamera hab ich mir schon vom Medienwart ausgeliehen, die Sachen für den Ton kriege ich auch. Was wir aufnehmen, das können wir doch alle zusammen überlegen und so? Oder?“

„Müssen wir das jetzt schon entscheiden?“, fragt Manuel.

„Lasst euch Zeit“, sagt Frau Zylbersztajn. „Denkt in Ruhe darüber nach. Als eine Option. Aber bevor ihr weiterdiskutiert, müssen wir noch ein paar Sachen klären.“

Es geht um Termine für Zwischenberichte, Fertigstellung, mündliche Prüfung und um die Benotung der Arbeit. Denn natürlich werden sie benotet, und zwar alle gemeinsam, und diese Note geht in die Gesamtnote von Ethik und von Geschichte ein.

„Eh, das ist aber ungerecht!“, braust Manuel auf. „Ich kann mir doch nicht von euch meinen Durchschnitt versauen lassen!“

Manuel braucht gute Noten, weil er am Ende des Schuljahrs aufs Gymnasium wechseln will.

„Wer sagt denn, dass du nicht unseren versaust?“, gibt Natalie zurück.

Manuel bläst die Backen auf und schüttelt genervt den Kopf.

„Müsst ihr eben gut zusammenarbeiten“, sagt Frau Zylbersztajn lakonisch. „Das schafft ihr schon. Übrigens“, sagt sie und steht auf. „Ihr könnt gerne den Klassenraum zum Arbeiten benutzen, nach dem Unterricht.“

Mit diesen Worten lässt sie die vier allein.

„Also, ich bleib nicht länger in der Schule als nötig“, sagt Bobi. „Hier kann ich nicht arbeiten, hier schrumpft mein Hirn. Außerdem muss ich jetzt los. Gitarrenunterricht.“

Auch die anderen wollen auf keinen Fall in der Schule arbeiten.

„Bei uns im Restaurant?“, schlägt Bobi vor. „Mit Getränken?“

„Aber im Restaurant ist es doch viel zu laut. Wie sollen wir da Aufnahmen machen?“, meint Natalie und wedelt mit der Kamera.

„Hey! Wir müssen doch erst überlegen, ob wir überhaupt einen Film machen und so“, meint Amal und zieht die Stirn kraus. „Erst mal bei Bobi, find ich gut. Und dann können wir immer noch was Ruhiges suchen.“

„Genau. Wir gehen auf den Friedhof!“, knurrt Manuel.

Sie haben sich für den frühen Abend in der Casa Acracia verabredet, dem Restaurant von Bobis Eltern am Rande der Altstadt. Die Sonne scheint, Bobi hat einen Tisch auf der Terrasse ausgesucht, der ganz außen liegt.

Als alle da sind und bei Bobi am Tisch sitzen, kommt der Kellner zu ihnen, nimmt Bobi kurz in den Arm und sagt fröhlich:

„Hallo, ich bin Xabier, Bobis Vater, seid herzlich willkommen!“

„Das ist Amal, das Manuel und das Natalie“, stellt Bobi die kleine Gruppe vor.

„Schön, dass ihr hier seid, ihr seid heute unsere Gäste“, erwidert Xabier lächelnd, streicht sich seine wilden Wuschellocken aus der Stirn und nimmt ihre Bestellungen entgegen. Kurz darauf serviert er die Getränke.

„Heißt das was, Casa Acracia“, fragt Amal und zeigt auf das Schild über dem Eingang.

„Casa – mit scharfem s! – ist Spanisch und heißt Haus, und Acracia ist der Vorname von meiner Oma, meine Großeltern haben das Restaurant aufgemacht, irgendwann vor vierzig Jahren oder so.

„Bedeutet Acracia was?“

„Ja, sowas wie: ohne Herrschaft, ohne Macht.“

„Echt? Wer gibt denn seinem Kind so einen Namen?“, fragt Manuel.

Bobi zuckt die Achseln.

„Die Eltern, nehme ich mal an. Die waren Anarchisten, hat mir meine Oma erzählt. Haben gegen Franco gekämpft.“

„Anarchisten?“

Manuel bekommt runde Augen.

„So Bombenleger und so?“

Xabier, der ein Schälchen mit Erdnüssen und eines mit Oliven an den Tisch bringt, guckt Manuel an, grinst und sagt:

„Ach, Quatsch! Anarchisten sind Leute, die keine Regierung wollen, keinen Staat, keine Macht, alle Menschen sollen selber bestimmen. Weiter nix. Willst du doch auch, selber bestimmen, oder?“

„Schon“, brummt Manuel. „Aber wenn das nun jeder machen würde?“

„Eben, genau darum geht’s“, lächelt Xabier, legt ihm kurz die Hand auf die Schulter und läuft nach drinnen, weil die Küche klingelt.

Manuel guckt ihm mit großen Augen hinterher.

Amal sagt:

„Krasse Idee. Muss ich mir mal durch den Kopf gehen lassen.“

„Sowas macht Xabier gerne“, sagt Bobi. „Wirft einem solche Brocken hin und sagt dann: Denk mal drüber nach.“

„Nice“, sagt Amal und nickt.

„Aber jetzt nicht, jetzt wollen wir über das Projekt reden!“, sagt Natalie und guckt dabei so tatendurstig, als wollte sie einen Spatz in der Regenrinne vor dem Ertrinken retten. Als Erstes möchte sie klären, ob sie nun einen Film machen oder nicht. Manuel sperrt sich, bringt als Alternative Powerpoint ins Spiel, aber da verdrehen die anderen drei sofort die Augen. Powerpoint sei total abgerockt, gehe gar nicht. Weil niemandem was Besseres einfällt, bleibt es erst mal beim Film. Manuel besteht aber darauf, trotzdem Daten und Fakten schriftlich zu sammeln, er will eine Dropbox oder eine Cloud oder sowas einrichten.

„Okay. Und lasst uns ´ne Gruppe einrichten“, sagt Amal.

„Genau“, sagt Manuel und zückt sein Handy. „Ich weiß sogar schon einen Namen!“

„Und?“, fragt Bobi.

„Fantasten!“

„Wieso das denn?“, fragt Natalie irritiert.

„Na, wegen Patrick“, sagt Amal lächelnd. „Nice.“

„Das klingt blöd!“, sagt Natalie. „Wir meinen das doch ernst, oder?“

„Eben“, sagt Amal. „Genau deswegen.“

„Cool“, sagt Bobi. „Aber … wir haben doch auch Mädchen dabei!“

„Genau!“

Amal grinst.

„Sag ich doch! Wir sind doch gar keine Fantasten! Bloß in Patricks Augen. Ist sozusagen ein Zitat.“

Natalie blickt sie verwundert an, sagt aber nichts mehr.

Ein paarmal Tippen, und alle sind miteinander verbunden.

Jetzt endlich kommt Natalie dazu, auf den Tisch zu packen, was sie schon die ganze Zeit vorschlagen will. Sie möchte, dass sie als Erstes Interviews mit sich selbst machen.

„Vor der Kamera. Warum wir bei dem Projekt mitmachen, wer wir sind und so. Ich meine, wir kennen uns doch gar nicht richtig und so.“

„Wie jetzt?“, fragt Bobi erstaunt und nimmt einen Schluck von seiner Apfelschorle. „Geht’s jetzt um uns oder um Frieden und so?“

Für das Projekt müssten sie in jedem Fall Interviews machen, meint Natalie, da sei es doch gut, wenn sie das schon mal ausprobiert hätten. Also warum nicht erst mal bei sich selbst anfangen?

Skeptische Blicke.

„Guckt mal, das ist sozusagen ins Unreine“, sagt Natalie beschwörend. „So eine Art Selbstvergewisserung. Äh, sagen wir ein gespiegeltes Selfie.“

„Geht’s noch komplizierter?“, meint Manuel. „Also, du willst, dass wir uns vorstellen, also du zum Beispiel sagst vor der Kamera, wer du bist, wovon du nachts träumst, in wen du verliebt bist, und warum du das Projekt machst. So, ja?“

Natalie holt tief Luft, zieht die Augenbrauen hoch, antwortet aber nicht. Manuel grinst, dann fügt er hinzu:

„Okay, warum nicht. Kann lustig werden. Bin dabei.“

Amal hebt den Daumen, Bobi auch.

„Aber es müssen alle ehrlich sein“, sagt Amal. „Sonst mach ich nicht mit. Ich hab keinen Bock auf fake storys.“

Manuel zieht sein „Okay …“ kaugummilang, Bobi nickt eifrig und Natalie meint, sonst habe das alles ja keinen Sinn.

„Ich meine, ihr habt doch gehört, wie die anderen drauf sind.“

Das Telefon des Restaurants klingelt laut in ihr Gespräch. Xabier verschwindet hinter der Bar.

Gleichzeitig betritt eine größere Gruppe die Terrasse, Leute vom Chor Liederreigen, die nach dem Singen gemeinsam Essen gehen. Xabier kommt herausgeeilt, macht sich sofort daran, Tische zusammenzustellen und ruft dabei seinem Sohn zu:

„Bobi, te necesito. María llamó, está enferma, y hay un montón de trabajo.“

„Na toll“, erwidert Bobi und zieht ein Gesicht. „Und jeder kann machen, was er will, ja?”

„Venga, es otra cosa y tu lo sabes.”

Xabiers Ton lässt keinen Zweifel offen.

„Was ist denn los?”, fragt Natalie.

„Sorry, die Party ist zu Ende. Ihr müsst ohne mich weitermachen. Die Frau, die hinterm Tresen arbeitet, ist krank, ich muss einspringen; ihr seht ja, was los ist. Scheiße, aber was soll ich machen?“

Xabier verteilt Speisekarten an die neuen Gäste und nimmt die Getränke auf. Bobi geht hinter die Bar, Bier zapfen, Mineralwasser eingießen, Radler oder Schorle mischen, Weinflaschen aufmachen, Gläser spülen, Gläser spülen, Gläser spülen und Cafecitos zubereiten. Die meisten Gäste bestellen allerdings Espresso. Spanier oder Italiener, wer will das schon so genau wissen.

Kurz darauf beenden Natalie, Manuel und Amal das Treffen und brechen auf. Amal kommt zum Tresen und informiert Bobi:

„Wir treffen uns übermorgen um die gleiche Zeit im Schrebergarten von Natalies Eltern, in der Kolonie Unsere Scholle, und machen erst mal die Interviews mit uns, okay?“

Er nickt und überlegt krampfhaft, was er sagen könnte, damit sie noch ein bisschen bleibt. Aber da hat sie schon „Tschüs, bis morgen!“ gesagt, und weg ist sie. Enttäuscht blickt er ihr hinterher.

Er hätte gerne mit ihr und den anderen noch länger darüber gesprochen, wie so ein Film aussehen könnte. Superidee von Natalie. Im Video-Kurs im vorigen Schuljahr hat Bobi gemerkt, dass Kamera genau sein Ding ist. Er kann sich hinter die Linse zurückziehen, kann Distanz zwischen sich und die Dinge bringen, bleibt Beobachter, ist selber aus dem Focus. Die Kamera ermöglicht ihm einen anderen Blick, er sieht alles klarer und genauer, und zudem kann er den Moment festhalten. Nur die Montage hinterher ist nicht so leicht. Dazu braucht man ein gutes Programm. Zum Glück gibt es in der Schule eins, und da sie ein Schulprojekt machen, werden sie das sicher benutzen können. Und auf YouTube gibt es jede Menge gute Anleitungen.

Xabier schleppt immer neue Gläser heran. Aber das macht Bobi nichts. Gläserspülen hat für ihn etwas sehr Beruhigendes. Seine Handbewegungen laufen automatisch, er spült immer zwei Gläser auf einmal. Lippenstift und Fettspuren entdeckt er sicher. Bei ihm geht kein schmutziges Glas raus. Auch das Abarbeiten von Xabiers Zetteln, Getränke fertigmachen und aufs Tablett stellen, funktioniert längst reibungslos. Bobi hat ein eigenes System entwickelt, ohne überflüssige Bewegungen oder doppelte Wege. Er ist fast schon so schnell wie Xabier.

Die Gruppe draußen auf der Terrasse wird lauter. Je mehr Alkohol die Leute trinken, desto lebendiger werden sie. Längst sind auch die anderen Tische besetzt. Xabier rennt hin und her, schleppt Wein und Bier und Essen und Kaffee. Trotzdem bleibt er mal hier und mal da stehen und redet mit den Leuten. Bis jemand was bestellen oder bezahlen will oder die Küche klingelt und er nach hinten laufen muss.

Ein paar Stunden Hektik, dann wird es ruhiger. Nach und nach brechen die Gäste auf. Vom Liederreigen sind noch zwei Leute dageblieben, eine Frau in Xabiers Alter und ein Mann, der jünger ist als sie. Sie sitzen sich still gegenüber und nippen immer mal wieder versonnen am Wein. Sie wissen nicht, dass Bobi vom Tresen aus unter ihren Tisch gucken kann. Und da geht es wesentlich lebhafter zu. Ihre Beine sprechen miteinander, sehr, sehr angeregt. Jetzt eine Kamera, denkt Bobi.

Die beiden trinken aus, zahlen und stehen auf. Küsschen links, Küsschen rechts, mit Abstand. Sie geht in die eine, er in die andere Richtung.

„Kennst du die?“, fragt Bobi Xabier.

„Der Typ“, sagt er, „ist öfter hier. Kommt aus München.“

„Und die Frau?“

„Gehört zum Chor, mehr weiß ich nicht.“

„Haben die beiden was?“

Xabier lacht.

„Seguro! Und sie ist bestimmt verheiratet.“

„Warum macht die sowas?“

„Was weiß ich! Da gibt’s tausend Gründe. Und der Typ sieht doch sympathisch aus – jung, fit, lebendig!“

„Krass verlogen, oder?“

„Klar. Könnte natürlich auch anders sein: Sie liebt zwei Männer, und beide finden das okay.“

„Echt mal?“

„Warum nicht? Wenn alle einverstanden sind? Hier, das sind die letzten Gläser.“

Bobi hat keine Ahnung, wie er das finden soll. In jedem Fall ist das, was er hier gesehen hat, eindeutig heimlich. Also sind nicht alle einverstanden.

„Wenn du den Mann von der kennen würdest, würdest du dem das sagen mit dem Lover?“, fragt er seinen Vater und stülpt das letzte Bierglas ins Spülbecken.

„Wenn er mein Freund wäre, würde ich mit der Frau sprechen. Dass die’s ihm sagt, glaube ich. Ihm das sagen? Nee, würde ich nicht.“

Ist das feige?, überlegt Bobi. Oder Freundschaft?

Die beiden putzen die Bar, stellen die Stühle hoch, rücken die Tische auf der Terrasse zusammen. Inzwischen sind auch Naira und Uwe mit der Küche fertig. Sie können abschließen.

Xabier und Bobi haben keinen weiten Heimweg, sie wohnen direkt über dem Restaurant.

Bobi würde Xabier gerne fragen, wie das mit ihm und Sofia und der Liebe ist. Aber da sind sie schon an der Wohnungstür. Er ist müde und Xabier auch. Und irgendwie kann sich Bobi überhaupt nicht vorstellen, dass Xabier heimlich eine Freundin haben könnte oder Sofia einen Freund. Im Leben nicht.

Der tote Rottweiler

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