Читать книгу Niemand hört dich schreien - Heike Gehlhaar - Страница 5

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Kapitel 1

Siebenhundert Jahre sind vergangen…

Schwer, wie ein Marathon durch die Sahara, fühlt sich heute Morgen ihr Weg durchs Verlagshaus an. Die Autorin Rita Dankeschön verließ vor wenigen Minuten das Büro der Lektorin. Ungläubig verliert sich ihr starrer Blick im langen Flur zum Treppenhaus. Dabei war vor einer Stunde ihre Welt noch in Ordnung. Obwohl sie inzwischen beinahe im Parkhaus steht, fühlt sie, wie sich in ihrer Brust das Herz noch immer überschlägt. Mit einem unangenehmen Rauschen im Ohr und wie durch einen Tunnel hallen die Worte der Lektorin in ihrem Gehirn wider.

Nie hätte sie damit gerechnet, dass das Manuskript vom ’Feuervogel’ auf so viel Ablehnung stößt. Nach dem Erfolg ihres Romans vom ’Hasen’ und der ’Trabant-Tür’ vertraute man ihr und wartete gespannt auf ein ebensolches faszinationsgeladenes Werk. An Spannung mangelte es dem neuen Buch keineswegs, dennoch schrieb sie etwas komplett anderes. Dass sich diese Tatsache zu einem Problem entwickeln könnte, war ihr nicht klar. In den vergangen Monaten fragte man seitens des Verlages nicht einmal nach. Sie gingen eben davon aus, dass sie eine Fortsetzung schreiben würde. Um ehrlich zu sein, war es auch so abgesprochen. Darüber hinaus ließ man ihr freie Hand. Aber seit einer halben Stunde weiß sie, so frei dann eben doch nicht.

Eine Fortsetzung, wie soll das gehen? Die Frage treibt sie um.

Viele Geschichten des so erfolgreichen Romans stammten ja schließlich nur bedingt aus ihrer Feder. Vor beinahe drei Jahren befand sich Rita schon einmal in einer ähnlichen Situation. Wie heute, saß sie damals vor jenem Büro und fühlte sich wie im Vorzimmer des Rektors ihrer Schule. Die Sichtung ihrer ersten Geschichte für das neu entstehende Buch gefiel der Frau mit dem ernsten Gesichtsausdruck hinter dem riesigen Schreibtisch offensichtlich nicht.

»Die Ansätze sind gut!«, begann sie. »Sie haben wirklich Talent. Auch Ihr Exposee ist durchaus vielversprechend. Aber ich sage Ihnen: Eine Geschichte dieser Art ist in Ordnung, jedoch nicht mehrere! Sie müssen mehr Pep und Spannung in die Geschichten bringen, sonst langweilen wir die Leser. Vielleicht sollten Sie eine Spur Erotik oder Anrüchigkeit hineinbringen. Auch von kriminalistischen Inhalten lässt man sich gern verführen!«

Nur der Zufall sorgte damals dafür, dass sie diesen Anspruch erfüllen und mit ihrem so entstandenen Roman einen recht beachtlichen Erfolg feiern konnte. Die chaotische Fahrt mit dem IC 2029 von Hamburg nach Nürnberg, der beinahe zehn Stunden vor einer Schneewehe stand, versorgte Rita mit so viel Stoff, dass es für einen vollständigen Roman reichte. Es war göttliche Fügung, dass sie ausgerechnet mit diesen Menschen im selben Abteil saß. Davon ist sie heute überzeugt. Allesamt fantastische Erzähler, mutig und mit einem goldigen Humor gesegnet. Noch immer pflegt sie mit allen einen regen freundschaftlichen Kontakt.

Bei der Lesung zur Markteinführung ihres Buches hatte keiner von ihnen gefehlt. Auf dem Heimweg sah es zunächst so aus, als könnte es eine Wiederholung der damaligen Erlebnisse geben. Der Halt des IC währte allerdings nur kurz und so ging man auseinander. Jedoch nicht, ohne zu versprechen, sich in Zukunft nicht aus den Augen verlieren zu wollen. Es ist sehr wahrscheinlich, dass das auch gelingt. Die Ereignisse, die diese unterschiedlichen Menschen so eng zueinander brachten, waren schon einmalig und somit unvergesslich.

Das nützt ihr jetzt überhaupt nichts. Inzwischen ist sie im Parkhaus und hält den Autoschlüssel in der Hand. Noch immer reagiert ihr Gehirn wie gelähmt. Es arbeitet, als hätte man es in ein Glas mit klebrigem Honig gesteckt. Ratlos sitzt sie in ihrem altersschwachen Polo. Der Vorschuss von fünftausend Euro ist lange aufgebraucht. Vier Monate, mehr Zeit will und kann man ihr nicht mehr einräumen. Ein neues Konzept in so kurzer Zeit? Achtzehn Monate schrieb sie an der Fantasiegeschichte. Als dünn und wenig verkäuflich bezeichnete es die Lektorin.

Und nun? »Aufhören, nie wieder schreiben! Ich packe meine Sachen und verschwinde einfach!«

Auch nach der zweiten Zigarette sitzt sie unbeweglich und kopfschüttelnd hinterm Lenkrad - sieht in den Rückspiegel und findet, dass sie furchtbar aussieht.

»Na klar, den Kopf in den Sand! Und wovon soll ich den Vorschuss und die Vertragsstrafe zahlen, die damit auf mich warten?«

Schon frühzeitig begann der Verlag, für sie und das erwartete Buch zu werben. Rita empfand es als eine große Ehre und hoffte auf einen sicheren Erfolg, wenn sie mit so vielen Vorschusslorbeeren an den Start gehen kann. Dumm nur, dass ihr neues Buch komplett durchfiel. Sie wirkt völlig apathisch und der Wagen steht noch immer auf dem Parkplatz. Wie lange, weiß sie irgendwann nicht mehr. Sie hat jegliches Zeitgefühl verloren. Dann kehrt sie langsam aus ihrer Starre zurück. Ihr Blick hängt am Armaturenbrett und ihre Ohren folgen den Werbesprüchen des Radios, die auf sie einprasseln. Mit beinahe leerem Kopf legt sie den Gang ein.

»Der Wagen wird schon den Weg nach Hause finden«, murmelt sie.

Wie von Geisterhand gesteuert fährt er tatsächlich los.

In einem Jogginganzug, neben sich eine Flasche Rotwein, in ihre Kuscheldecke eingewickelt und mit verheulten Augen findet sie sich Stunden später auf dem häuslichen Sofa wieder. Die vergangenen Stunden erlebte sie wie in Trance. Ein Gehirn aus Watte, was jedes Bild durch einen Schleier sieht. Wie sie heimkam, ist ihr nicht wirklich bewusst. Gut, dass ein panisches Gehirn auch durchaus automatisierten Abläufen folgen kann. Rita ist der beste Beweis dafür. Schon das zweite Glas Rotwein!

Eine halbe Packung nasser Tempos stapeln sich vor ihr auf dem Kissen und plötzlich kommt Leben und Bewegung in das Häufchen Unglück. Im Nebelschleier des nun wirkenden Alkoholspiegels erinnert sich ihr Unterbewusstsein an das Letzte was sie hörte, bevor der Automatismus sie einfach nur noch handeln ließ. Wovon der Werbespot berichtete, weiß sie nicht. Aber vor den glasigen Augen entsteht eine Idee und der letzte Strohhalm nach dem sie greift. Etwas, was nüchtern komplett verrückt und zum Scheitern verurteilt wäre. Aber Rita ist Gottsei-Dank alles andere als nüchtern. Krakelig und nur mit viel Fantasie ist nachzuvollziehen, was die wackelige Hand aufs Papier kritzelt. Erneut entsteht eine Erinnerungslücke.

Als sie wieder zu sich kommt, sieht sie sich am Schreibtisch sitzend. Das Display des Laptops blendet ihre müden Augen. Ratlos steht sie auf und alles, was sie noch bemerkt, ist das Kuschelkissen der Sofalandschaft an ihrem heißen Gesicht. Dann gehen alle Lichter aus.

Nachmittag - 16:30 Uhr - ihre Augen werden erneut geblendet. Jetzt ist es die Sonne, die Rita ins Gesicht scheint. Sie weigert sich, die schweren Lider zu heben und doch schreit ihr Gehirn: »Aufstehen, dein Körper hat Bedürfnisse!«

Eine halbe Stunde wird es dauern, ehe sie bereit ist, den neuen Tag, der sich schon dem Abend zuneigt, zu akzeptieren. Viel kaltes Wasser, eine Kanne Kaffee und drei Aspirin sollten Rita wiederbeleben. Eine weitere Stunde später schleppt sie sich in die Küche. Auf dem Weg dorthin kommt sie am Laptop vorbei und klappt ihn im Vorbeigehen, quasi aus Gewohnheit auf. Er ist noch immer an. Offenbar war sie gestern nicht mehr in der Lage, ihn ordnungsgemäß herunterzufahren. So ein vollständiger black out ist ihr noch niemals passiert.

»Grund genug hatte ich und um ehrlich zu sein, würde ich gerne dort weitermachen, wo ich in der letzten Nacht aufgehört habe!«

Stöhnend bleibt ihr Blick an dem Rest Rotwein im Glas hängen.

»Was ist denn das?«

Stirnrunzelnd verfolgt sie die geöffneten Pfade im Netz, denen sie gestern Nacht noch mühelos folgen konnte. Ganz langsam, beinahe in Zeitlupe erkennt sie, was sie im Vollrausch getan hatte. Noch auf einen Irrtum hoffend, starrt sie auf die Bestätigungsmail, die 10:15 Uhr bei ihr einging.

»Vielen Dank für Ihre Anzeige! In den nächsten sechs Ausgaben unserer Infoliteratur werden wir Ihre acht Zeilen veröffentlichen. Anbei erhalten Sie online die Rechnung…«

Was für ein Blödsinn?, denkt sie und liest fassungslos die Worte, die sie in dem Aufruf unter der Rubrik Kleinanzeigen veröffentlichte.

»…Erzähler gesucht… auch jeder Spinner ist hierzu gern eingeladen…«

»Die im Verlagshaus haben gesagt, ich hätte mein schriftstellerisches Talent verloren! Irrtum, da steht es klar und deutlich und das auch noch stockbesoffen formuliert!«

Noch hat sie die Hoffnung, dass sich auf so einen Quatsch niemand meldet.

»Aber was tue ich, wenn doch?«

Bei dieser Frage läuft es ihr eiskalt über den Rücken. Und dennoch, es belebt sie und lässt sie anfangen zu recherchieren.

»In jedem Fall sollte ich vorbereitet sein. Ich suche mir jetzt einen passenden Ort, der für so ein verrücktes Vorhaben geeignet scheint. Sollte ich dort tatsächlich alleine sein, hilft mir die Umgebung vielleicht bei einem Neuanfang. Ansonsten bleibt mir nur noch eine Option: Erschießen!«

Ihre Worte hallen von den Wänden wider.

Nun beginnt sie zu suchen. Lange muss sie graben und recherchieren. Irgendwann glaubt Rita gefunden zu haben, wonach sie so lange und intensiv auf der Suche war. Sie sieht sich das alte Gemäuer an und geht mit der Maus auf eine virtuelle Besichtigungstour. Fasziniert verfolgen ihre Augen den Kameraschwenk über das gesamte Anwesen. Plötzlich packt sie eine enorme Unruhe, es hält sie kaum noch auf ihrem Stuhl. Zwei Wochen später hat sie das Landgut für ein verlängertes Wochenende, komplett mit mehr als zehn verfügbaren Gästezimmern, vorhandenem Personal und allem, was sonst noch dazugehört, gemietet.

Niemand hört dich schreien

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