Читать книгу Niemand hört dich schreien - Heike Gehlhaar - Страница 6

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Kapitel 2

Mit einem lauten Knall verabschiedet sich der Motor ihres alten Polos und das scheinbar für immer.

Egal!, denkt Rita frustriert. Von hier aus geht es ohnehin nur noch zu Fuß weiter.

Zumindest ist ihr Ziel gut ausgeschildert. Sie öffnet den Kofferraum, hängt sich die Handtasche über die Schulter, holt den Laptop und den Koffer heraus, schließt den Wagen ab und schaut sich stöhnend um.

»Ich muss komplett irre gewesen sein! Klar, besoffen, wie sonst kann man an solch einem unwirklichen Ort landen?«

Nervös kramt sie nach einer Zigarette in der Handtasche.

Wie selbstverständlich greift sie nach ihrem Smartphone.

»Super, kein Netz! Wie auch? Das kommt davon, wenn man am Arsch der Welt ein Wochenende verbringen will! Hoffentlich verfügen die wenigstens über einen Festnetzanschluss.«

Zum Jammern ist es viel zu spät. Jetzt muss sie endlich handeln. Die fehlende Internetverbindung ist kein größeres Problem, denn jeder der eingeladenen Erzähler bekam einen genauen Routenplan mit Karte und vollständiger Adresse.

Das dürfte doch zu schaffen sein!, grübelt sie.

Schließlich lud sie die Leute nicht auf den Mars oder gar in eine ferne Galaxie ein.

Aber bereits nach kurzer Zeit beschleichen sie erste Zweifel. Der schmale Pfad dem sie folgt, verschwindet scheinbar mit jedem weiteren Meter in der Wildnis. Ein dichter Nadelwald, der durch sein mageres Unterholz an Hänsel und Gretel erinnert, wird nach jeder Wegbiegung dichter und undurchdringlicher.

Plötzlich weiß Rita, dass sie seit Minuten kein Geräusch mehr hört. Kein Vogel, kein Insekt und schon gar keine Zivilisationsgeräusche dringen an ihr Ohr. Sofort dreht sie sich um. Niemand zu sehen! Das Licht wird zunehmend spärlicher. Zum einen ist es das schlechte Wetter und zum anderen die fortgeschrittene Tageszeit, die die alten Bäume in dunkle Umrisse verwandeln.

Nun ja, Anfang Oktober muss man durchaus mit ungemütlichem Wetter rechnen. »Aber warum ausgerechnet heute?« Inzwischen schreit die bis auf die Knochen durchgefrorene Frau ihre Worte den Bäumen entgegen. Die Zweige biegen sich immer weiter nach unten in dem nun stärker werdenden Wind.

»Zwei Kilometer stand auf dem Schild! Das kann doch nicht so weit sein?«

Allmählich macht sich bei ihr Erschöpfung breit. In den letzten Monaten hatte sich Rita nur selten an frischer Luft bewegt. Sie saß Stunden vor ihrem Laptop.

Und wofür das alles?

Sie beschließt aufzuhören, sich selbst zu bemitleiden.

Dann fange ich eben noch einmal von vorne an! Das verspricht sie sich.

Nur müsste sie dafür zunächst dem Walddickicht entkommen. Plötzlich bleibt sie stehen. Der Koffer fällt um. Nach dem knackenden Geräusch aus dem schwarzen Unterholz des unheimlichen Waldes hat sie sich nicht einen Zentimeter weiter bewegt.

Ihr Gehirn schreit: »Lauf, beweg dich! Los!«

Die zu Tode erschrockene Frau steht noch immer auf diesem einen Fleck. Nicht ein Haar von ihr bewegt sich noch im Wind. Rita weiß, sie könnte sich in den nächsten Minuten selbst in eine der dunklen Fichten verwandeln. Unter ihren Füßen spürt sie bereits die Wurzeln, die notwendig wären, um in dem Walddickicht für immer zu verschwinden.

Wieder ein Knacken, noch näher!

Ihre Augen beginnen zu tränen. Dabei muss sie sich sehr anstrengen, um etwas zu entdecken, wo nichts zu entdecken ist. Dann ist es wieder vollständig still. Selbst der Wind hält den Atem an. Wie im Auge eines Hurrikans steht die Zeit still. Jetzt läuft sie los, zerrt den Koffer hinter sich her, ihr Atem überschlägt sich und als sie stolpert, glaubt sie, dass rechts aus dem Wald Wurzeln auf sie zukommen, bereit sich um ihren Fuß zu wickeln und sie in die Tiefen des Dickichts zu zerren.

Der Schmerz im Knie weckt sie. Rita steht auf und beginnt wieder zu laufen, ohne sich nochmals umzusehen.

Inzwischen befindet sie sich in einem Tunnel. Tränen der Erleichterung laufen ihr übers Gesicht, als sie in der Ferne rote Ziegel entdeckt. Wie ein Ertrinkender krallt sich ihr Blick an den hinter den gewaltigen Wipfeln der Fichten hervorlugenden roten Punkte fest. Mit jedem weiteren Schritt auf das rettende Ziel zu werden ihre Füße schneller. Mit letzter Kraft lässt sie sich von den roten Ziegeln ziehen, die wie ein kaum wahrnehmbarer Hoffnungsschimmer durch die sich im Wind bewegenden Äste der Fichten aufblitzen.

Dann endlich lichtet sich vor ihr der Wald. Der Weg wird breiter und heller. Er scheint nun gerader und führt augenscheinlich direkt zum Anwesen. Der Waldweg wird rechts und links von flachen welkem Gras gesäumt. Es ist ungepflegt wie die blattlosen abgestorbenen Stämme uralter Bäume, die wie ein warnendes Hinweisschild in einer Reihe angeordnet stehen. Dann ist es geschafft. Vor ihr erstreckt sich eine zirka zwei Meter hohe Mauer. Sie umschließt das gesamte Gelände und reicht soweit der von Tränen verschleierte Blick sieht.

Hätte ich mich doch erschossen!, denkt sie.

Auf den unregelmäßigen Steinen der Mauer befinden sich rote Ziegel. Denen verdankt es Rita, dass sie dem endgültigen Zusammenbruch bereits im Wald noch einmal entkam. Ein weiterer Waldweg führt am Landsitz vorbei. Die wild wuchernden Wurzeln, die Rita vermutlich bis ans Lebensende Albträume bescheren werden, durchziehen jeden Weg und die Wiesen. Sie machen nicht einmal vor den Mauersteinen halt. Vielleicht werden sie eines Tages endgültig die Macht über das Areal übernehmen. Über die gesamte Mauer wuchert wilder Efeu bis hoch zu den Ziegeln. Die mächtigen Blätter haben sich bereits rot verfärbt.

Für die Schönheit des natürlichen Farbenspiels hat Rita keinen Blick. Der haftet stattdessen an einem alten verwitterten Stein, groß wie ein Felsbrocken und ähnlich einem alten, antiken Grabstein dessen Ränder wie abgefressen wirken. Obwohl seine raue, unebene Oberfläche einen anderen Eindruck erwecken sollte, zuckt sie zusammen.

»Was soll der Grabstein hier? Hoffentlich bin ich hier überhaupt richtig?«

Augenblicklich ist ihre Panik zurück. Bevor der schlagende Puls ihren Hals sprengen kann, sieht sie im Augenwinkel ein Schild auf zwei Metallpfosten. Das Metall sah vermutlich so lange es das Schild trägt, keinerlei Farbanstrich. Und doch wirkt das Schild neu.

»Willkommen im Landgut Balandero«

Über ihm hängt auf jeder Seite eine kleine Laterne. Sie spenden ein spärliches mattes Licht. Der Metallrahmen ist am oberen Ende mit einer Eisenfigur verziert. Ein Adler, der seine gefährlichen Krallen in den Rahmen eingräbt, breitet über dem gesamten Schild seine Flügel aus. Sein Kopf wirkt zum Angriff bereit, wobei die gelblichen Augen zu funkeln scheinen.

Was für ein bizarrer Anblick!

Ritas Erschöpfung ist nun nicht mehr aufzuhalten. Sie lehnt an der Mauer und schaut an sich hinunter. Entsetzen ist das Einzige, was ihr völlig überfordertes Gehirn noch wahrnehmen kann.

Die Turnschuhe zerkratzt, die graue Jeans am rechten Knie zerrissen, der Schal hängt nur noch in Fetzen um ihren Hals und von einer Frisur ist sie Lichtjahre entfernt.

Sie schnieft, sie heult und die zittrigen Hände wollen einfach kein Taschentuch in der Seitentasche der Jacke finden. Ihre Handtasche, der Laptop und der Koffer liegen noch immer wie ein wilder Haufen zwei Meter von der Mauer entfernt auf dem Waldweg, der plötzlich aussieht, wie ein ganz gewöhnlicher Wanderpfad.

Obwohl es langsam zu dämmern beginnt, suchte sie weder nach einer Klingel, Gegensprechanlage oder einer anderen Möglichkeit, sich bemerkbar zu machen. Das riesige Metalltor, quasi vor ihrer Nase, sah sie nur wie durch einen vergilbten Spiegel. Dabei sieht das Tor noch unheimlicher aus als das, was sie bereits zu sehen bekam. Aber ihr vor Angst und Erschöpfung gelähmtes Gehirn weigert sich zunehmend, noch erschreckendere Details aufzunehmen.

Das zweiflüglige Eingangstor wurde aus langen, nach obenhin spitz zulaufenden Metallstreben gefertigt. Die eng aneinanderliegenden Verstrebungen sind oben und unten mit Ornamenten verziert. In der Mitte des Gitters befindet sich eine Figur in Form einer Medusa. Ihre Schlangenhaare verbinden elegant und gespenstisch beide Torhälften. Ihr Schlund soll das Schloss und dessen Schlüsselloch darstellen.

Wie mag der Schlüssel dazu aussehen?

Rita steht mit lethargisch starrem Blick, der sich wie gebannt im dunklen Hain verirrt, noch immer im Schatten der Steine. Plötzlich - eine Stimme hinter der Mauer!

»Hallo? Ist jemand vor dem Tor?«

In sekundenschnelle erwacht der Teil ihres Gehirns, der scheinbar noch nicht den Weg zur Realität verloren hat. Ihre Stimme klingt weinerlich, schrill und panisch. Einen halben Meter neben ihr an der Mauer öffnet sich quietschend das eiserne Tor. Jetzt registriert sie das im Efeu versteckte Gitter, das ihre Augen lange gesehen haben müssen.

Eine ältere robust wirkende Frau steht im Tor und eilt zu dem offenbar verunglückten Gast. Fürsorglich schaut sie Rita an und als die zunächst nicht auf ihre Frage reagiert, schüttelt sie die komplett neben sich stehende Autorin an der Schulter. Endlich zerreißen die Panikschleier vor ihren Augen und als hätte es die letzte Dreiviertelstunde nicht gegeben - länger brauchte sie nicht für den Fußmarsch vom Parkplatz bis zum Landsitz - sieht sich Rita verwundert um.

»Sie sind sicher Frau Dankeschön. Geht es Ihnen gut? Sie sehen aus, als hatten Sie einen Unfall! Soll ich Ihnen einen Arzt rufen?«

Die kopfschüttelnde Frau sieht besorgt den Zustand des gerade eingetroffenen Gastes.

»Ach, es geht schon. Danke! Ich bin gestürzt. Es war meine eigene Schuld. Ich bin ein wenig durcheinander. Entschuldigen Sie, ich wollte Sie nicht erschrecken! Ja, ich bin Rita Dankeschön.«

Dann reicht sie ihr die schmutzige und blutverschmierte Hand. Die Frau zieht die Augenbrauen hoch, mustert sie besorgt und sagt nichts mehr. Stattdessen geht sie zwei Meter auf dem Weg entlang und holt Ritas Gepäck, nimmt den verwirrten Ankömmling am Arm und zieht sie auf das Gelände des Landsitzes. Mit einem Quietschen fällt das uralte gusseiserne Tor ins Schloss.

Dabei erschreckt Rita so heftig, dass die Furchen auf dem erstaunten Gesicht der Frau spontan noch tiefer werden. Leider kann Rita ihr nichts von dem gerade überlebten Albtraum erzählen. Wie hätte sie beschreiben sollen, dass der Wald dabei war, sie mit Haut und Haaren zu verschlingen.

So beginnt ein Nervenzusammenbruch! Kein Wunder nach dem Stress!

Sie muss unbedingt daran glauben. Anderenfalls wäre ein Notarzt und der Aufenthalt in einer entsprechenden Einrichtung der beste Weg, um ihrem völlig überreizten Geist zu entkommen.

Als Rita aufsieht, beruhigt sie sich. Das ausladende und weiträumige Gelände, des wie in einem Dornröschenschlaf wartende Gut, strahlt eine Ruhe und Gelassenheit aus, als hätte es nur auf sie gewartet. Verträumt und verspielt trotzt das Gemäuer eigenwillig den Unbilden der Jahrhunderte. Dabei wirkt es, als hatte der Bauherr einst keinen Bauplan zur Hand. Ihr Blick fällt auf einen Innenhof, dessen Ausmaße nicht sofort zu erfassen sind.

Mit Erstaunen betrachtet sie einen alten steinernen Springbrunnen. Er ist etwa zwei Meter hoch und mit alten verwitterten Bruchsteinen in runder Form gemauert. Beinahe vollkommen mit Moos bewachsen, erzählt sein Anblick Geschichten aus längst vergangenen Tagen. Von Rabatten umschlungen, deren Buchsbaumhecken sehr streng geschnitten wurden, steht er wie ein Mahnmal und nichts kann ihm etwas anhaben. Die Hecken passen nicht zur alten Schönheit des Brunnens. Trotzdem zeugt ihr exakter Schnitt, der einer schaurig verzerrten Fratze ähnelt, von einer kürzlichen und regelmäßigen Pflege. Wasserfontainen sprudeln aus einer auf der Empore aufragenden offenen Steinmuschel an dem steinernen Becken hinunter.

Auf den Wiesen und Beeten rings um den Innenhof, wobei jede von ihnen in geschwungene flache Steinborde gefasst wurde, stehen Blumen und Sträucher der Saison. Alles wirkt sehr liebevoll umsorgt und gepflegt. An jeder Seite der Rabatten thront eine sehr hohe und alte Laterne, deren lange Metallstäbe scheinbar endlos in den grauen Herbsthimmel ragen. Die daran befestigten geschwungenen Metallarme beherbergen eine schlichte geschlossene Lampe, aus deren Gehäuse ein Leuchtmittel ragt.

Auf dem Gelände stehen unzählige Laubbäume. Ihre Blätter haben sich bereits in bunte Farben gehüllt. Warum es bei solch einem Gehöft keine gepflasterten oder geteerten Wege gibt, ist unverständlich. Allein die Größe der Fläche bedarf sicher enormen Aufwand und entsprechender Fahrzeuge. Dennoch sieht sie nirgends Schmutz oder Pfützen. Vielleicht ist das die Handschrift eines genialen Bauherrn. Nur an wenigen Stellen bemerkt man überhaupt, dass man versuchte, vorsichtig zu sanieren. Aber dazu braucht es einen zweiten Blick.

Wenn der Landsitz auch optisch einen sehr professionellen Eindruck hinterlässt, so bleibt ein nagendes Gefühl. Hier passt etwas nicht zueinander. Alles wirkt unnatürlich und inszeniert. Was bei näherer Betrachtung nicht sein kann.

Rita stöhnt, schüttelt den Kopf und eilt der vor ihr zügig gehenden Frau hinterher. Je näher sie dem Haupthaus kommt, desto unruhiger wird sie. Sie versucht sich zusammenzureißen. Aber das mulmige Gefühl, das wie eine böse Vorahnung über ihr schwebt, bleibt dennoch.

Die Frau mit Ritas Gepäck an der Hand geht zielstrebig um ein rundes großes Blumenbeet herum, das mit sehr viel gärtnerischem Geschick angelegt wurde und steht beinahe vor dem Eingangsportal. Sie dreht sich besorgt nach ihr um. Rita hat inzwischen ein neues Problem.

Rechts, gegenüber dem Portal, direkt hinter dem Springbrunnen, steht ein alter, seltsam verschnörkelter blattloser Baum. Nur ein kurzer Augenblick, in dem sie das Gebilde wahrnimmt, doch er genügt, um sie dem Wahnsinn ein Stück näher zu bringen. Spontan hat sie das Gefühl, dieses Geästgerippe winkt nach ihr mit seinen knorrigen Holzfingern und ein langer Ast will nach ihr greifen. Schon hört sie wieder das knackende Geräusch. Sofort schließt sie die Augen und hastet, atemlos vor Entsetzen, ihrem vor ihr schwebenden roten Koffer hinterher. Mit starrem Blick, der nur noch an die Silhouette vor ihr geheftet ist, nicht mehr nach rechts oder links schauend, stolpert sie dem Eingang entgegen.

Dabei entgeht ihr der atemberaubende Anblick, den das Landgut dem Besucher bietet. Ihre Begleiterin stellt bereits den Koffer vor der Tür ab und greift nach der Klinke, da dreht sie sich ein weiteres Mal zu ihrem seltsamen Gast um.

»Kommen Sie herein! Ich kümmere mich sofort um Sie.

Zunächst bringe ich Ihr Gepäck in Sicherheit!«

Unendlich viel Kraft kosten Rita die letzten Meter. Die schwere alte Eingangstür fällt hinter ihr ins Schloss und sie ahnt: hier komme ich niemals wieder heraus…

Niemand hört dich schreien

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