Читать книгу Niemand hört dich schreien - Heike Gehlhaar - Страница 9
ОглавлениеKapitel 5
Rita betritt den Speisesaal des Anwesens. Bevor sie sich mit ihren Gästen zum ersten gemeinsamen Erzählen zusammensetzen wird, lud man die Gruppe zum Abendessen ein. Als sie das Treffen buchte, war ihr nicht klar, was auf sie zukommen wird. Nur gut, dass die Buchungsbedingungen der einer normalen Hotelzimmerbuchung entsprachen. Die Nutzungsgebühr, genannt Eventobolus, ist relativ gering.
Noch ein weiterer Hinweis darauf, dass sie sich mit diesem Wochenende eine große Unbekannte einkaufte. Weiter darüber nachzudenken, erlaubt sie sich jedoch nicht. Die gesamte Situation ist für ihr ohnehin schon bis zum Bersten gestresstes Nervensystem kaum noch zu ertragen. Sie wird jetzt einfach das Wochenende durchziehen, am Montagmorgen abreisen und versuchen, so schnell es geht alles zu vergessen.
Der großzügige Speiseraum erinnert an ein prunkvolles Hotel aus der Renaissance. Die linke Seite des Raumes besteht aus deckenhohen Fenstern, die in edlen Holzrahmen gefasst sind. Der zarte lilafarbene Volant über der Fensterfront lässt ihn hell im Sonnenlicht erstrahlen. Luftige Store sind locker rechts und links an den Wänden befestigt.
Ritas Blick bleibt staunend an einer Marmorstatue vor dem rechten Fenster hängen. Die dargestellte Frau im Brautkleid, mit ihren sanften liebevollen Gesichtszügen ist bezaubernd schön. Dennoch erschreckt sie. Das zauberhafte Gesicht kennt sie. Es blickte ihr aus dem Gemälde in ihrer Schublade entgegen.
Wer ist sie?
Plötzlich ist ihre Neugier so groß, dass sie beschließt, noch heute Abend Otto Brandhorst in seiner Bibliothek zu besuchen.
Das Abendessen wurde bereits vorbereitet. Neben der langen Tafel steht ein runder, flacher Beistelltisch. Auf der robusten Tischplatte, gehalten von seltsam nach außen gebogenen Beinen, duftet auf einem silbernen Tablett ein Spanferkel mit einem rosigen Apfel im Maul.
Ein aus weißem Satin aufgelegtes Tafeltuch verdeckt die rustikalen Tische, die mit feinem Geschirr eingedeckt wurden. Stühle mit hohen Lehnen und schlichtem roten Samt bezogenen Sitzflächen, stehen locker um sie herum. Gegenüber folgt eine flache Kommodenstrecke entlang der mit einer hellblauen Tapete verzierten Wand. Oberhalb der Wände hängen einige Gemälde in goldfarbenen Rahmen. Zwischen ihnen ragen zweiarmige Leuchter in den Raum. Jeder Schritt wird von einem Teppichboden verschluckt.
Hugo Müller und Herbert Meyer sitzen bereits am Tisch in ein angeregtes Gespräch vertieft. Sie bemerken die hinzukommende Autorin zunächst nicht. Ebenso wie der Speisesaal wirkt die vorbereitete Tafel edel, ähnlich der einem fünf Sterne-Haus. Das zarte Porzellan, aus dem Rita bereits ihren ersten wärmenden Tee trank, lädt jeden zum Genießen ein. Füllige Blumengestecke, deren rote Rosen eben erst geschnitten wurden, versprühen einen zarten Duft. Durch das bunte Farbenspiel scheint das blütenweiße Tafeltuch perfekt. Eine Reihe von Kristallgläsern, die jedem Gedeck folgt, verspricht ein extravagantes Menü.
Wie ist ein solcher Luxus möglich, wenn ich dem den Preis für Unterkunft und Verpflegung gegenüberstelle? Die stummen Fragen hinter ihrer Stirn nehmen kein Ende.
Das Knistern und die hellen Flammen aus einem gemauerten Kamin wärmen den Raum und laden ein, es ich gemütlich zu machen.
Rita gesellt sich zu den Männern. Ihre angegebenen Namen verraten bereits mit ihrem ersten Buchstaben, dass die Herren inkognito anreisten. Bereits beim Durchsehen der Gästeliste kam ihr die zu allgemeine Kombination von Vor- und Zunamen sehr verdächtig vor. Wobei sie sich zu dem Zeitpunkt darüber noch nicht den Kopf zerbrach. Ungewöhnlich genug war schließlich ihre Anzeige. Da kann es durchaus sein, dass dieser oder jener nicht unter seinem richtigen Namen dabei sein wollte. Die Gesprächsfetzen, die nun an ihr Ohr dringen, sprechen eine deutliche Sprache.
Die zwei führen etwas im Schilde und ganz sicher suchten sie nur die perfekte Gelegenheit, sich in dem Gefilde ungestört umsehen zu können. Warum, weiß sie nicht. Aber das es um nichts Gutes dabei gehen kann, steht beiden mit leuchtenden Neonfarben auf der Stirn geschrieben.
»Wie hoch schätzt du den Wert des Mobiliars?«, flüstert der eine. »So hoch?«, fragt er später staunend.
»Es könnte auch noch viel mehr sein! Nach dem Essen verabschieden wir uns unter einem Vorwand und sehen uns vorsichtig in den anderen Räumen um.«
»Pass auf! Da kommt die Dankeschön!« Er dreht sich zu ihr. »Ach, hallo! Na, auch schon Appetit? Riechen tut es ja gut!« Grinsend lehnt sich der untersetzte Herbert zurück und tut, als wäre nichts gewesen.
Bevor Rita etwas sagen kann, drehen sie sich zur Tür. Alle anderen kommen herein. Mit einem strahlenden Lächeln schiebt Marlon Frieda an den Tisch. Dabei streichelt er ihr sanft über die Hand. Sie nickt und wendet sich der neben ihr Platz nehmenden Frederike zu. Marlon grinst Rita verführerisch an und setzt sich neben sie.
»Es gut duften… Schwein!« Seine Zunge folgt den vollen Lippen und die kräftige Hand zeigt auf den Beistelltisch.
Rita spürt im Nacken ein angenehmes Kribbeln. Eines, was ihr beinahe fremd erscheint. Viel zu lange ist es her, dass ein Mann bei ihr ein so spontanes Gefühl auslöste.
»Ja… äh, ja…« , stottert sie errötend. Normalerweise würde sich Rita nicht als schüchtern bezeichnen. Doch von dem, was in den letzten Stunden geschah, gibt es kaum mehr etwas, das sie noch als halbwegs normal bezeichnen könnte.
Marlon nimmt ihre Verlegenheit zum Anlass, um sie mit einem herausfordernden Augenzwinkern weiter zu verunsichern. Anschließend dreht er sich wieder Frieda zu.
Bodo und Christopher setzen sich Rita gegenüber. Jeder versucht ihr auf seine übertriebene Art, einen Eindruck über die eigene Person zu vermitteln. Selbst ein Außenstehender würde ihnen das nur mit Vorsicht abnehmen. Bodo kichert albern und beugt sich über den Tisch, wie ein sich gerade frisch verliebender Teenager. Christopher hingegen nickt nur erhaben, tut beschäftigt mit seiner Serviette und schielt sie geglaubt unauffällig von der Seite an.
Amelie steht ein wenig verloren an der Tür und weiß nicht, wo sie sich setzen soll.
»Kommen Sie zu mir Amelie!« Rita winkt ihr aufmunternd zu, rückt den Stuhl links neben sich nach hinten und lädt sie ein, sich neben sie zu setzen.
Fröhlich plaudernd sitzt Lisa Frederike gegenüber, was Christopher mit einem genervten Hochziehen seiner Augenbrauen kommentiert. Beim Blick in sein steifes Gesicht verstummen beide sofort und Lisa rückt instinktiv etwas von ihrem Tischnachbarn ab.
Ein vielsagender Blick trifft Rita, die diesen mit einem unsicheren Lächeln zu erwidern versucht. Er räuspert sich zufrieden und schaut neugierig über den Tisch.
Still und ohne das jemand von ihr wirklich Notiz nimmt, setzt sich Ramona an das untere Ende der Tafel und rückt nervös ihren Stuhl zurecht. Grübelnd blickt Rita von einem zum andern und entdeckt dabei niemanden, der ihren Vorstellungen entspricht.
Niemals werde ich von diesen Leuten Gedanken oder Ideen zu Papier bringen!, schießt es ihr frustriert ins Hirn.
»Guten Abend meine Herrschaften!«
Die gehobene Aussprache und die gestelzte Ausstrahlung des Doktors lässt jeden im Raum vergessen, was er gerade sagt oder tut. Alle schauen die seltsame Gestalt an, die einem Relikt aus vergangenen Jahrhunderten ähnelt und verfolgen mit teils offenem Mund und ungläubigen Blicken, wie deren erhabenen Schritte sich dem oberen Ende der Tafel nähern. In Zeitlupe nimmt er den Stuhl vom Tisch, setzt sich umständlich und greift als erstes nach der vor ihm liegenden aufwendig gefalteten Stoffserviette. Er schüttelt sie ausgiebig und steckt sie zwischen den Kragen und seinen kaum vorhandenen Hals. Der Vorgang dauert gefühlt Minuten und lähmt jeden Tischgenossen, was ihn nicht berührt. Für ihn scheint sein Auftritt gewohnt und offenbar erwartet er genau eine solche
Reaktion der Anwesenden am Tisch.
»Frau Romanowski, alle Gäste sind anwesend! Sie dürfen mit dem Servieren des Menüs beginnen!«
Wenn man den Mund nicht zum Essen oder Trinken schließen müsste, einige würden bei den Szenen, die sich nun vor ihren Augen abspielen, diesen nicht wieder zu bekommen. Mit weißen Handschuhen und edlem Smoking hilft Georg Belinda, die mit dem Eingießen von Weinen und anderen Getränken beschäftigt ist, beim Auftragen der Suppe.
Bei Lisa bleibt er länger stehen, als bei jedem anderen am Tisch. Wieder spürt Rita den angenehmen und doch so lange vermissten Schauer, der sich sofort auf ihrer Haut ausbreitet. Das Beobachten der Zwei lässt sie eine Ahnung von deren Zukunft erhaschen. Hier wird sich mit Sicherheit etwas entwickeln.
So, dann schreibe ich eben einen erotischen Liebesroman!, legt sie spontan fest. In dem Ambiente und unter den Bedingungen ist das eine willkommene sowie rettende Idee, die ihr plötzlich hinter der Stirn erscheint.
Dann beschenkt Georg alle anderen Frauen mit seinem bezaubernden Lächeln. Anschließend entfernen sich die Angestellten. Das Klingen eines Messers am feinen Weinglas lässt sofort jeden erstaunt zur Stirnseite sehen.
»Meine Damen und Herren! Ich wünsche uns allen eine wohlschmeckende Mahlzeit. Sie wurde von unserer hervorragenden Köchin mit viel Geschick zubereitet! Bitte genießen Sie mit mir das köstliche Mahl!«
Otto setzt sich wieder, greift nach seinem Löffel und scheint sich von nun an nur noch seiner Suppe widmen zu wollen. Nachdem sich alle fragend umsehen, folgen sie verwirrt seinem Beispiel.
Etwas später legt Rita ihr Besteck nieder, nimmt das Glas Rotwein und blickt in die ungeduldigen Augen gegenüber. Stöhnend versucht sie den nervenden Gedanken in ihrem Kopf zu folgen. Was nun? Ich muss etwas tun, jetzt sofort!
»Meine lieben Gäste! Ich hoffe, Sie haben das Menü ebenso genossen, wie ich?« Ohne eine Antwort abzuwarten, setzt sie fort: »Ich würde vorschlagen, wir treffen uns in einer Stunde im Salon und beginnen mit einer kurzen Erzählrunde. Dabei könnten wir uns beraten, wie wir die vor uns liegenden zwei Tage, gestalten wollen!«
»Junge Frau, dass ist ein sehr guter Vorschlag! Ich muss mich ein wenig zurückziehen. Komm Marlon! Ich freue mich auf Ihre Geschichten.«
Sie schaut die anderen am Tisch herausfordernd an und zeigt bei einem frechen Grinsen ihre Zähne. Pflichtbewusst steht Marlon auf, verneigt sich kaum sichtbar vor den anderen, greift nach dem Rollstuhl und verlässt mit Frieda den Speisesaal.
»Gut, gut! Dann treffen wir uns also im Salon!« Herr Müller steht auf und gibt seinem Kollegen ein Zeichen, was bedeutet, er möge sein Glas leeren und ihm folgen. Beim Gehen flüstert er: »Wir sollten uns zunächst draußen umsehen!«
Als letztes verlassen Amelie und Rita den Speisesaal. Dabei beobachten sie Otto, den sie an der Tür überholen. Er macht eine Bewegung, als lüpft er seinen Hut.
»Meine Damen…!«, murmelnd dreht er sich um und schwebt in Richtung Bibliothek.
»Was ist denn das für eine Figur?« Irritiert folgen Amelies Augen jedem seiner Schritte, die den seltsamen Zeitgenossen der Tür zur Bibliothek näher bringen.
»Amelie, kommen Sie! Wir setzen uns in die Sitzgruppe unterm Kamin. Ich habe den Laptop bereits dabei. Wir können sofort beginnen.«
Ein unsicheres Lächeln zieht über das blasse schmale Gesicht, dessen Augen jedoch etwas anderes sagen. »Jetzt gleich? Ich weiß nicht… «
»Oh, wenn Ihnen das im Augenblick zu früh ist, dann finden wir auch noch einen anderen Zeitpunkt, um zu beginnen. Ich wollte nur den günstigen Moment nutzen, wo noch jeder mit sich beschäftigt ist.«
Nach einem kurzen nachdenklichen Zögern stimmt Amelie Ritas Vorschlag zu. Rechts vor dem riesigen Kamin, über dem das fürchterliche Ölportrait hängt, steht in einer sehr schönen Nische ein antikes Sofa mit zwei Ohrensesseln und einem flachen runden Tisch. Der Einlass sieht aus, wie ein Altar. Eine Frauenbüste aus Marmor steht ist seiner Mitte.
Ritas Herz stolpert erschrocken beim Blick in das Gesicht. Ich muss unbedingt herausfinden, was es mit ihr auf sich hat. Sonst bekomme ich noch einen Infarkt!, denkt sie schwer atmend.
Sie reißt sich los und setzt sich unter den Altar auf das breite Sofa. So hat sie das Gesicht nicht permanent vor den Augen.
Die weinroten Samtvorhänge an den Seiten des Altars sind mit einem goldenen Metallknauf an der Wand befestigt. Das weiche Material der Vorhänge schmeichelt ihren Fingern. Erstaunlicherweise versprüht der lange Stoff, der bis zum Boden reicht, einen zarten angenehmen Duft. Man dürfte doch erwarten, dass er etwas alt, muffig oder zumindest staubig riecht. Das Gegenteil ist der Fall. Dabei kann Rita ihm sein Alter durchaus ansehen. Einige Streifen des Vorhanges sind verblasst.
Vielleicht zierte er einst eines der zahlreichen Fenster im Haus?, überlegt sie.
Das kleine silberne Gitter am vorderen Rand des Altars schützt zuverlässig jedes Accessoire, was man auf ihm abstellt. Die alte Stehlampe neben dem Sofa, dessen gelber Stoff des Lampenschirmes irgendwie unpassend wirkt, erzeugt kleine Schatten von ihnen.
Rita sitzt sehr vorsichtig auf dem Chaiselongue. Obwohl sie bei ihrer Ankunft schon einmal auf einem ähnlichen Prunkstück saß, scheint das auf den ersten Blick älter und wertvoller. Der gestreifte hellgrüne Stoff, der längs über die Lehne und Sitzfläche verläuft, gibt ihm den Charme eines Puppenstubenmöbels aus einem Spielzeugmuseum. Der geschwungene Holzrahmen und die ausladenden Beine vervollkommnen den Eindruck. Trotzdem ist es äußerst bequem, nicht durchgesessen oder abgewohnt.
In einem Schloss hätte man ein Absperrband um die gesamte Sitzgruppe gebunden und es läge ein großer Zettel auf dem Tisch: Berühren verboten! Doch hier ist die Zeit stehengeblieben. Man nutzt uneingeschränkt, was anderenorts mit Argusaugen bewacht wird.
Die antike Vase in der Mitte des Tisches bezaubert mit ihrem zarten handgemalten Dekor. Wie Hubertus unbemerkt dafür sorgt, dass die Blumengestecke und Rosensträuße in den zahlreichen Vasen auf Schränken und Tischen erneuert werden, ist nicht zu erklären. Noch eine weitere Karte des stetig wachsenden Kartenhauses. Rita hofft, nicht mehr anwesend zu sein, sollte es in sich zusammenfallen.
Auch Amelie setzt sich scheinbar widerwillig in den Sessel. Sie hat das Gefühl, etwas Verbotenes zu tun. »Was ist das nur für ein seltsamer Ort? Ich möchte hier nicht sein!«
Ihre Worte richtet sie mit abwesendem Blick an sich selbst. Als sie keine Antwort bekommt, kehrt ihre Aufmerksamkeit zu Rita zurück.
»Entschuldigen Sie, vielleicht bin ich auch nur überreizt. Ich danke Ihnen für die Einladung und die Zeit, die Sie mir widmen wollen!«
»Das ist schon in Ordnung. Schließlich habe ich es Ihnen versprochen. Aber um ehrlich zu sein, war ich mit diesem merkwürdigen altherrschaftlichen Gut bereits von erster Minute an, überfordert. Es war günstig zu mieten, was natürlich nicht zu alldem passt, weder Personal noch zum Inventar. Egal, jetzt sind wir hier. Ich denke, wir machen das Beste daraus. Wenn mir auch klar ist, was die düstere Atmosphäre für Ihr Gemüt bedeutet. Beim nächsten Mal treffen wir uns in meinem Zimmer. Das ist hell und freundlich. Da fällt mir ein, gehört zu Ihrem Zimmer ein Bad?«
»Ja, warum fragen Sie? Es scheint noch recht neu zu sein und es wurde sicher erst kürzlich eingebaut. Man sieht allerdings, dass es vorher noch keinen Raum hierfür gab.«
»Aha… Gut, genug der Fragerei! Ab jetzt bin ich nur noch für Sie und Ihre Gedanken da!«
Damit beugt sie sich vor und öffnet den Laptop, den sie bereits auf den Tisch geschoben hat. Amelie beginnt zu erzählen und die Finger der Autorin gleiten geräuschlos über die Tastatur.
Eine Stunde später sind die Erzähler im Salon versammelt. Einige sitzen in den Sofalandschaften, andere stehen schwatzend am Kamin. Nur Ramona sitzt abseits der Gruppe.
Was tut sie hier?, mit der Frage streift Ritas Blick über die Gruppe.
Dass sie nichts bei solch einem Event zu suchen hat, erkennt jeder. Trotzdem ist sie hier. Obendrein war sie die Erste, deren Anmeldung einging.
Rita setzt sich mit ihrem Kaffee zu Amelie. Den brachte ihnen Belinda unaufgefordert in die Sitzgruppe mit einem Lächeln im Gesicht, dass ein fließendes Gewässer mit einer Eisschicht überziehen könnte. Der neugierige Blick und die vermutlich gut ausgerichteten Ohren zeugten von allem, nur nicht von einem gern angebotenen Service.
Rita lächelt die junge Frau gegenüber an, steht auf und sagt: »Nun, ich denke wir sind alle versammelt!«
»Das glaube ich nicht!«, kommt es belehrend aus der hinteren Ecke des Salons.
Erschrocken sucht sie den Ort von dem die Stimme kommt.
»Die junge Germanistikstudentin, Lisa heißt sie glaube ich, fehlt. Da stimmt etwas nicht. Sie machte einen sehr zuverlässigen Eindruck.«
Rita weiß sofort, Frieda hat Recht. Gerade Lisa sollte pünktlich sein. Inzwischen ist sie schon zwanzig Minuten zu spät. So etwas passt nicht zu ihr. Bevor noch irgend jemand etwas sagen kann, hallt ein entsetztes Geschrei und beinahe unnatürliches Geheul durch die Halle. Die anwesenden Männer wollen sofort aus dem Salon eilen.
»Moment meine Herren! Ich bin an Krisensituationen gewöhnt. Bitte überlassen Sie mir das Handeln!« Christopher Bond geht mit geradem steifen Rücken und eiligem Schritt vorneweg.
Lisa stolpert weinend und noch immer verzweifelt hinter sich schauend, die Treppe hinunter. »…der Stallmeister… er ist einfach aufgetaucht!«
»Lisa, bitte beruhigen Sie sich! Kommen Sie, setzen Sie sich und erzählen Sie uns was passiert ist!« Christopher nimmt sie am Arm und zieht sie zum Sofa an der Wand.
In wenigen Augenblicken versammeln sich alle anderen um das Geschehen. Ein wildes Stimmengewirr vervielfacht sich an den hohen Wänden.
»Ruhe! Jetzt werden Sie sich alle beruhigen und lassen Sie Lisa zu Wort kommen!«
Die Ansage des Hünen, der vor der auf dem Sofa schluchzenden Lisa in die Knie gegangen ist, klingt wie die von einem strengen Vorgesetzten. Augenblicklich herrscht eine gespenstische Stille.
»Liebe Gäste! Was ist denn geschehen?« Eilig und besorgt kommt Belinda aus Richtung Küche und versucht zu verstehen, worum es sich bei dem Tumult handelt.
»Ich sagte: Ruhe! Bitte…« Christopher zeigt mit der Hand auf Belinda, die erschrocken stehen bleibt. »Nun Lisa! Versuchen Sie es noch einmal. Sagen Sie uns, was passiert ist!« Seine Worte sind ruhig, jedoch spricht er mit kräftiger
Stimme. Sie scheint im Augenblick Vertrauen zu schaffen. Lisa sieht auf. Tränen laufen ihr über das weiße Gesicht. Ihre Hände liegen verkrampft auf ihrem Schoß und die Finger krallen sich in ein nasses zerknülltes Taschentuch.
Schniefend flüstert sie: »Ich stand unter der Dusche und ging in mein Zimmer zurück, weil ich Stimmen hörte!«
Rita erschreckt und schaut panisch in die ungläubigen Gesichter um sie herum.
»Doch da war keiner! Da dachte ich, ich hätte mich verhört, es mir eingebildet. Dann spürte ich einen Windhauch auf meiner Schulter und drehte mich um. Neben dem Kamin hockte der Stallmeister!«
»Aber junge Frau. Ich sagte Ihnen doch, manchmal kann es vorkommen, dass er im Haus ist und sich um die Kamine kümmert! Sicher haben Sie ihn unter der Dusche nicht gehört.«
Das Entsetzen in Lisas Augen wird noch größer.»Sie haben nicht zugehört!«, schreit sie. »Da war erst niemand! Die Tür war von innen verschlossen und es steckte sogar der Schlüssel im Schloss… und… und dann verschwand er… vor meinen Augen… einfach so in der Wand!«
Ein Zittern befällt ihren gesamten Körper und sie beginnt erneut zu schluchzen. Aufgeregt reden alle durcheinander. Rita hat spontan das Gefühl, um sie herum beginnt sich der Raum zu drehen. Sie glaubt der Boden unter ihr öffnet sich und er könnte sie verschlingen. Noch wirken alle anderen verstört und ungläubig. Irrealer und verrückter könnten sich diese Minuten kaum anfühlen.
Kopfschüttelnd und belehrend versucht Belinda die Situation zu klären. Keines ihrer Worte und ebenso der allgemeine Unglaube, vermögen etwas an dem aufgelösten Zustand des Häufchen Elends auf dem Sofa zu ändern. Im Gegenteil, nach und nach beginnt Lisa zu resignieren. Sie weiß, keiner glaubt ihr. Jeder denkt, sie wäre unreif und benimmt sich wie eine hysterische Göre.
Genau die Formulierung nutzte Christoper. Nach seiner Erfahrung ist das ein für Frauen sehr typisches Mittel, um Unerklärliches nicht wahr haben zu wollen oder um Aufmerksamkeit in einer Gruppe zu erzeugen. Das sei ein Phänomen, was meist auf junge hübsche Frauen zutreffe. Wobei sich so ein Verhaltensmuster verwachsen kann. Hierfür bräuchte es nur den richtigen Mann.
Fassungslos über das Macho-Gefasel dreht sich Rita um und setzt sich zu Lisa. Sie legt den Arm um sie und versucht, sie mit leisen Worten zu beruhigen.
»Bitte lassen Sie nicht zu, dass Ihnen dieser Blödmann das, was Sie gesehen haben, als Spinnerei einredet. Ich selbst erlebte seit meiner Ankunft an diesem fürchterlichen Ort Dinge, an denen ein normaler Geist verzweifeln kann. Auch ich glaubte anfangs, mir gewisse Sachen einzubilden. Schließlich stand ich in letzter Zeit unter einem enormen Druck. Da greift man schnell nach so einer Erklärung. Jetzt weiß ich aber, es war keine Einbildung. Irgendetwas stimmt hier nicht. Ich schlage vor, wenn es Ihnen etwas besser geht, versuchen wir gemeinsam herauszufinden, was in dem Haus nicht mit rechten Dingen zugeht!«
Ihre klaren Worte zeigen augenblicklich Wirkung. Farbe kehrt in Lisas Gesicht zurück und plötzlich bekommen die rotgeweinten Augen einen sehr wütenden Ausdruck. Ihre Verärgerung über den unmöglichen Menschen, der sich aufspielt, als gehöre ihm das Anwesen und glaubt deshalb, Befehle erteilen zu dürfen, lässt sich nur noch schwer bremsen. Obendrein besteht er darauf, dass sich jeder uneingeschränkt nach ihm zu richten hat.
Was ist das nur für ein Mensch? Die Frage braucht Lisa nicht auszusprechen.
Er hat ihre Veränderung bemerkt und zieht sich beinahe vorsichtig zurück. Ein schwaches Lächeln breitet sich nun in ihrem Gesicht aus.
»Gerne, vielen Dank! Ja, so werden wir es machen! Ich bin froh, dass mir jemand glaubt.«
Rita tätschelt ihr aufmunternd die Hand.
Was sie leider nicht bemerkt: Christopher hörte jedes Wort, das sie austauschten. Jede Silbe hinterließ in seinem Gesicht eine Spur von bösartiger Aufmerksamkeit. Kein erstauntes neugieriges Interesse; nur Kontrolle war alles, was man in den harten Augen des Mannes erkennen konnte. Seine steifen Gesichtszüge verraten nun Gedanken und Pläne, die er in seinem Inneren verbirgt.
Zu spät spürt Rita die Gefahr und die Entdeckung ihres Vorhabens. Seine auffällige Beobachtung ärgert sie, deshalb dreht sie sich zu ihm und friert beim Blick in seine kalten Augen. Er denkt nicht daran sich zu entfernen. Im Gegenteil, jeder seiner Atemzüge erklärt klar und deutlich: »Ich habe dich im Auge und bin zur Stelle!«
Ach Rita!, denkt sie leise stöhnend. Fängst du schon wieder an, Gespenster zu sehen?
Und doch, in jeder Zelle ihres Körpers kann sie die drohende Gefahr spüren. Seit dem Verlassen des Parkplatzes verließ ihr Gehirn nur selten den Alarmzustand.
Der miese Typ könnte an diesem Wochenende zum Problem werden. Wer ist er und was will der hier? Tausend Fragen und auf keine einzige weiß sie eine Antwort.
Mit einem gefährlichen Ausdruck in den Augen dreht sich Christopher endlich um und geht.
»Guten Abend verehrte Gäste!«
Behäbig und doch elegant schreitend kommt der Doktor auf die noch immer aufgeregte Gruppe zu. Mit einem besorgten Gesicht geht er sofort zu Lisa und setzt sich zu ihnen. Ganz ruhig und geradezu entspannt befragt er sie nach dem, was vorgefallen ist. Seine Reaktion erzählt von Verständnis und Neugier. Anders als Belinda, tut er Gesagtes nicht als Einbildung ab. Nachdenklich lehnt er sich zurück und streicht sich dabei abwesend über seinen Dreitagebart.
»Entschuldigen Sie mich. Ich muss etwas nachschlagen!« Für seine Verhältnisse recht schnell, ist er aufgestanden und eilt mit Trippelschritten zur Bibliothek. Mit offenem Mund und unverständlichem Kopfschütteln sehen ihm die andern nach.
»Es wird Zeit, sich näher mit dem Schuppen zu befassen! Wir sollten uns abseilen und anfangen, jeden Zentimeter der Hütte zu begutachten!« Herbert Meyer tritt nervös und ungeduldig von einem Bein aufs andere.
Wobei sein Kollege ihm nicht zuhört. Er beobachtet Christopher, der selbst aus der Ferne, sein Verhalten sofort registriert. Die Männer bekämpfen sich mental bis aufs Blut. Keiner lässt seinen Blick sinken - Kampfhähne auf Abstand, von denen niemand erahnt, was im Kopf seines Gegenübers vorgeht.
»Frau Dankeschön! Wollen wir an unserem Treffen unter den Umständen festhalten? Vielleicht sollten wir es auf morgen früh verschieben. Dann würden wir uns für heute verabschieden.«
»Mir ist die Lust am Erzählen ebenfalls vergangen!« Ramona steht wie immer abseits, sodass sich jeder nach ihr umdrehen muss. Einige nicken jedoch zustimmend.
»Ja, ich glaube Sie haben Recht. Es ist zwar sehr schade. Aber natürlich verstehe ich jeden, der sich für heute Abend zurückziehen möchte. Wir versuchen es morgen nach dem Frühstück noch einmal. Ich wünsche allen eine Gute Nacht! Im Moment werde ich noch hier bleiben. Wer möchte, kann mir selbstverständlich Gesellschaft leisten.«
Wie nicht anders zu erwarten, verabschieden sich die Gäste und machen sich aufgeregt tuschelnd auf den Weg zu ihren Zimmern.
Dann wird es still und Rita hat einen Plan für die kommende Nacht. Die wird sie nicht in ihrem Zimmer verbringen. Als endlich auch Christopher auf der Empore nicht mehr zu sehen ist, steht sie auf und macht sich auf den Weg zur Bibliothek.
»Ich muss herausfinden, was hier nicht stimmt!«, murmelt sie.
Als sie die Tür hinter sich schließt, zieht sich auf der Empore ein Schatten vorsichtig zurück und entfernt sich lautlos. Anschließend löst er sich auf und verschmilzt spurlos mit den Wänden.