Читать книгу Niemand hört dich schreien - Heike Gehlhaar - Страница 8

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Kapitel 4

Wenig später folgt Rita Belinda, sowie dem roten Läufer durch die verwinkelten Flure nach unten. Anders als bei ihrer Ankunft, herrscht jetzt geschäftiges Treiben in der Empfangshalle. Aufgeregte Stimmen hallen von den Wänden zu ihnen hinauf.

Vor einer halben Stunde wurde sie von der Hausdame informiert, dass nun alle Gäste eingetroffen sind, ihre Zimmer bezogen haben und zur Begrüßung im Salon zusammenkommen werden.

Ritas Blick, der von der Empore über die Halle streift, ist nun klar und erfasst die Andersartigkeit des Ortes, den sie gemietet hat. Von oben sieht sie im hinteren Teil des Raumes etwa in seiner Mitte ein Denkmal. Das ähnelt einem dunklen Monolith, der quadratisch geformt in einem seltsam grün leuchtenden Licht strahlt. Unter ihm steht ein gemauerter Block. Rundherum verläuft ein flaches Geländer mit demselben Handlauf wie im Treppenhaus. Auf dem schwarzen Stein befindet sich eine kupferfarbene Tafel mit einer eingearbeiteten Gravur, deren Inhalt Rita von oben nicht erkennen kann.

Vielleicht handelt es sich hierbei um eine Ahnentafel aus längst vergangener Zeit oder die Geschichte des ehemaligen Herrschaftssitzes? In jedem Fall scheint sie dem Eigentürmer sehr wichtig zu sein.

Vor dem Gedenkstein steht ein ebenfalls kupferfarbener Globus, gehalten von schmalen Metallringen. Sein Anblick lässt sie sofort an ein Planetensystem denken. Dieser Eindruck war vermutlich auch genauso beabsichtigt. An einigen Stellen ragen aus ihm Pfeile, die aussehen wie übergroße Stecknadeln. Sie könnten Hinweise zu weiteren geheimnisvollen Orten sein, die eine uralte Verbindung mit dem Landgut hatten.

Vor ihrem nervösen Blick schwebt das leuchtende Samtgrün von Belindas Overall. Darüber trägt sie eine weiße bestickte Schürze. Was Rita vor zwei Stunden noch nicht wahrnehmen konnte, bemerkt sie jetzt. Es lässt sie ihre glatte Stirn nachdenklich runzeln. Belindas Auftreten wirkt unnatürlich und einstudiert, ebenso wie das zuvorkommende Lächeln. Selbst das weiße Häubchen über dem kurzen grauen Haar erzählt von Extravaganz und Geheimnisvollem.

Wobei ihr Benehmen auch durchaus zum gesamten Ambiente gehören könnte. Vielleicht empfindet der Besitzer und Vermieter des Gutes eine solche Atmosphäre, als geniale bizarre Geschäftsidee. Nach dem Motto: »Exzentrisches Haus sucht gruselsüchtige Gäste!«

Das oder ähnliche Gründe könnten natürlich hinter all dem stecken. Es würde ihr zumindest Das erklären, wofür ihr Gehirn nicht bereit ist, eine logische Antwort zu finden.

Sie folgt der Hausdame zum Haupteingang. An dessen linker Wand bleibt sie vor einer zweiflügligen Holztür stehen. Sie ist sehr hoch und verfügt über silberfarbene Beschläge sowie eine elegant geformte Klinke. Ihr rotbraun leuchtender Holzrahmen sticht sofort ins Auge.

Gemeinsam betreten sie den Salon. Er ist ein ebenfalls sehr hoher und großzügiger Raum. Seine breite Fensterfront, die die gesamte Wand einnimmt und deren Fenster vom Boden bis zur Decke reichen, erhellen augenblicklich Ritas Stimmung. Sie scheinen tatsächlich die Letzten zu sein.

Ihr Blick hängt wie gefesselt an den langen locker herunterfallenden, aus dunkelgrünem Samt gefertigten Vorhängen. Sie wurden rechts und links mit einer geflochtenen Kordel an der Wand befestigt. Es erlaubt ihr freie Sicht nach draußen. Sie sieht einen Park mit Brunnen und alten Laubbäumen. Der ovale Teich, mit kräftigen bereits im kalten Herbstwind absterbenden Wassergräsern macht hingegen einen verlassenen und vernachlässigten Eindruck.

Auch hier sind Teppiche, Wände und Möbel im gleichen Stil gehalten, wie in den anderen Bereichen des Hauses. Hohe, gut gepflegte Grünpflanzen, deren Art Rita teilweise noch nie gesehen hat, geben dem Salon etwas Lebendiges. Eben genau das, was der Eingangsbereich so schmerzlich vermissen lässt. An den runden klobigen Holztischen sitzen bereits ihre Gäste. Beim Eintreten drehten sich alle Köpfe gleichzeitig zu ihr. Augenblicklich spürte sie eine große Nervosität und musste schlucken.

Ihre zarte grazile Figur versteift sich noch immer. Verlegen fährt sie sich durch das locker über ihre Schultern fallende Haar. Obwohl sie den Umgang mit Fremden von Messen, Lesungen und anderen Veranstaltungen gewohnt ist, bietet diese Zusammenkunft eine andere intimere Atmosphäre.

Das kann ja heiter werden! Egal, da muss ich jetzt durch!

Vielleicht hört dann endlich der Spuk in meinem Kopf auf. Denn immerhin bin ich nicht mehr allein. Ihre Gedanken geben ihr Mut. Der Versuch, sich selbst zu beruhigen, funktioniert leider nur bedingt.

Nicht jeden ihrer Gäste hat sie schon einmal gesehen, geschweige denn gesprochen. Der Blick auf Manchen von ihnen setzt der Verrücktheit ihrer bescheuerten Idee noch die Krone auf. Sie reckt ihren Hals, strafft den schlanken Körper und räuspert sich.

»Werte Gäste!«, kommt überraschend aus Richtung Tür.

Jeder dreht sich automatisch der vernommenen Stimme zu. Die gehobene Aussprache der Hausdame ist klar und deutlich. Sie passt weder zu ihrem Äußeren und noch weniger zu dem derben Auftreten. Selbst ihre Worte klingen einstudiert und aufgesagt wie ein unerwünschtes und verhasstes strophenlanges Gedicht.

Ihre grünen Augen, die etwas tief in den Höhlen liegen, geben ihrem strengen Gesichtsausdruck, gemeinsam mit dem stechenden Blick, eine Vorahnung und ein unangenehmes Gefühl mit auf den Weg. Rita bekommt spontan den Eindruck, sie hat es mit einer zwielichtigen Person zu tun, die schon einiges erlebte. Das aufgesetzte, sehr übertriebene Lächeln sowie das beinahe unterwürfige Benehmen können darüber nicht hinweg täuschen.

Die erstaunten Gesichter einiger Gäste bestätigen ihr, dass sich das Gefühl auch bei anderen sofort breit macht. Vielleicht können auch sie das Kribbeln im Nacken spüren, das Rita befällt, bei jedem Blick den sie dem alten Landsitz widmet. Dieses Phänomen, das jeden anderen empfindsamen Menschen ebenso überkommt, würde ihr natürlich sofort den beängstigenden Gedanken nehmen, nervlich vor dem totalen Zusammenbruch zu stehen.

»Ich begrüße Sie alle recht herzlich im Landgut Balandero. Das ist Ihre Gastgeberin Rita Dankeschön. Bevor ich das Wort an sie weitergebe, möchte ich die Gelegenheit nutzen und Ihnen das Personal unseres uralten Gemäuers vorstellen.« Bei dieser Formulierung schüttelt der Mann im minzgrünen samtbezogenen Sessel seinen Kopf und schaut sich fragend um.

So, du glaubst also auch im falschen Jahrhundert gestrandet zu sein? Bei dem Gedanken zieht ein sanftes Lächeln über Ritas Wangen.

Er bemerkt es und schaut sie zweifelnd an. Sie antwortet ihm mit der Hand. Ein kleines Zeichen, was er auch sofort versteht.

Warte es ab! Das wird sich sicher bald aufklären!

Nach und nach kommen die Angestellten herein und stellen sich wie zu einer Parade in einer Reihe vor ihnen auf. Die Szene wirkt gespenstisch, wie auferstanden aus hunderten von Jahren der Vergangenheit, als es noch üblich war, demütig den angekommenen Herrschaften seine Aufwartung und Ehrerbietung entgegen zu bringen. Leise kommt Gemurmel auf.

Zwei junge Männer, die sehr geschäftstüchtig aussehen finden den Auftritt amüsant.

»Wie für uns gemacht! Besser geht es nicht!«, wirft der eine dem anderen leise und grinsend entgegen.

Er nickt nur und notiert eifrig auf einem mitgebrachten Schreibblock, was er vermutlich in der kurzen Zeit erlebte.

»Nochmals: Guten Abend! Mich kennen Sie ja bereits. Bevor ich Ihnen meine Kollegen vorstelle, möchte ich ein weiteres Mal darauf hinweisen, dass jeder hier im Haus für alle Anliegen der Gäste, ganz egal ob Tag oder Nacht, zur Verfügung steht. Und nun der Reihe nach: Zum ersten wäre da unser Haus- und Hofmeister Hubertus. Natürlich dürfen Sie ihn auch so ansprechen. Wenn es allerdings nicht unbedingt notwendig ist, wird er sich nicht im Haus aufhalten. Seine Hauptaufgaben umfassen ohnehin zumeist den äußeren Bereich des Hauses, sowie der Pflege des Gartens. Nur für Reparaturarbeiten und zum Beheizen der zahlreichen Kamine in den Zimmern kommt er ins Haus. Aber Sie werden schnell bemerken, von Hubertus werden Sie weder etwas sehen noch hören!«

Der Stallmeister ist ein Mann, dessen ungepflegtes Äußere die Aussage durchaus bestätigt. Er sagt kein Wort und schaut nur mit unbewegter Miene in die Runde. Wobei sich in den undurchdringlichen Augen ein aufmerksames Beobachten vermuten lässt. Sein Alter ist schlecht einzuschätzen, vielleicht zwischen fünfzig und sechzig Jahren. Eine Tatsache die natürlich täuschen kann, denn eine ordentliche Rasur und angemessene Kleidung könnten hierbei schon helfen.

Seine wilde schwarze Mähne, der braune Teint, die dunklen Augen und die kräftige Statur lassen eine südländische Herkunft vermuten. Seine gelblichen Finger, deren Nägel vermutlich lange keine Pflege oder Seife gesehen haben, zeugen von starkem Rauchen. Die Haut an Oberarmen, Hals und Gesicht wirken wie gegerbtes Leder. Der Mann ist beinahe zwei Meter groß, schlank fast dünn, aber mit kräftigen Oberarmen. Er gehört offenbar zum Inventar des Hauses. Seine Bleibe ist über dem Stall und der Werkstatt.

Na dem möchte ich im Dunklen nicht begegnen. Bei so einem Angestellten kann man getrost auf einen Wachhund verzichten!, denkt Rita erschauernd.

Beim Blick in das entsetzte Gesicht der jungen Frau vorm Kamin erkennt sie sofort. Auch sie beschleicht ein ähnliches Gefühl. Man bleibt besser in den Räumen des Hauses. Vielleicht ist das auch genauso beabsichtigt. Warum sonst beschäftigt man einen Menschen mit diesem äußeren Erscheinungsbild? Hinzu kommt ein Ambiente, was vor Prunk und Reichtum protzt. Will man von Anfang an vermeiden, dass sich die Gäste auf dem Außengelände herumtreiben?

Das Gefühl, hier passt etwas nicht zueinander, wird sofort wieder stärker und beim Blick in die Runde der teils zweifelnden Gesichter weiß sie. Alle haben mehr oder weniger Gleiches erlebt, seit sie sich auf den Weg zu dem geheimnisvollen Ort begaben. Wobei jeder von ihnen mit dem Stallmeister bereits Bekanntschaft gemacht hat. Er stand zu einem verabredeten Zeitpunkt am Parkplatz und brachte die Gäste samt ihrem Gepäck zum Anwesen. Nur Rita machte hiervon keinen Gebrauch. Sie wollte unbedingt zuerst anwesend sein, um vielleicht einen Vorteil zu haben. Was für ein Irrtum!

»Diese junge Frau ist Nicole. Sie ist unser Stubenmädchen und wird sich um Ihre Zimmer kümmern. Darüber hinaus können Sie sich natürlich mit jeglichem Anliegen auch an sie wenden«, setzt Belinda ihren Vortrag fort.

Nicole ist blond, schlank, etwa zwanzig Jahre alt, ebenfalls mit einem grünen Overall und bestickter Schürze gekleidet. Sie tritt einen Schritt nach vorn, macht einen altmodischen Knicks und danach wieder einen Schritt zurück. Das schulterlange Haar ist ordentlich zu einem Knoten gebunden. Ihre sehr angenehme Erscheinung lässt ein Leuchten über die Gesichter der anwesenden Männer ziehen.

Rita und die ältere Dame im Rollstuhl neben ihr, ziehen verwundert die Augenbrauen hoch. Als sich Nicole nach ihrer Verbeugung zurückzog, breitete sich ein wärmendes intimes Lächeln mit Augenzwinkern auf dem sonst so distanzierten Gesicht der Hausdame aus. Sicher nur für den Bruchteil einer Sekunde. Sie reichte jedoch aus, um allgemeine Verwirrung zu stiften.

Abermals befällt sie das Gefühl von unerklärlichen, jedoch nur zu offensichtlichen Ungereimtheiten, zusätzlich zu ihren einstudierten und vorgetragenen Floskeln. Noch unverständlicher findet sie die Tatsache, dass Nicole nur zu den Semesterferien im Haus ist. Sie studiert Archäologie. Nach diesem Wochenende wird sie in den wohlhabenden Rechtsanwaltshaushalt ihrer Eltern zurückkehren.

Wie kann das sein?, denkt sie verwirrt.

Ein so warmherziger Umgang passt nicht zu Belinda. Noch dazu gegenüber einer Angestellten, die sie angeblich erst seit wenigen Wochen kennt. Nicole ist vermutlich hochgebildet und allseits interessiert. Auch hat sie hervorragende Umgangsformen. Alles Voraussetzungen, um sich schnell in ein neues Umfeld einzufügen. Und doch, der Zweifel nagt an ihr und wenn sie in die Gesichter der anderen schaut, ist sie nicht die Einzige.

»Unser Haus verfügt über eine exzellente Küche. Dafür sorgt unsere Köchin Berta!«

Wie bitte, die ist eine Köchin?, protestiert Rita innerlich. Ich hätte sie allerhöchstens in der Geschäftsleitung oder vielleicht noch an der Rezeption gesehen, quasi als Aushängeschild des Landsitzes.

Berta scheint dreißig Jahre alt zu sein. Sie ist hochattraktiv mit feuerrotem Haar, dass sie elegant nach oben drapiert trägt. Sie ist sehr groß, schlank und hat einen Gang der nicht natürlich ist. Ihre gesamte Erscheinung gehört auf den Laufsteg eines der berühmten Modelevels der Haute Couture. Anders als Belinda und Nicole, trägt sie keinen Hausoverall. Ihre schlanke Figur umspielt ein teures elegantes Kostüm in einem hellen beigen Ton. Darunter leuchtet ein Top, das die beiden Herren auf ihrem antiken Sofa abrupt an die Sitzkante rutschen lässt. Die Krönung sind ihre knallroten hochhackigen Pumps, mit denen sie sich bewegt, als wären sie an den Füßen angewachsen.

Eine Köchin? Nie im Leben! Und wer kommt jetzt, der Reitlehrer?

Ritas Blick hängt an dem jungen Mann neben Berta. Er trägt einen Smoking, hat aber die Erscheinung eines Sonnyboys, nach dem sich jede Frau spontan umdreht und der nicht selten ihre nächtlichen Träume heimsuchen wird.

»Da wäre noch Georg Hemelton, der Butler unseres Hauses. Er ist eigens für Ihr Wochenende angereist! Seine Ausbildung genoss er in einer der besten Butlerschulen Englands. Sie sehen, es wird Ihnen hier an nichts fehlen!« Belinda grinst verwegen.

Georg ist groß, schlank und sportlich gebaut. Allein durch seine Größe und dem antrainierten weichen Gang ist er eine Augenweide. Den Männern zeigt er eine zurückhaltende begrüßende Geste. Wogegen er jeder Frau im Raum mit einem verführerischen Blick und dem Lächeln eines geborenen Charmeurs den Hof macht, ohne auch nur ein Wort zu sagen. Die Frauen in der Runde sind allesamt verzaubert. Das Kopfkino läuft und Träume beginnen erste Flügel zu bekommen.

Damit scheint die Vorstellungsrunde des Personals beendet. Belinda dreht sich zur Tür, um die Angestellten hinauszubegleiten. In dem Moment wird sie von einem älteren Herrn unterbrochen, der gerade den Salon betreten hat. Den Anblick den er bietet, verursacht ein allgemeines Raunen, dass spontan durch den Raum schwappt. Er ergreift sofort das Wort, was Belinda offensichtlich gar nicht gefällt.

Rita erwartet einen derben Protest der Hausdame. Stattdessen macht sie innerhalb weniger Sekunden einen untertänigen Rückzug. Genauso geübt und aufgesetzt, wie jede Geste, die sie sonst zeigt. Aber die Verärgerung über seine anmaßende Art spiegelt sich sofort auf den herben Gesichtszügen wider. Sie wirken schnell vollkommen unnahbar, wie eine gerade aufgesetzte Maske.

Wenn Augen morden könnten!, denkt Rita erschrocken.

Belinda hätte die perfekten Waffen dazu.

Abrupt bleibt sie stehen, tritt einen Schritt zurück und überlässt ihm die Bühne. Für ihn scheint die Geste durchaus angebracht. Offenbar erwartet er vom angestellten Personal Respekt, Ehrerbietung und eine zuvorkommende Zurückhaltung. Dieser Mann wirkt auf Rita, als wäre er direkt aus einem Regal der Hausbibliothek entstiegen.

Er trägt einen Nadelstreifenanzug mit weißem Hemd und altmodischen Manschettenknöpfen. Die schwarze Fliege und das seidene Einstecktuch irritiert jedes Auge. An einer goldenen Kette hängt eine halbrunde Brille locker um den beinahe nicht vorhandenen Hals. Untersetzt mit spärlichem Haar, wächst um sein Doppelkinn ein Dreitagebart. Der lässt durchaus noch etwas von dem Schwarz erahnen, dass auf seinem einst vollen Haarschopf wuchs. Ein leichtes Räuspern sichert ihm sofort die Aufmerksamkeit jedes Anwesenden.

»Guten Abend verehrte Herrschaften! Mein Name ist Doktor Otto Brandhorst. Für dieses Wochenende wurde ich von Ihrem Gastgeber und Eigentümer des Stammsitzes der Familie Balandero gebeten, mich um Sie und Ihre Belange zu bemühen. Sie können mich jederzeit ansprechen, sollten Sie ein Problem oder eine Frage haben!«

Rita runzelt besorgt die Stirn. Denn von einem Beobachter ihrer Veranstaltung, war in ihrem Bestätigungsschreiben keine Rede gewesen. Hätte nicht schon seit dem Verlassen des Parkplatzes über ihr das Gespenst der unheimlichen Vorahnung geschwebt, würde sie dem sogenannten Freund des Hauses keine große Beachtung schenken oder ihn nur am Rande bemerken.

Sie schielt zu dem seltsamen Herrn hinüber. Er berichtet, dass er seit vielen Jahren immer wieder vor Ort sei. Tatsächlich ist er Doktor der Medizin aber ebenso eine Koryphäe im Bereich historischer Familienchroniken und deren Archäologie. Aus dem Grund sei er häufig hier zu Gast. Bei der Gelegenheit könnte er sich auch gleich um die Belange der anwesenden Gäste bemühen.

»Sind Sie Frau Dankeschön?«

Otto geht zielstrebig auf Rita zu, greift nach der Hand die sie ihm reicht, deutet einen Handkuss an und schaut ihr dabei direkt in die Augen. Sein starkes Aftershave setzt sich unangenehm in ihrer Nase fest. Wobei sein Benehmen durchaus zu seinem Äußeren passt.

Das verwirrt nicht nur sie. Mit offenem Mund starrt die korpulente Frau auf der rechten Sitzgruppe den Mann im noblen Anzug fassungslos an. Das Sofa befindet sich vor einem hohen schwarzen Stein, auf dem eine Büste eines vermutlich einst wertvollen Reitpferdes steht.

»Ich überlasse Ihnen und Ihren Gästen den Salon! Wenn Sie mich brauchen, finden Sie mich in der Bibliothek.«

Dann dreht er sich umständlich zur Tür, wobei die edlen schwarzen Schuhe einen seltsamen Ton von sich geben. Zügig schließt er die Tür von außen. Für Sekunden herrscht nun Stille.

Rita dreht sich zu ihren Gästen, versucht zu lächeln und greift hinter sich nach einem Zettel auf dem Tisch.

»Herzlich willkommen zu unserem gemeinsamen Wochenende. Ich freue mich sehr, dass Sie alle meiner Einladung gefolgt sind!«

Jeder schaut sie gespannt an und wartet auf ihre Ausführungen.

»Ich habe hier eine Anmeldeliste.«

Sie nimmt auf der vorderen Sitzgruppe gegenüber der zwei jungen Männer Platz. Beide grinsen ihre attraktive Gastgeberin ungeniert an. Mit einem ebensolchen frechen Grienen wendet sie sich den anderen im Salon zu.

»Ich schlage vor, Sie sagen kurz etwas zu Ihrer Person und was Sie sich von diesem Treffen versprechen. Ich könnte mir vorstellen, nicht jeder von Ihnen kam nur allein wegen des Geschichtenerzählens in die Runde.«

Die beiden Herren an Ritas Tisch ergreifen zuerst das Wort.

»Hallo alle zusammen! Ich bin Hugo Müller und das ist mein Kollege Herbert Meyer.«

Der sportliche junge Mann, der von seiner Person sehr überzeugt scheint, zeigt auf seinen Tischnachbarn. Er ist vermutlich etwas älter, fülliger und kleiner. Sein blondes lockiges Haar lässt ihn einen entspannten und gelassenen Eindruck vermitteln. Trotzdem beobachtet er sehr genau das Geschehen im Salon.

»Wir sind Geschäftsleute aus Frankfurts Bankenwelt und suchen nach interessanten Orten oder Ideen zur Teambildung unserer Mitarbeiter. Ihre Anzeige klang so spannend, innovativ und unerwartet, dass es möglicherweise genau die Art von Motivation bieten könnte, nach der wir stets suchen!«

Herbert nickt zustimmend und ergänzt: »Natürlich wissen wir, dass man bei so einem Vorhaben auch aktiv mitwirken muss. Ich denke, das Frankfurter Bankenviertel verfügt über genügend Stoff, um interessante und spannende Geschichten zu erzählen!«

»Vielen Dank! Ich freue mich auf Ihre Erzählungen.«

Nachdenklich dreht sich Rita der jungen Frau am Kamin zu und bittet sie mit einem aufmunternden Lächeln, sich vorzustellen. Sofort zieht eine von Aufregung verursachte Röte über ihre Wangen.

»Ähm… okay…!«, krächzt sie verlegen. »Mein Name ist Lisa Knautschke. Ich bin Studentin für Literatur und Germanistik. Um ehrlich zu sein, ging es mir nicht so sehr um das Erzählen!«

Etwas unsicher schaut die junge Frau mit den kurzen blonden Haaren in die Gesichter der anderen Gäste.

»Ich habe mich bereits vor zwei Jahren mit dem historischen Landsitz und dessen Geschichte, als auch mit der des Familienclans beschäftigt. Jetzt hoffe ich, mich einmal in der Bibliothek des Hauses umsehen zu dürfen. Vielleicht finde ich Stoff und Material für meine Masterarbeit. Gerne beteilige ich mich mit meinen Erfahrungen und Erlebnissen aus meiner einjährigen Studienreise quer durch Europa am Austausch von Erzählungen und bin deshalb schon sehr aufgeregt.«

Mit einem zuckersüßem Lächeln beendet sie die Vorstellung ihrer Person.

»Das klingt nach aufregenden Geschichten aus aller Welt und macht sicher nicht nur mich sehr neugierig!«, sagt Rita und zwinkert ihr zu.

Mit einem weiteren auffordernden Lächeln schaut Rita der jungen Frau auf dem Sofa vor der hellen Fensterfront entgegen. Sie nickt freudig, rutscht nach vorn und beginnt zu erzählen.

»Ich bin Frederike Kästner!«

Sie versprüht eine unbeschwerte Fröhlichkeit mit einem natürlichen Selbstverständnis, das sich schnell auf alle Anwesenden überträgt. Als hätte man ein Tor geöffnet, breit und für jeden zugänglich.

»Weil ich mit meinem Studium fertig bin und ab nächsten Monat ein Jahr um die Welt ziehen werde, suchte ich bis dahin gezielt nach Abenteuern. Ihre Anzeige Frau Dankeschön, las sich so spannend, da musste ich unbedingt dabei sein! Ich spreche vier Sprachen und Erzählen ist somit kein Problem.«

Am selben Tisch in einem ebenfalls samtbezogenen Sessel scharrt ein Mann mit alltäglichem Äußeren, vermutlich mittleren Alters, ungeduldig und aufgeregt mit seinen Füßen unter dem Tisch. Mit einem Schmunzeln um ihre Mundwinkel zwinkert Rita dem unruhigen Mann zu.

»Sie sind sicher Bodo Luckner!«

Sein heftiges Nicken wirkt für einen kurzen Moment übertrieben und unnatürlich.

»Wir hatten bereits Kontakt auf meiner Autorenseite?«

»Ja, klar! Ich freue mich sehr, Sie endlich einmal persönlich kennenzulernen! Jedes Ihrer Bücher habe ich geradezu verschlungen. Dabei würde ich es gerne selbst einmal mit dem Schreiben versuchen. Ich hoffe, dass ich Ihnen beim Entstehen Ihrer aufregenden Geschichten über die Schulter schauen kann!«

Im selben Moment erschreckt Rita, hat sofort ihre Lektorin im Ohr, atmet tief durch und hofft, dass niemand ihren Aussetzer bemerkt hat.

»Nun, wir werden sehen. Ich darf doch davon ausgehen, dass Sie uns ebenfalls an Ihren Ideen und Arbeiten teilhaben lassen?«

Wieder ein aufgeregtes Nicken, das nicht zu seinem Äußeren passen will.

Der Mann links gegenüber, der Rita von erster Sekunde an nicht aus den Augen lässt, zieht kaum sichtbar die Augenbrauen hoch. Nun streckt er seinen Rücken, schaut mit aufmerksamem Blick in die Runde und erhebt die Stimme. Die Art wie er spricht, klingt nach Anordnungen, aber keineswegs nach einem Typ, der ein spannendes Wochenende erleben möchte. Trotzdem folgen sofort alle Augenpaare seiner Stimme.

»Mein Name ist Christopher Hermann Bond. Ich habe mich Ihrer Gruppe angeschlossen, um dem eigenen streng regulierten Alltag kurzzeitig zu entgehen. In so einer Gruppe, wie ich sie hier vermute, sind Leute die anders sind als die, denen ich in meinem Leben begegnen könnte. Ganz sicher werde ich ebenfalls eine Geschichte aus meinem Umkreis oder Erfahrungen vortragen.«

Nach seinen wenigen Sätzen lehnt er sich zufrieden zurück.

Der Kerl ist auf keinen Fall das, was er vorgibt zu sein! Was will er wirklich hier? Die Fragen, die sich Rita stellt, stehen ihr im Gesicht und werden von ihm sofort registriert.

Nur leider ist in seinem emotionslosen Gesicht nur wenig zu erkennen. Er versucht es mit einem Grinsen, das die Zweifel erst recht bestätigen. Seine Mimik ist nicht an ein fröhliches Grinsen gewöhnt.

Wer ist er?

Ein großer, muskulärer Mann wie er mit kurzgeschorenem Haar, kennt vermutlich keine Ängste. Seine kräftigen Oberarme zeugen von regelmäßigen Besuchen im Fitnessstudio und dem permanenten Arbeiten mit Handeln und Gewichten. Er wirkt etwa fünfzigjährig und scheint wenig geübt im freien Sprechen. Er äußert sich in kurzen knappen Sätzen. Seine lauten Worte haben eine klare und sehr strenge Aussprache. Dabei scheint er einen deutlichen Akzent verbergen zu wollen. Trotz allem Misstrauens; alle andern scheinen ihn eher zu bewundern, als zu fürchten. Er nickt nur wohlwollend und Respekt erwartend. Eben genauso, wie er es vermutlich gewohnt ist.

Rita beobachtet von Beginn an jeden ihrer Erzähler. Dabei bleibt ihr Blick an der älteren Dame im Rollstuhl und dem jungen Mann an ihrer Seite hängen. Sie bemerkt es und fühlt sich deshalb aufgefordert, das Wort zu ergreifen.

»Ich bin Frieda Grummlich und das ist mein persönlicher Pfleger und Begleiter Marlon!«

Mit ihren knorrigen schmalen Fingern zeigt sie auf den stillen und scheinbar unnahbaren Mann. Er scheint sich nicht äußern zu dürfen oder zu können. Beinahe hypnotisiert folgt er jedem Fingerzeig Friedas. Ein Augenaufschlag genügt offenbar und er weiß, was er zu tun hat.

Was Rita jedoch sehr verwundert und befremdlich mit den Achseln zucken lässt, ist der Blick auf die Zimmerliste in ihrer Hand. Frieda Grummlich bestand von Anfang an auf ein gemeinsames Zimmer, für sich und Marlon. Er muss stets verfügbar sein. Für ihn ist das vielleicht eine gelebte Realität, die ihm nichts auszumachen scheint.

»Marlon und ich bewohnen ein gemeinsames Zimmer. Ich sage es, bevor sich jemand wundert und gehe einfach davon aus, dass man meine Privatsphäre respektiert. Man nennt mich unter Influencer-Kreisen nur die Grusel-Schocker-Oma!«

Provozierend schaut Frieda, die sich optisch durch nichts von der Seniorin nebenan unterscheidet, in die Runde. Ihr graues Haar zeugt vom täglichen Besuch zahlreicher Lockenwickler. Auch die grob gehäkelte gelbe Strickjacke passt hervorragend dazu. Vermutlich entwickelt sie unter der Trockenhaube ihre zahlreichen schaurigen Geschichten für den täglichen Auftritt im Netz.

Das sie hierbei auf einen Rollstuhl angewiesen ist, stört sie nicht. Zumal der junge Mann an ihrer Seite mit seinen feinen Gesichtszügen einen sehr angenehmen Eindruck vermittelt. Marlon ist geschätzt vierzig Jahre alt und jugoslawischer Herkunft. Dabei nicht von großem Wuchs, dennoch mit einer erotischen Ausstrahlung gesegnet, was seines gleichen sucht. Die kräftige Statur und der schwarze volle Haarschopf verstärken diesen Eindruck erheblich. Seine Wirkung auf die weiblichen Gäste im Raum beantwortet Frieda mit einem ungezogenen zufriedenen Grinsen. Trotz ihrer klaren Worte entsteht ein Murmeln unter den Anwesenden.

Wer hat sich nun noch nicht vorgestellt? Etwas hilflos nach diesem Auftritt betrachtet Rita ihre Gäste.

In der äußersten Sitzgruppe vor dem Pferdedenkmal und etwas abseits, nennt die korpulente Frau nur kurz und knapp ihren Namen und erklärt, sie werde sich am Erzählen beteiligen.

Etwas irritiert sehen sich die anderen an und dann fragend zu ihr hinüber. Davon lässt sich Ramona Elfbein nicht verleiten preiszugeben, warum sie wirklich hier ist. Sie wirkt aufgeregt, fühlt sich unwohl und blickt nervös in die neugierigen Gesichter um sie herum.

Mit einem unruhigen Blick auf die Gastgeberin macht sich die letzte Erzählerin bemerkbar. Sofort ergreift Rita das Wort.

»Ich habe Sie nicht vergessen. Wollen Sie ein paar Worte sagen oder soll ich das übernehmen?«

»Gern, danke!«, nickt die junge Frau.

Es scheint als würde sie nervös an den Fingernägeln kauen.

Lächelnd wendet sich Rita an die anderen.

»Das ist Amelie Zobel. Wir hatten schon seit langem Kontakt. Frau Zobel ist mein persönlicher Gast. Sie wird sicher gern bei allen Erzählabenden dabei sein, auch wenn sie nicht explizit zum Geschichtenerzählen gekommen ist!«

Ein Aha - Ausdruck erscheint spontan auf allen Gesichtern. Der Blick der fünfundzwanzigjährigen Amelie geht verlegen auf ihre Schuhe. Ritas aufmunterndes Lächeln beruhigt sie ein wenig.

Der optische Eindruck der jungen Frau lässt eigentlich eine andere Reaktion vermuten. Groß, schlank mit kurzgeschorenen Haaren und riesigen bunten Tattoos auf Armen, Hals und Rücken erzählen von einem Selbstbewusstsein, woran es im Augenblick zu mangeln scheint.

Rita kennt ihr Geheimnis, den Grund warum sie hier ist. Sie selbst lud Amelie zu diesem Wochenende ein. Sie hatte sich vor Monaten mit einer Bitte an Rita gewandt. Ein inoperabler Tumor im Gehirn und nur noch wenige Monate Lebenserwartung ist eine unerträgliche Diagnose. Ihr einziger Wunsch war, ihre Memoiren zu schreiben. Der ließ sie nach einem Autor und dessen Verlag suchen.

Rita erklärte sich dazu bereit und glaubte, der Verlag würde ihr ein solches Buch aus den Händen reißen. All das hat nun, nachdem man ihr den ’Feuervogel’ nicht abnahm, keinerlei Grundlage mehr. Bis jetzt brachte sie es aber nicht fertig, der todkranken Amelie die Wahrheit zu sagen. Deshalb lud sie die vom Schicksal verratene junge Frau hierher ein, erklärte aber nicht, was sie eigentlich vorhatte. Sie spekulierte auf eine wahrscheinliche Ablehnung Amelies zu ihrem Vorschlag. Das sie nun unter den Erzählern sitzt und somit nicht lange brauchen wird, um die Wahrheit hinter ihrer Einladung zu erkennen, ist sicher. Amelie ging natürlich davon aus, mit ihr allein zu sein. Sie akzeptierte den speziellen Ort als Notwendigkeit für ihre Kreativität. Zumal ihr Anliegen und der dramatische Hintergrund nicht alltäglich sind. Verständlicherweise reagiert Amelie verstört und unzufrieden.

Wie Rita die sich bereits jetzt schon anbahnende Krise bewältigen will, davon hat sie nicht die Spur einer Ahnung. Dass die anderen erfahren, worum es bei der Anwesenheit der nervösen Frau geht, möchte sie so lange wie irgend möglich verhindern.

Ein Blick in das Gesicht von Christopher Bond genügt. Es bedarf keiner weiteren Warnung mehr. Der Mann ist nicht zum Erzählen hier.

Was will er wirklich?

Sie hat vom ersten Augenblick an das Gefühl, beobachtet zu werden. Oder ist das wieder nur eine weitere Fata Morgana ihres gestressten Gehirns?

Nur mit Mühe reißt sie ihren Blick von ihm los und als sie sich dann allen anderen zuwendet, spürt sie seinen Blick wie ein scharfes Schwert an ihrem Hals.

Niemand hört dich schreien

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