Читать книгу Niemand hört dich schreien - Heike Gehlhaar - Страница 7
ОглавлениеKapitel 3
Noch immer schwer atmend sitzt Rita auf einem mit scharlachrotem Samt bezogenen Sofa. Ein wenig zittrig greift ihre schneeweiße Hand nach der feinen Porzellantasse, über der sich der Qualm des heißen Kräutertees in kleinen Wölkchen kräuselt. Seufzend lehnt sie sich zurück, umfasst mit beiden Händen die Tasse und langsam schweift ihr Blick durch die Empfangshalle. So etwas hat sie noch nie gesehen.
Jeder Mitarbeiter eines Museums würde hier vermutlich freiwillig und mit feuchten Augen Jahre verbringen. Allein der Anblick des antiken, wie gerade erst einem Königshaus entzogenen Mobiliars, lässt jedem Betrachter den Mund offen stehen. Das schrullige Sofa, auf dem sie völlig entkräftet niedersank, als die Angestellte in die Küche eilte, um sie mit einem heißen Getränk zu versorgen, scheint für sie im Augenblick wie der letzte Zufluchtsort.
Zärtlich erobern ihre Finger das dunkle lackierte Holz, das mit geschwungener Schönheit den Samt beschützt. Seine leicht nach außen gebogenen Beine halten zuverlässig jeden, der auf ihm nach Bequemlichkeit sucht. Helle Kissen mit Goldfäden gestickten Blumenornamenten laden zum Verweilen ein. Ein flacher runder Tisch, der auf einem gedrechselten Fuß steht, passt ebenso gut ins Ambiente, wie zwei hohe Ohrensessel aus dem gleichen Holz und samtbezogenen Armlehen. Trotz ihrer offensichtlich vielen Lebensjahre sieht Rita nicht einen Kratzer oder gar ein Stäubchen an der Sitzgruppe.
Die weinrote Auslegware, gepaart mit feinen Teppichen, deren rotgold leuchtenden Ornamente hell und klinisch rein wirken, verführen zum Barfußgehen. Für wenige Sekunden kämpft sie mit dem Drang, sich ihrer Schuhe zu entledigen und die wunden Füße im weichen Flor zu vergraben. Sie stellt die Tasse zurück auf den Tisch neben die zarte Porzellanvase, deren Dekor dem des Teegedeckes sehr ähnlich ist. Ein duftender Blumenstrauß steht stolz in uraltem Porzellan.
Die weiträumige Empfangshalle bildet den Mittelpunkt und das lebendige Zentrum des Hauses. Hier beginnen alle Wege in jeden Winkel des Gebäudes. Man trifft sich, empfängt Gäste oder verweilt staunend. Jeder Zentimeter des hohen Raumes, der scheinbar keine eigene Decke hat und somit direkt im Dachstuhl endet, wirkt düster und einschüchternd. Seine Weite und Eleganz können die Wärme von Tageslicht nicht ersetzen. Ein goldener Käfig aus dem es kein Entkommen gibt.
Kaum fünf Minuten brauchte dieses Flair, um Rita in einer Gänsehaut ertrinken zu lassen. Der fensterlose Raum mit seinen vielen Katakomben ähnlichen Durchgängen, meist von schweren Stoffvorhängen umhüllt, nehmen ihr die Luft zum Atmen. Schon wünscht sie sich in den fürchterlichen Fichtenwald zurück. Die überreizten Nerven machen ihr zusehends zu schaffen. Selbst eine Fliege an der Wand würde für sie zu einem grausamen Monster werden, das sie umgehend verschlingen will.
Dabei wäre ein Freund von Relikten alteingesessener Familien Wochen allein nur damit beschäftigt aufzulisten, was er in der Halle sieht. Aber sie fühlt sich im Inneren des Hauses noch unwohler als draußen. Auch wenn es hier keinerlei Enge gibt. Die dunklen Stofftapeten, abgesetzt mit hellen Holzborden, verschlucken gefühlt jegliches Licht. Dennoch ist der Raum hell. Unzählige elegante antike Metallleuchter ragen in gleichmäßigen Abständen von den Wänden. Sobald sich dieser Glanz unter interessierten Gruppen herumgesprochen hat, kann sich das Haus vermutlich vor Gästeströmen und Anfragen Neugieriger nicht mehr retten.
Das zählt für Rita nichts mehr. Selbst eine ins Schloss fallende Zimmertür wird zum Problem. Es schallt aus dem vorderen Bereich des Raumes zu ihr herüber. Schon hört sie Schritte und noch ehe sie die Angestellte sehen kann, krallen sich ihre Hände in die auf dem Sofa liegenden Kissen. Ihr tobender Herzschlag hallt wie ein Echo von den hohen Wänden wider.
Ein wenig außer Atem kommt die Servicemitarbeiterin auf die Sitzgruppe zu. Unterm Arm klemmt ein Sanitätskasten und in dem rosigen Gesicht strahlt ein Lächeln, das nicht echt sein kann.
»So, Frau Dankeschön! Jetzt wollen wir Sie erst einmal verarzten!«
Mit geübten Handgriffen versorgt sie die Wunde am Knie, schaut nach ihrer verletzten Hand und reinigt die zerkratzten Finger.
»Kommen Sie, ich zeige Ihnen Ihr Zimmer! Ich denke, Sie sollten sich zunächst zurückziehen und etwas ausruhen!«
Ohne Widerrede erhebt sich Rita und folgt ihr in Richtung Treppe.
»Oh, entschuldigen Sie. Ich habe mich noch gar nicht vorgestellt. So früh hatte ich noch nicht mit Ihnen gerechnet. Mein Name ist Belinda Romanowski. Aber jeder sagt hier nur Belinda zu mir, die gute Seele des Hauses. Ich bin schon so lange in diesem Landsitz, dass manche Gäste glauben, ich wäre mit dem Haus verwandt. Ich bin hier die Hausdame und für das Wohl der Besucher verantwortlich. Wenn Sie sich etwas erholt haben und alle Gäste eingetroffen sind, stelle ich Ihnen das restliche Personal vor. Jetzt brauchen Sie erst einmal Ruhe. Kommen Sie!« Damit dreht sie sich zum Gehen.
Rita schlurft mit starrem Blick hinterher. Kurz vor der Treppe bleiben ihre erschrockenen Augen am Wandteppich in der Ecke gegenüber der Treppe hängen. Es ist ein Gemälde, unheimlich, mit dunkelroten und schwarzen Schatten gezeichnetes Porträt eines früheren Besitzers oder gar dem Erbauer des einstigen Herrschaftssitzes. Sein dunkler Blick verfolgt sie auf jeder Stufe des knarrenden Holzes, die sie nun nach oben steigt. Auf dem Podest glaubt sie einen Windhauch zu spüren und eine leise Stimme, weit entfernt säuselt unheimliche Worte die sie nicht versteht.
Hört denn der Albtraum nie auf?, denkt sie erneut.
Nur mit Mühe reißt sie sich von dem magischen Antlitz an der Wand los und steht auf dem Flur einer großzügigen Empore. Das Treppenhaus mit seinem geschwungenen emporragenden Verlauf folgt den mit düsteren Tapeten gestalteten Wänden in die nächste Etage. Wenn auch das Holz der Stufen dank seines vermutlich hohen Alters nachgibt und jede Belastung mit einem empfindlichen Ächzen beantwortet, wirken die Stufen keineswegs abgenutzt.
Der rot-schwarz gemusterte Läufer folgt dem Treppenverlauf und geht in dieselbe Auslegware über, wie im Eingangsbereich. Es dämpft den Schall der sehr hohen Halle. Das rotbraune Holz der Geländerelemente passt perfekt zur gesamten Inneneinrichtung. Ein aus zartem hellen Holz gefertigter Handlauf schmeichelt hingegen dem sonst schaurigen Anblick.
Geländer, Teppiche und Handläufe folgen der Empore, die sich über dem gesamten Eingangsbereich erstreckt. Die Treppen werden von zwei durchgehenden Marmorsäulen gehalten, die bis unters Dach reichen. Auf Höhe des Podestes ragen aus dem Marmor zwei geschnitzte Figuren in Form wilder Hunde hervor. Bedrohlich fletschende Zähne empfangen sie am Ende des Treppenaufganges.
In dem Spiegel an der gegenüberliegenden Wand sieht Rita eine Frau, der das Entsetzen ins Gesicht geschrieben steht. Das blasse Antlitz und die tiefen Augenringe unter den hübschen braunen Augen, erzählen von dem gerade durchlebten Albtraum. Ihr Gesicht scheint in der kurzen Zeit um Jahre gealtert zu sein. Dabei hinterließ die Vier vor der Null bisher noch keine Spuren auf ihrer glatten Haut.
Währenddessen eilt Belinda vor ihr her, durchquert einen Torbogen, der von der Empore aus in einen weiteren Flur führt. Die weiche Auslegware auf dem Boden entzieht auch hier jeglichen Ton, zumal auf ihr der rot-schwarze Läufer wie ein leuchtender Leitpfad den Weg weist.
Vielleicht ist das alte Gemäuer sehr kalt und neigt zu feuchten Wänden?, überlegt sie.
Wie der Eingang eines Tempels wirkt jeder der Bögen, die in verschiedene Richtungen führen. Marmorsäulen an ihren Seiten werden von hellbraunen Samtvorhängen umspielt. Die lassen zumindest auf eine gemütlichere Atmosphäre in den Gästezimmern hoffen.
Ritas Blick ist noch immer auf ihren Koffer fixiert, dessen Gummirollen sich quietschend über die Teppiche bewegen. Als sie um die nächste Ecke biegt, sieht sie Belinda gerade auf einen kleinen Vorraum zugehen. Offenbar befinden sich hier bereits Gästezimmer, wobei keines von ihnen für sie bestimmt ist. Zwei kleine Stufen, begleitet von einem flachen Holzgeländer, führen hinauf und um die Ecke.
Das ist eine durchaus typische Bauweise für ein so altes über Jahrhunderte gewachsenes Gemäuer, denkt sie. Entweder baute man nach der Fülle des Geldbeutels oder es kam mit jedem neuen Besitzer auch ein neuer Anbau hinzu, da ist sie sich ganz sicher.
Alle Wände, Decken und Böden sind im selben Stil gehalten. Zahlreiche Gemälde mit Landschaften rund um den Landsitz, Porträts oder Stillleben hängen in goldfarbenen Rahmen an den Wänden. Ebenfalls goldfarben sind die zweiarmigen Leuchter dazwischen. Sie spenden das notwendige Licht. Auch in diesem Bereich des Hauses fehlt es an Tageslicht. Antike Möbel wie Sitzgruppen, Sekretäre und Vitrinen verführen ganz sicher jeden zum Relaxen. Rita hingegen braucht nur noch eines: ein eigenes Zimmer mit einer abschließbaren Tür.
Der nächste Flur ist ebenso mit einem Torbogen und Samtvorhang gestaltet wie die anderen zuvor. Wenn auch seine Decke mit vermutlich edlem Holz getäfelt wurde, scheint es als würde es den Betrachter erdrücken. Es nimmt ihm schlichtweg die Höhe. Wie die vielen Palmen und andere hochgewachsene Grünpflanzen, die in allen Fluren der Halle und im Treppenhaus stehen - jede von ihnen im edlen Tontopf gewachsen - mit dem immer währenden künstlichen Licht zurechtkommen, ist ihr ein Rätsel.
Vor der zweiten Tür bleibt Belinda endlich stehen, zieht einen großen gusseisernen Schlüssel aus der Spitzenschürze und schließt sie auf. Unverzüglich ist sie mit Ritas Gepäck dahinter verschwunden.
»So, Frau Dankeschön. Da wären wir!«
Sie schließt hinter sich die Tür, geht zum Kamin und prüft, ob genügend Holz aufgelegt wurde.
»Jetzt ruhen Sie sich aus. Um den Kamin brauchen Sie sich nicht kümmern. Es ist für genügend Wärme gesorgt!«
Sie dreht sich zur Tür und mit einem unergründlichen Lächeln sieht sie Rita an. Bevor sie nach draußen geht, steckt sie ihren Kopf noch einmal herein.
»Wie ich Ihnen bereits sagte, sobald alle Gäste eingetroffen sind und ihre Zimmer bezogen haben, wecke ich Sie!«
Dann zieht sie die Tür ins Schloss und sie hört ihre Schritte, die sich auf den Teppichen schnell entfernen. Sind es Sekunden oder Minuten, sie weiß es nicht. Ihr erschöpfter Körper und der überforderte Geist verlangen, dass sie sich entspannt. Sie setzt sich aufs Bett und lässt den Blick schweifen.
Bereits der erste Eindruck zeigt, sie befindet sich in einem normalen Gästezimmer. Langsam und sich dabei immer weiter beruhigend, schaut sie sich um. Allmählich wird ihr der Scharm bewusst, den dieses Ambiente versprüht.
Gut, ich werde mich jetzt ausruhen und mir dann das gesamte Terrain genauer ansehen. Ich brauche Stoff zum Schreiben - deshalb bin ich hier! Zufrieden mit ihren Gedanken vergisst sie die unruhige Atmung und auch ihr Puls normalisiert sich.
Das Himmelbett, auf dem sie sich niederließ, hat einen Metallaufsatz ohne entsprechenden Vorhang. Die Auslegware ist ebenso angenehm, wie jede zuvor. Jetzt endlich entledigt sie sich ihrer Schuhe und streckt die Zehen auf dem hellblauen, mit zarten weißen Punkten verzierten weichem Velur aus.
Anders als im restlichen Haus, beherrschen hier helle Farben die Wände und Decke. Die zarten luftigen Vorhänge und Gardinen an der großen Fensterfront lassen sie erleichtert aufatmen. Gegenüber des Bettes steht eine zwar ebenfalls sehr alte, jedoch mit sehr feinem Holz gearbeitete Kommode. Sie steht auf hohen kunstvoll gedrechselten Beinen, die ihr Alter nur bedingt verschweigen können. Zwei breite Schubladen mit siberfarbenen Griffen sind wunderschön. Beim Blick auf die Kommode verspürt sie spontan den Drang, sie zu öffnen. Warum denn auch nicht? Schließlich befinde ich mich in einem Gästezimmer. Da darf ich davon ausgehen, jegliches
Möbelstück nutzen zu dürfen.
Die erste Schublade ist erwartungsgemäß leer. In der Zweiten liegt ein Bilderrahmen, oval aus zartem hellen Holz und mit der Rückseite nach oben. Bereits als sie nach dem Bild greifen will, glaubt sie wieder eine Stimme zu hören. Sie klingt hilflos, jammernd oder weinend, in jedem Fall mit viel Verzweiflung. Erschrocken lässt sie das Bild fallen. Dabei schaut sie auf und in den an der Wand hängenden Spiegel. Er wirkt edel und wird von zwei Porzellanleuchtern umrahmt. Ein weiteres Mal sieht sie in ihr vor Entsetzen erstarrtes Gesicht. Es trägt die Züge einer Frau, die am Ende ihrer Kräfte angekommen ist. Eine lange schwarze Haarsträhne hängt ihr wirr über das linke Auge. Früher trug sie ihr Haar sehr kurz, fand ihre Locken zu widerspenstig. Seit dem Ende der Dreißig ließ sie es wachsen, überzeugt davon: langes Haar verhindert das Älterwerden.
Ohne die Kommode zu schließen, geht sie rückwärts und lässt sich aufs Bett sinken. Leise schluchzend fällt sie allmählich in einen unruhigen Schlaf.
Sie hört Geräusche, sie rennt, sie schreit… und plötzlich ist sie wach…
Sofort setzt sie sich auf und versucht, mit der Hand die Fetzen des Albtraumes wegzuwischen. Im Zimmer ist es still. Nur das zarte Knacken des brennenden Holzes im Kamin dringt an ihr Ohr. Endlich fühlt sie sich besser. Sie lässt die Beine aus dem Bett baumeln. Da fällt ihr Blick auf die offene Kommode. Wie von einem Magneten angezogen steht sie auf und geht auf sie zu. Rita greift hinein und ohne irgend einen weiteren Vorfall kann sie nun das Bild umdrehen. Es ist ein Porträt, alt aber wunderschön. Es zeigt das Gesicht einer strahlenden lebensfrohen Frau.
Was ist mit ihr geschehen? Augenblicklich schweifen ihre Gedanken ab.
Das leise weinende Jammern über dem Spiegel verbirgt vielleicht ein Geheimnis aus längst vergangener Zeit. Sofort ist die Neugier der Autorin geweckt und ihr Instinkt begibt sich auf alte verlockende Spuren und vielleicht auf den Weg zu neuen Geschichten.
Zunächst begutachtet sie ihr Gästezimmer. Die hellblauen Tapeten wirken sehr frisch. Als sie diese berührt, fühlt sie Stoff oder Seide. Rita kann es nicht definieren. Ähnlich wie die zarten Holzhandläufe im Treppenhaus sieht der getäfelte Sockel am unteren Teil der Wände aus. An der Ecke steht ein rustikaler museumsreifer Metallständer mit einer Waschschüssel obenauf. Obwohl aus einem anderen Jahrhundert, ist er dennoch komplett ausgestattet mit allem, was man für die kleine Wäsche benötigt. Sofort schaut sie sich um.
Wo ist das Badezimmer? Das gibt es hier offenbar nicht. Vielleicht geht man im Allgemeinen hierfür an den Brunnen?
Zum ersten Mal seit heute Morgen folgen ihre Mundwinkel einem zarten Lächeln. Sie stellt sich vor, wie eine Gruppe Geschichten erzählender Leute beim gemeinschaftlichen Bad am Brunnen aufgeregt ihre Badeschwämme zücken.