Читать книгу Sturm im Zollhaus - Heike Gerdes - Страница 6

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Offenbar war er doch eingeschlafen. Eben war da noch das schläfrige Piepsen der halbwüchsigen Blässhühner gewesen, die kleine Falten in das glatt gebügelte Wasser des Hafens plätscherten, und das leise Lachen und lautere Quietschen von der nahen Wiese, auf der eine Handvoll bunthaariger Halbwüchsiger Maumau spielten. Jetzt waberte ein anderer Ton in Romans Ohren, brachte kein angenehmes Auftauchen aus dem Tiefschlaf in den konturlosen Dämmer des Aufwachens, sondern Adrenalinflut und Herzklopfen.

Mit einem Ruck setzte Roman Sturm sich auf und stieß sich schmerzhaft den Ellenbogen. Was war das für ein Klang? Krankenwagen? Polizei? Nein, unverkennbar Feuerwehr. Stöhnend erhob Roman sich, registrierte mit kurzer Verwunderung und langsamem Erinnern, dass er in der Plicht des schmucken Plattbodenschiffchens stand, auf dem er sich vorhin träumend ein bisschen Seglerromantik geborgt hatte und dabei auf der hölzernen Bank eingeschlafen war. Die Nacht war hellblau – noch oder schon wieder? Er suchte den Mond, fand ihn nicht mehr und sah am Bugspriet vorbei eine dunkle Rauchfahne vor dem Blaugrau des Himmels. Ein langer Schritt brachte Roman aus der Illegalität seines Nachtlagers zurück auf die ausgedörrten Planken der Uferpromenade. Er strich sich die langen, schwarzen Haare aus dem Gesicht, die wie seine milchkaffeebraune Haut ein Erbstück seines hawaiianischen Großvaters waren, und denen er haltbare Spitznamen wie Mowgli oder Winnetou verdankte. Manchmal auch weniger nett gemeinte.

Dann grub er mit noch immer kribbelnden Fingern in seiner Hosentasche und fand schließlich den Schlüssel für sein Fahrrad, das er am Geländer der Promenade angeschlossen hatte. Eben gucken, was da brannte.

Der Rauchgeruch wurde intensiver, je mehr Roman sich dem Postamt näherte. Als er um die Ecke bog, sah er das Löschfahrzeug und einen Streifenwagen auf dem Schotterstreifen neben dem massigen Zollhaus stehen. Der alte Backsteinbau trug heute einen rauchgrauen Schleier. Gegen den heller werdenden Himmel zeichneten sich dunklere Wellen ab, malten exakt die Struktur der Dachpfannen nach und zerfaserten leicht an den Kanten zwischen den turmartigen Zinnen. Beinahe ehrfürchtig verharrte Roman, ehe er sein Fahrrad an den Parkscheinautomaten lehnte und durch die Rabatten mit langen Schritten auf das Zollhaus zuging.

Rund um den Feuerwehrwagen herrschte zwar geschäftiges Treiben, aber keine besondere Aufregung. Denkmalschutz hin oder her – der alte Kasten war zumindest unbewohnt und außer bei den vielen Veranstaltungen und heftigen Parties am Wochenende war nur tagsüber Betrieb. Dass an so einem lauen Sommermorgen jetzt doch ein Krankenwagen gemächlich die schwarzgelbe Gefahrentonne auf dem Bahnhofskreisel umkurvte und auf den Parkplatz einbog, war reine Routine. Fein. So konnte Roman den Budenzauber zum unverhofft frühen Dienstbeginn wenigstens genießen.

»Roman. So früh schon zu Bein?«

In seiner Verkleidung mit der orange leuchtenden Jacke und dem kränklich hellgrünen Helm hätte er den stämmigen Ahrend Berghaus beinahe nicht erkannt.

»Ja, du. Muss ja.« Warum viele Worte machen. »Wollt ihr nicht langsam mal löschen? Obwohl: Sieht ja auch schön aus.« Berghaus erwiderte Romans Grinsen. »Geht gleich los. Sobald ich den Schlüssel habe. War gestern hier ’ne heiße Fete oder warum kokelt die Bude? – Nu mach ma hinne«, raunzte er in Richtung Auto, in dessen Handschuhfach ein anderer Helmträger kramte. »Wollen das Teil doch nicht zu heiß werden lassen.«

So früh kann es gar nicht sein, dass so ein nettes, kleines Feuer ohne Publikum stattfindet, dachte Roman. Eben war zwischen Bahnhof und Post noch tote Hose, jetzt standen mindestens ein Dutzend Leute je nach Schamgrenze unterschiedlich dicht ums Zollhaus und immer noch kamen Gäste. Bunte Mischung. Ein paar Pendler mit Aktentaschen, ein dicklicher schwarzgelockter Junge mit schwarz-rot geflammtem Hemd über der Jeans, Frau Nachbarin mit Dackel und diverse Motorboottouristen mit Klapprädern und bunten ballonseidenen Jogginganzügen. Die Bahnhofspunks waren mitsamt ihren schwarzen Hunden auch plötzlich aufgetaucht und hielten sich cool im Hintergrund beim Brunnen.

Man sollte ein Kassenhäuschen aufstellen, dachte Roman.

Der Motor des Löschfahrzeugs röhrte lauter, anscheinend war der Schlüssel aufgetaucht und das Löschen konnte losgehen. Berghaus, inzwischen mit Atemschutzmaske noch schlechter zu erkennen, verschwand durch die endlich offene grüne Stahltür im Zollhaus. Die Fenster im zweiten Stock wiesen nach Westen, doch jetzt leuchteten sie orangerot auf, als spiegelte sich die Morgensonne darin.

Roman winkte den uniformierten Kollegen heran, der rauchend an der geöffneten Autotür lehnte.

»Wir sind heute mal wieder interaktiv«, verkündete er. »Lass uns das Publikum ins Theater einbeziehen, ist schließlich ein Kulturzentrum, das hier brennt.«

Der Lange trat die Kippe aus, rückte die Mütze zurecht und steuerte die Gruppe auf dem Parkplatz an. Der Junge im Flammenhemd, der eben noch gebannt auf das brennende Haus gestarrt hatte, wich zurück, löste sich aus der Menge und schwang sich auf ein Fahrrad, das am Parkscheinautomaten lehnte.

Es dauerte die entscheidende Sekunde zu lange, bis Roman reagierte. »Hey! Mein Rad!« Er setzte zum Spurt an.

Der laute Ruf »Einen Arzt!« stoppte ihn, als wäre er gegen eine Wand gelaufen. Aus dem Augenwinkel sah er sein Fahrrad noch über den Bahnhofskreisel verschwinden, als er sich bereits umwandte und zurück über den Schotterplatz rannte.

»Wir brauchen sofort einen Arzt!« Ahrend Berghaus war in der Tür aufgetaucht. Seine Stimme klang verzerrt, was nicht nur an der Sprechmembran der Atemmaske lag. In seinen Armen hielt er ein Bündel. Fassungslos starrte Roman auf das rosige Gesicht und die schweißverklebten dunklen Haare des kleinen Jungen, den Berghaus jetzt behutsam auf eine Trage gleiten ließ.

Während die Sanitäter eine Decke über den leblosen Körper breiteten und eine Sauerstoffmaske auf Mund und Nase des Kindes drückten, überschlugen sich die Gedanken in Romans Kopf. Spielende Kinder hatten schon manchen Brand gelegt, das war nichts Ungewöhnliches. Wirklich ungewöhnlich war, dass der Junge einen weißen Schlafanzug mit braunen Teddybären trug.

*

»Stopp!« Berghaus packte Roman, der an ihm vorbei ins Haus stürmen wollte, am Arm. »Mit der Brandermittlung wartest du schön, bis wir hier fertig sind.«

»Aber verstehst du denn nicht?« Ärgerlich schüttelte Roman die Hand seines Freundes ab. »Der Kleine trägt einen Schlafanzug!«

In Berghaus’ Augen hinter dem Visier dämmerte Begreifen. So unbewohnt, wie sie geglaubt hatten, war das Zollhaus offenbar doch nicht.

»So gehst du da aber nicht rein.« Energisch drückte er Roman Sturm einen orangeroten Packen vor die Brust und widerwillig zog der die steife Schnittschutzhose und die hitzefeste Jacke über seine Cargoshorts und das T-Shirt. Der Helm war ein wenig zu groß, aber da konnte man jetzt nichts dran ändern. Berghaus half Roman, die Pressluftflasche auf den Rücken zu schnallen, und koppelte das Schlauchstück an die Maske. »Beeil dich aber. Wir haben nicht viel Zeit.«

»Wie lange reicht die Luft?«

»Eine halbe Stunde, aber das ist nicht das Problem. Der Bau …«

»Ja, ja, ist ja gut«, kappte Roman ungeduldig den Vortrag. »Los jetzt.«

Das Zollhaus war riesig. Siebzig Meter lang, fünfzehn breit, drei Stockwerke hoch. Wenn sie da drin Menschen finden wollten, kam es wirklich auf jede Minute an. Keine Zeit, umzukehren und die vergessenen Stiefel anzuziehen. Im Laufen zog Roman Sturm die Schutzhandschuhe an, dann folgte er Ahrend Berghaus durch die grüne Stahltür und stand unvermittelt in graugelbem Nebel. Das Treppenhaus am Nordende des Zollhauses war schon unter normalen Bedingungen düster, jetzt aber war die Finsternis nahezu undurchdringlich. Unwillkürlich hielt Sturm den Atem an, als sich im Schein seiner Taschenlampe fettige Rauchschwaden vor dem schlierigen Visier seines Helms ballten. Dann erinnerte er sich an die Pressluftflasche und atmete mühsam gegen den Widerstand des Ventils an.

Er versuchte, sich an seinen letzten Besuch im Zollhaus zu erinnern. Mindestens achthundert schwitzende Leiber. Dazu eine der bekanntesten Deutschrock-Bands, die aus Spaß bisweilen unter dem Pseudonym Nackt unter Kannibalen auftrat. Lange her. Wie viele Stufen waren es bis zum ersten Stock mit dem langgestreckten Saal? Er glaubte, sich an vierzehn zu erinnern, stolperte aber schon bei zwölf ins Leere.

Ahrend Berghaus war längst außer Sicht, hören konnte Roman nichts außer dem Zischen der Pressluft und dem Pochen des Pulsschlags in seinen Ohren. Sein nackter Fuß in der offenen Trekkingsandale stieß gegen etwas Weiches. Roman zuckte zusammen, der Schweiß explodierte schmerzhaft prickelnd aus allen Poren. Darf einem Kriminalkommissar der Angstschweiß ausbrechen? Wen schert das. Widerstrebend bückte er sich. Hund, Katze, Maus, Pferd? Erleichtert erkannte er einen kleinen Plüschbären. Er hob ihn auf und schob ihn in die Jackentasche.

Wo sollte er suchen? Wo würde er schlafen, wenn er ungestört im Zollhaus übernachten wollte? Im Untergeschoss eher nicht, dort waren außer der Theke und der Bühne nur die Garderoben des Backstage-Bereichs. Außerdem kamen Berghaus und die anderen dort vor Roman hin, denn dort hing auch der Löschschlauch.

Im ersten Stock waren am einen Ende das Café und am anderen die Druckwerkstatt der grafischen Gesellschaft untergebracht, die Halle dazwischen wurde für Kunstausstellungen genutzt. Rückzugsmöglichkeiten bot diese Etage nicht.

Die Schlussfolgerung gefiel Roman ganz und gar nicht. Er musste am brennenden Mittelgeschoss vorbei ganz nach oben. Nur dort unter dem Dach lagen kleinere Räume, die selten genutzt wurden, denn die aufwendige Sanierung des alten Kastens hatte noch nicht jeden Winkel erreicht.

Jemand rempelte Roman unsanft beiseite, zwei Schemen verschwanden im orangegrauen Schein, der aus dem Café drang, hinter ihm verschmolz der Wasserschlauch mit dem Dunkel des verqualmtem Treppenhauses.

Roman quälte sich weiter, Schweiß biss in seinen Augen und kitzelte unter den Achseln, das Atmen wurde immer schwieriger. Er zwang sich Stufe um Stufe nach oben, leuchtete mit der Taschenlampe jeden Schritt aus, war teils enttäuscht, teils erleichtert, dass er noch immer niemanden fand. Endlich hatte er das obere Ende der Treppe erreicht. Rechts von ihm war eine Tür. Toiletten. Kein Mensch darin. Der Rauch war hier oben so dicht, als sei zwischen den Partikeln kein Platz mehr für Sauerstoffmoleküle. Der Lichtstrahl der Taschenlampe zeichnete eine gelblichweiße Spur von nicht mehr als zwei Armlängen und wurde dann verschluckt. Roman erinnerte sich an Autofahrten zwischen ostfriesischen Dörfern in seinem alten Wagen ohne Nebelscheinwerfer. Das Fernlicht mauerte dann eine gelbe Wattewand vor die Scheibe und man hatte ohne die blendenden Lampen bessere Chancen, nicht in einem der schnurgeraden Kanäle links und rechts der Straße abzutauchen. Er knipste die Lampe aus, steckte sie ein und tastete sich weiter.

Ein Piepen im Helm lenkte Romans Aufmerksamkeit auf das Kästchen an seinem Gürtel, das den Luftvorrat überwachte. Wie viel Zeit blieb ihm, bis … was geschah? Kurz wünschte sich Roman, er hätte Ahrend Berghaus ausreden lassen. Aber letztlich spielte es keine Rolle. Wenn hier oben noch die Familie des kleinen Jungen war, den Berghaus im Treppenhaus aufgelesen hatte, musste Roman versuchen, sie zu finden. So einfach war das. Und so schwer.

Seine Schienbeine stießen unvermittelt an eine harte Kante. Rechts und links bot sich seinen tastenden Händen ebenfalls Widerstand. Ach ja, das Theater. Die Rückenlehnen der Besucherstühle stellten sich ihm in den Weg, schienen sich im Schutz der Nebelmasse hin und her zu schieben, um ein Vorbeikommen unmöglich zu machen. Blind tastete sich Roman an der Stuhlreihe entlang, bis er endlich freien Raum erreichte.

Wieder ein Hindernis, weich diesmal, nachgiebig. Roman zog einen Handschuh aus und ertastete Stoff, Stangen, die fedrige Weichheit einer Stola. Er stand im Fundus des Theaters, hier war Sackgasse. Roman unterdrückte einen Fluch und wandte sich um, zurück Richtung Zuschauerraum. Übermäßig ordentlich schien die Theatergruppe nicht zu sein, selbst auf dem Fußboden lagen Kleider und Perücken verstreut. Mit dem Fuß wollte Roman ein Kostüm beiseite schieben, doch das war überraschend schwer.

Erst als er sich niederkauerte und mit der bloßen Hand weiche Locken fühlte und glatte Haut, wurde ihm klar, dass hier keine Theaterrequisiten verstreut lagen. Vor ihm auf den staubigen Dielenbrettern lag ein Kind. Ein Mädchen mit langen Locken. Offenbar hatte er die Schwester des bewusstlosen Jungen gefunden. Sie regte sich nicht.

Romans Herz raste, das Pressluftzischen schnitt in seine Ohren. Als er den schlaffen Körper des Mädchens vom Boden aufhob, überflutete ihn die Erschöpfung in einer heißen Welle. Wie lange konnte er die ungewohnte Anstrengung durchstehen? Die Hitze, das mühsame Atmen durch die Maske, die steife Schutzkleidung. So musste sich ein Taucher fühlen, in einem verschlickten Hafenbecken oder einem Klärtank. Vielleicht auch ein Astronaut. Weltraumspaziergang auf einem Planeten mit vielfacher Erdmasse. Sonnenseite. Bescheuert, dass er jetzt an so etwas dachte.

Luft. Er brauchte endlich wieder Luft. Mühsam kämpfte Roman gegen den Zwang, sich den Helm vom Kopf zu reißen, die Maske vom Gesicht zu zerren, tief durchzuatmen. Seine Beine zitterten, das Vibrieren schien sich über seine Füße bis auf den hölzernen Dielenboden zu übertragen. Er ließ das Kind zurück auf den Boden gleiten.

Die Kleine brauchte Luft, dringender noch als er selbst. So schnell wie möglich raus mit ihr. Nein. Sauerstoff. Jetzt zerrte er sich die Maske doch vom Gesicht, keuchte und hustete, als der Rauch in seine Nase kroch, in seine Kehle biss wie ein hungriges Raubtier. Doch der Taucher, James Bond wahrscheinlich. Rettet das hilflose Opfer mit der Luft aus der eigenen Flasche, echt heldenhaft. Aber bei dieser Scheißmaske funktionierte das nicht, da musste man die Luft raussaugen, und das Mädchen atmete nicht oder nur schwach. Ehe ihm schwarz vor Augen wurde, drückte Sturm sich die Maske wieder selbst auf das schweißnasse Gesicht, atmete gierig ein. Er füllte so viel Sauerstoff in seine Lunge, wie er irgend konnte, dann hielt er die Luft an und beugte sich über das Kind. Er bog den Lockenkopf der Kleinen in den Nacken, um die Atemwege freizubekommen, legte seinen Zeigefinger von unten gegen ihre Unterlippe und presste seinen Mund fest über die kleine Kindernase. Seine Lungen fühlten sich an, als würden sie platzen und es war eine Erleichterung, die gestaute Luft endlich abzugeben. Bloß nicht zu viel Druck, dachte Roman, ihre Lunge ist ja viel kleiner als meine.

Der Brustkorb des Kindes hob sich leicht. Roman Sturm kämpfte gegen den Reflex, sofort wieder einzuatmen, und schob sich erst das Schlauchstück der Atemmaske wieder in den Mund. Noch mal das Ganze. Sein Herz klopfte, er war am ganzen Körper nass. So hatte das keinen Zweck, wenn sein Kreislauf schlappmachte, kamen weder das Kind noch er selbst hier lebendig heraus. Er setzte die Atemmaske wieder auf. Dann schob er den linken Arm unter die Schulter des leblosen Mädchens, den rechten in die Kniekehlen, und richtete sich taumelnd auf.

Das Kind in den Armen an sich gepresst, stolperte Roman aus dem Theaterraum zurück ins Treppenhaus. Betonstufen, eine nach der anderen. Die letzten Stufen fiel er fast hinab, als das Zittern seiner Knie das alte Zollhaus hinter ihm einstürzen ließ wie ein Kartenhaus.

Sturm im Zollhaus

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