Читать книгу Wenn Vampire Tango tanzen - Heike Möller - Страница 7
Kapitel 4: Der erste Schritt
ОглавлениеHanna stocherte lustlos in ihrem Salat herum. Das Brot, das zu dem Salat gereicht worden war, bildete schon längst einen ansehnlichen Haufen Krümel und die Spatzen, die in den umliegenden Hecken hockten, sahen begehrlich auf diesen Haufen. Sie warteten nur ab, bis Hanna aufstehen würde. Aber sie war zu sehr in ihren Gedanken vertieft, als das sie die Vögel bemerken würde. Die Tiere hätten neben ihr auf dem Tisch sitzen und ihr aus der Hand fressen können, sie hätte es nicht bemerkt.
„Meine Güte, Frau Martens!“ Gudrun Niemark, eine ältere Kollegin von Hanna, mit der sie gelegentlich ihre Mittagspause verbrachte, schüttelte den Kopf. „Sie waren gestern schon ein wenig neben sich, aber heute? Was ist denn nur los?“
Hanna merkte, dass sie hektische rote Flecken an den Schläfen hatte. „Ich bin nervös“, gestand sie der älteren Frau.
„Warum das denn?“
Hanna ließ die Gabel auf den Tisch sinken und griff nach ihrem Glas. Dabei bemerkte sie, dass das Brot in ihrer Hand verschwunden war und stattdessen einen Maulwurfshügel aus Krümeln auf dem Tisch bildete. Sie ließ das Glas los, schob die Krümel auf ihre Hand und warf sie in die Hecke. Ein vielfaches Piepen und Flattern erklang und Hanna schüttelte sich. Sie mochte Vögel nicht besonders. Sie ergriff ihr Glas und trank einen großen Schluck Wasser.
„Ich bin Trauzeugin bei meiner besten Freundin.“
„Das ist doch großartig, Kindchen!“ Gudrun beugte sich etwas über den Tisch. „Da haben Sie aber demnächst alle Hände voll zu tun, nicht wahr? Ihre Freundin hat Sie doch bestimmt in die eine oder andere Aufgabe eingespannt.“
„Helena hat tatsächlich eine ziemliche Liste an Aufgaben. Aber das ist schon in Ordnung. Sie leitet nach dem Tod ihres Onkels die Firma ganz allein. Und sie war monatelang krank gewesen. Außerdem ist sie wirklich meine allerbeste Freundin und Lyssas Patentante. Da helfe ich gern.“ Hanna pickte ein Salatblatt auf die Gabel und steckte es sich in den Mund. Langsam kaute sie es, hatte aber sichtlich keinen Appetit.
„Das ist es also nicht, was Sie so beunruhigt“, stellte Gudrun fest. Ihre ruhigen grauen Augen fixierten Hannas Gesicht und sie lächelte milde. Die graumelierten Haare waren akkurat frisiert und das Gesicht ungeschminkt.
Hanna druckste ein wenig herum. Sie schätzte ihre Kollegin, mochte sie sogar. Gudrun hatte zwanzig Jahre Berufserfahrung und in vielen Dingen des Lebens einfach die Ruhe weg. Mitunter, wenn Hanna nicht weiter wusste suchte sie Rat bei der Kollegin. Bei ihr fand sie immer ein offenes Ohr.
„Kennen Sie die Tradition, dass man mit den Trauzeugen den Tanz eröffnet?“
Gudrun lächelte versonnen. „Ja, die Variante gibt es. Das Brautpaar beginnt und die Trauzeugen fallen einige Minuten später mit ein. Dann wird der Partner getauscht. Und wenn die Braut ein Zeichen gibt, können alle Anwesenden ebenfalls tanzen.“
Hanna stopfte sich lustlos eine Gurkenscheibe in den Mund. Sie hatte gehofft, dass die erfahrene Frau das als Unfug abtun würde, aber die Hoffnung zerstob und flog in Bruchstücke davon. „Oh Mann“, murmelte Hanna.
„Warum fragen Sie?“
„Ich soll tanzen. Das Brautpaar wünscht sich einen Tango.“ Hanna nuschelte nur noch, aber Gudrun hatte es verstanden.
„Tango? Das ist allerdings ungewöhnlich. Können Sie denn Tango tanzen?“
Mit einem verzweifelten Blick sah Hanna in graue Augen. „Ich kann nicht mal irgendeinen Tanz. Selbst beim Ententanz komme ich aus dem Takt!“
Gudrun sah Hanna verblüfft an. „Oh je. Weiß das Ihre Freundin?“
„Natürlich. Sie hat meine kläglichen Versuche im Tanzunterricht hautnah miterlebt. Während sie so grazil wie eine Elfe dahin schwebt und jeden Standardtanz im Schlaf beherrscht, falle ich nach dem vierten Schritt spätestens aus dem Takt und trete um mich. Hoffnungslos!“
„Wann ist die Hochzeit?“
„In etwa neun Wochen. Der Trauzeuge des Bräutigams hat eine Tanzschule und hat sich bereit erklärt, mich für den Tag fit zu machen, wenn man so will. Er tut mir jetzt schon Leid.“
Gudrun wischte sich den Mund an der Serviette ab und legte sie auf den leeren Teller. „Da liegt der Fehler, Hanna.“
Hanna blickte erstaunt hoch. Gudrun nannte sie selten beim Vornamen. „Fehler?“
Die Frau nickte. „Sie verkrampfen schon von vornherein. Sie erwarten regelrecht, dass Sie scheitern. Lassen Sie los, denken Sie einfach nicht daran.“
Hanna wusste, dass Gudrun Niemark Recht hatte, aber das nutzte im Moment nichts. Sie hatte eine panische Angst.
„Wann ist denn die erste Tanzstunde?“
Hanna schluckte krampfhaft. „Heute Abend“, nuschelte sie.
„Großartig. Dann möchte ich morgen von Ihnen hören, dass Sie es genossen haben und das es Spaß macht.“
Hanna verzog das Gesicht zu einem gepeinigten Lächeln. „Oder ich erzähle Ihnen von meinem neuen Rekord, einen Tanzlehrer ins Krankenhaus zu bringen!“
Gudrun lachte. „Kennen Sie den Trauzeugen?“
Hanna nickte. „Flüchtig. Ich bin ihm am Sonntag das zweite Mal begegnet. Er wirkt ruhig und gelassen.“
Gudrun entging nicht das kurze Aufblitzen in den Augen von der jungen Frau. „Wie sieht er aus?“
Hanna zögerte. „Wie … ein Mann. Mittelgroß, dunkelblond, schlank.“
Gudrun kicherte. „Ist er hässlich?“
Verblüfft verzog Hanna erneut das Gesicht. „Nein! Ich meine, er ist ganz passabel. Aber das ist irrelevant.“
“So so! Ich möchte morgen einen vollständigen Bericht, Hanna.“ Gudrun trank ihr Wasser aus. In den grauen Augen lag ein belustigtes Glitzern.
Hanna seufzte ergeben und nickte.
>Was mache ich nur hier!<
Hanna stand auf der anderen Straßenseite und starrte auf die Fassade der Tanzschule. Es war ein schmucker Altbau aus dem frühen 20. Jahrhundert, die Fenstersimse jeder Etage hatten ihre eigene, individuelle Ornamentik. Hanna erkannte, dass das Flair des letzten Jahrhunderts erhalten geblieben war, jedoch eine Grundsanierung stattgefunden haben musste. Alle Fenster bestanden aus modernem Thermoglas mit entsprechendem Rahmen, aber die Kreuzoptik war geblieben. Das rote Dach war erst vor kurzem neu gedeckt worden und die Steigleitungen glänzten silbern. Die große und hohe Holztür war rotbraun lackiert und mit Milchglas eingelegt.
Hanna hörte verschiedene Musikrhythmen, die gelegentlich unterbrochen wurden. Ab und zu hörte sie auch ein gleichmäßiges Klatschen durch eines der geöffneten Fenster. Ein Mann zählte dabei: „Und eins, zwei, drei, vier!“ Die Stimme klang sehr weich und nasal.
Hanna pustete, straffte sich und ging über die Straße. Sie war mit der U-Bahn bis Hackescher Markt gefahren und dann die paar Straßen gelaufen. Es war jetzt kurz vor 20.00 Uhr und der Drang, einfach wegzurennen, wurde übermächtig.
>Verdammt! Sei nicht so feige, Johanna Martens! Du willst doch deinem Kind ein Vorbild sein, oder etwa nicht?<
„Und noch mal zwei, drei vier!“ Der Mann mit der nasalen Stimme trieb seine Tanzschüler mit Klatschen zusätzlich an.
Hanna schielte auf das große Schild über den Fenstern im Erdgeschoss.
`Kerners Tanzschule´ stand darauf. Auf einem länglichen Schild neben der Eingangstür standen in schwungvollen schwarzen Buchstaben die verschiedenen Tanzstile, die hier unterrichtet wurden. Von einigen hatte Hanna noch nie gehört.
>Geh rein, du Feigling!<, sagte sich Hanna, holte erneut tief Luft und öffnete die Haustür. Kurz blickte sie auf das Klingeltableau, nur um festzustellen, dass überall der Name Kerner stand. Offensichtlich gehörte Tobias das ganze Haus!
Der enge Hausflur bestand aus grauem und braunem Stein sowie Holz. Die Stufen der Altbautreppe waren aus Holz, mit Messingzierleisten beschlagen. Das dunkle Geländer hatte Vertikalstreben, die in sich gewunden waren. Auf der linken Seite befand sich eine hohe, dunkle Tür. Daran war ein Messingschild mit der Aufschrift `Saal 1´ zu lesen.
„Und von Anfang an. Eins, zwei, drei, vier!“
Die Stimme kam aus dem Raum hinter dieser Tür und Hanna wendete sich um, zu der Tür auf der anderen Seite.
„Empfang und Büro“, murmelte Hanna, als sie das Messingschild las. Sie räusperte sich, streckte ihren Rücken und öffnete die Tür.
Ein brusthoher Tresen aus Kirschholz stand ihr gegenüber. Dahinter saß eine junge, blonde Frau mit aufreizenden Sommersprossen und dick getuschten Wimpern. Der Mund leuchtete in einem knalligen Rot.
„Hallo!“, sagte Hanna und versuchte, ihrem Gegenüber ihre Unsicherheit nicht anmerken zu lassen.
„Hallo!“ Die Stimme der jungen Frau klang freundlich, aber auch ein wenig gelangweilt. „Was kann ich für Sie tun?“
>Tanzen. Du willst tanzen. Nein, ich muss tanzen. Lernen. Tobias.<
Hanna versuchte eine lässige Haltung einzunehmen. „Ich bin mit Tobias Kerner verabredet. Mein Name ist Hanna Martens.“
>Der geschäftstüchtige Apothekerton. Professionell und distanziert.<
„Ach ja! Tobi hat erzählt, das er jemanden erwartet.“ Die Frau änderte merkwürdigerweise ihre Tonlage. Sie klang nicht mehr so freundlich wie vorher, sondern abweisend. „Setzen Sie sich doch, er kommt bestimmt gleich.“
Damit kümmerte sich die Frau wieder um Papiere, die hinter dem Tresen für Hannas Blick verborgen waren.
Hanna wollte sich nicht setzen, legte aber ihre Sporttasche auf einem der Stühle ab. Betont gleichgültig sah sie sich um. An den Wänden hingen Urkunden von Tanzturnieren der letzten drei Jahre. Erste, zweite und dritte Plätze wurden in den verschiedenen Tanzstilen belegt. Bei Kinderkursen hingen auch Urkunden an den Wänden, bei denen auch der vierte oder sechste Platz gewürdigt wurde. Daneben hingen Zeitungsartikel, manche mit Fotos. Auf einem Foto war Tobias zu sehen. Er hatte den Kopf ein wenig weggedreht, als ob er nicht fotografiert werden wollte.
„Hallo, Hanna.“
Sie wirbelte erschrocken herum und musste ihren Kopf heben, um Tobias in die Augen sehen zu können. Er war gut zehn Zentimeter größer als sie, wenn nicht noch mehr. Er trug eine schwarze, locker sitzende Hose und ein schwarzes, kurzärmeliges Shirt, das die Muskeln seiner Oberarme gut zur Geltung brachte. Die Haare hatte er wieder zu einem Zopf gebunden.
„Hallo!“ Die Stimme war ihr wieder eine Oktave höher gerutscht.
Tobias verkniff sich ein breites Grinsen und lächelte nur freundlich. „Schön, dass du hergefunden hast.“ Tobias hatte von einem Fenster im ersten Stock Hanna beobachten können. Ihre Unsicherheit, ihr Zögern. Sanft war er in ihre Gedanken getaucht und hatte ihren Widerstreit gesehen. Ihn gefühlt. Umso mehr bewunderte Tobias Hannas Mut, letztendlich doch seine Tanzschule betreten zu haben. Er spürte, dass Hanna Komplexe wegen Gabi, seiner Empfangsdame und Sekretärin hatte.
>Dabei hast du es nicht nötig wegen irgendjemanden Komplexe zu haben, Mädchen! < Er dachte an den Augenblick, als er Hanna zum ersten Mal in der Disko gesehen hatte. Sie war ihm aufgefallen, weil sie eben nicht versuchte, mit knappen Outfits, hohen Schuhen und einem überschminkten Gesicht die Aufmerksamkeit an sich zu ziehen.
„Ich gehöre zu den Frauen, die einen Stadtplan und Straßenkarten lesen können.“
Tobias lachte leise. „Nie um eine Antwort verlegen, was?“
„Selten.“
Er nickte. „Dann zeige ich dir mal meine Tanzschule.“ Er schnappte sich Hannas Sporttasche und schulterte sie lässig.
„Das ist Gabi, meine Sekretärin und Empfangsdame.“
Hanna nickte der geschminkten Sommersprosse höflich zu. Gabi sah Hanna nur verächtlich an, quetschte aber noch mal ein `Hallo´ hervor.
„Hinter dem Tresen liegt das Büro. Sozusagen der Kopf meines kleinen Unternehmens. Terminplanungen, Buchhaltung und alles andere, was man eben so macht, finden in diesen Räumen statt.“
Tobias wies Hanna höflich den Weg durch die Tür, durch die sie den Raum betreten hatte. Sie traten wieder in den Hausflur und Tobias ging auf die andere Tür zu. Er tippte kurz mit dem Zeigefinger auf seine Lippen und öffnete leise die Tür. Hanna verstand und war ganz leise. Sie folgte Tobias durch die hohe Altbautür in die anderen Räumlichkeiten.
Sie betraten einen Flur, in dem an verschiedenen Haken Kleidungsstücke hingen und Schuhe auf dem Boden standen. Die Musik war jetzt etwas lauter und die nasale Stimme prallte fast ungefiltert an Hannas Ohren.
Tobias stellte Hannas Tasche ab und öffnete eine zweite Tür.
Der Tanzsaal war groß und sehr hoch.
Offensichtlich hatte man Wände in der Wohnung entfernt, umso aus drei Räumen einen großen Saal zu machen. Der Boden bestand aus dunklem Parkett. Die gegenüberliegende Wand war von oben bis unten und von links nach rechts mit Spiegeln verkleidet. Die linke Fensterfront führte auf die Straße, die rechte auf den Innenhof. Hanna erkannte durch die geschlossenen Fenster, dass der Hof sehr gepflegt wirkte. Gern hätte sie einen näheren Blick darauf geworfen, aber Tobias nahm ihre Hand in seine und zog sie leicht zur Seite.
Der Tanzlehrer, ein schmalhüftiger, Sonnenbank gebräunter und gestylter Mann, der irgendwie untergewichtig wirkte, entdeckte Tobias und sah ihn fragend an. Tobias schüttelte nur lächelnd den Kopf und forderte den Mann mit einer Handbewegung auf, weiter zu machen.
„Und noch Mal von vorn, meine Damen!“
Hanna musste sich ein Auflachen verkneifen. Der Tanzlehrer stolzierte wie ein Pfau die Reihen der Frauen entlang, mit denen er gerade eine Choreografie einstudierte. Die Frauen, ungefähr ein Dutzend, waren zwischen 16 und 24 Jahre alt und schon total verschwitzt. Trotzdem bezogen sie tapfer erneut Stellung und begannen, sich nach dem rhythmischen Klatschen ihres Lehrers zu bewegen. Dabei bewegten sich nicht nur ihre Füße und Beine, sondern auch Hände, Arme und der Oberkörper wurde passend zum Takt geschwungen.
Hanna verging der Anflug des Lachanfalls, als sie sah, mit welcher Eleganz und Geschmeidigkeit die Frauen sich bewegten. In absoluter Synchronität bewegten die Frauen sich zueinander, trotzdem fand der Tanzlehrer bei fast jeder seiner Schülerinnen noch etwas, was zu verbessern war.
„Agnes, achte auf deinen Ausdruck. Maria, mehr Hüfte! Katja, du sollst deine Füße etwas mehr heben.“
„Wow“, wisperte Hanna und hatte höllischen Respekt, sowohl vor dem Tanzlehrer als auch vor den Mädchen.
„Die Gruppe hat am Samstag einen Auftritt bei einem lokalen Wettkampf“, flüsterte Tobias dicht an Hannas Ohr. „Siehst du das Mädchen hier vorn rechts? Die in dem roten T-Shirt?“
Hanna nickte stumm.
„Lea ist erst vor fünf Monaten in die Gruppe gekommen, hat vorher Standardtänze gelernt und etwas Ballett. Heute ist sie eine der Besten. Sie trainiert fleißig und hat einen gesunden Ehrgeiz.“
Hanna nickte wieder und betrachtete das Mädchen. Es war 16, vielleicht 17 Jahre alt und etwas kräftiger in den Hüften als die anderen. Aber sie bewegte sich mit einer Eleganz und Leichtigkeit, die einen schlicht umhaute. Das Gesicht war vor Anstrengung rot, aber die Augen leuchteten vor Freude.
Tobias zog Hanna mit sich und sie verließen den Saal. Im kleinen Flur nahm er wieder Hannas Tasche und sie betraten den Hausflur.
„Pierre ist ein begnadeter Tänzer. Hätte er nicht vor drei Jahren einen Autounfall gehabt, bei dem sein linkes Knie stark in Mitleidenschaft gezogen worden war, würde er heute an internationalen Wettkämpfen teilnehmen und ganz vorn mitmischen. Verfluchtes Schicksal.“
Ein unangenehmer Schauer lief über Hannas Rücken. „Und jetzt ist er Tanzlehrer, arbeitet für dich.“
Tobias nickte. „Ich konnte ihn überzeugen, dass er sein Talent nicht einfach wegwerfen soll. Schließlich kann man sich auch als Trainer in der Branche einen Namen machen. Pierre ist erst 26 Jahre alt und hat schon für einige Künstler Choreografien ausgearbeitet und mit ihnen einstudiert. National und International. Ich denke, in spätestens vier Jahren ruft New York. Als Choreograf am Broadway zu landen wäre so was wie ein Ritterschlag.“
Hanna riss die Augen auf. „Da wünsche ich ihm wirklich von Herzen das Beste und viel Glück. Und du würdest ihn einfach so gehen lassen?“
Tobias ging die Stufen zum ersten Stock hinauf. „Na klar! Wäre doch auch ´ne gute Reklame für meine Tanzschule. `Ehemaliger Tanzlehrer von Kerners Tanzschule jetzt Choreograf am Broadway´.“ Tobias führte seine rechte Hand in der Luft, als ob er eine Schlagzeile vor sich hätte. „Klingt doch toll, nicht wahr?“
Hanna hatte langsam das Gefühl, dass sie sich komplett in Tobias Kerner getäuscht hatte. >Er wirkt überhaupt nicht oberflächlich. Tief in ihm steckt ein netter Mann. Mensch, Hanna, nicht Mann! <
Tobias musste grinsen, als er Hannas Gedanke auffing. Sie konnte es nicht sehen, da er mit dem Rücken zu ihr lief.
In der ersten Etage befanden sich wieder zwei Wohnungen. Auf der Tür zu den Räumen, die genau über dem Saal 1 lagen, stand `Saal 2´, dem Gegenüber lagen Räumlichkeiten, die mit `Umkleideräume und Duschen gekennzeichnet war.
Aus dem Saal 2 klangen sanfte Klänge eines klassischen Walzers.
„Wir fangen heute mit etwas leichtem an. Deshalb brauchst du dich nicht umzuziehen. Aber fürs nächste Mal: du gehst einfach hier rein, suchst dir ein freies Schließfach und ziehst dich um. Duschen sind für Männer und Frauen getrennt. Die der Frauen ist größer, weil wir erfahrungsgemäß mehr Frauen haben als Männer.“
Hanna schluckte. „Fürs nächste Mal. Okay.“ Ihre Stimme zitterte etwas und sie räusperte sich.
Tobias führte Hanna in die zweite Etage. Auch hier waren wieder zwei Wohnungstüren. Auf der linken Seite stand `Saal 3´ und auf der rechten Seite `Fundus und Lagerräume´.
„Fundus?“, fragte Hanna.
„Kostüme und Accessoires für Auftritte. Ich habe auch einen Schuhmacher, der in den Wochen vor wichtigen Auftritten die Schuhe der Tänzer überholt, gegebenenfalls neue anfertigt.“
Erstaunt sah Hanna Tobias an. “Einen richtigen Schuster? Ich meine, jemanden, der sein Handwerk noch so richtig versteht?”
Tobias blickte über die Schulter und lächelte Hanna sanft an. „Allerdings. Der Mann hat Zauberhände.“
>Und ist ein Vampir!<
Er öffnete die Tür zu Saal 3. Auch hier befand sich ein kleiner Korridor mit Kleiderhaken. „Da wären wir. Zieh einfach deine Schuhe aus. Die erste Stunde werden wir barfuß absolvieren.“
Hanna zog eine Augenbraue hoch. „Damit ich dir mit einem Absatz keinen Fuß brechen kann, stimmt´s?“
Einen Moment blickte Tobi sie irritiert an, dann erinnerte er sich an die Geschichte mit dem Tanzlehrer. Leise lachte er und schüttelte den Kopf.
„Nein, Hanna. Ich möchte dir nur ein Gefühl für Musik und Rhythmus vermitteln. Und das geht barfuß am besten.“
Hanna wurde rot. „Ach so. Na gut.“ Sie löste die Sandalen von ihren Füßen und stellte sie beiseite. Es war heute ziemlich warm gewesen, weshalb sie keine Strümpfe angezogen hatte, als sie nach der Arbeit kurz nach Hause gegangen war, sich frisch gemacht und ihre Tasche geschnappt hatte.
Tobias stellte die Tasche ab. „Brauchst du noch etwas aus der Tasche?“
„Nur mein Handtuch, wenn ich schwitze, meine Wasserflasche und ein Paket Taschentücher.“
„Hast du Schnupfen?“
„Nein. Ich möchte nur gewappnet sein, wenn ich losheulen muss.“ Sie hockte sich hin und kramte die genannten Sachen heraus. Als sie aufstand, sah sie in ein völlig verblüfftes Gesicht. „Was?“
Tobias schüttelte sich, als ob er aus einer Trance erwachen würde. „So jemanden wie dir bin ich noch nie begegnet, Hanna“, gestand er.
„Ist das gut oder schlecht?“
„Verwirrend.“ Er drehte sich um, schlüpfte aus seinen Schuhen und öffnete die innere Tür, die zu dem Tanzsaal führte.