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Kapitel 1: Ein ganz normaler Anfang

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Sondra genoss die Ruhe, die sie umgab.

Endlich!

Nichts hasste sie mehr als falsche Bekundungen des Beileids und des Mitgefühls, aber genau das hatte sie die letzten drei Stunden über sich ergehen lassen müssen.

Sondras Vater Thorben Wieland war gestorben, plötzlich und unerwartet. Ein Herzinfarkt, haben die Ärzte gesagt.

Sondra musste lächeln. >Fachidioten!<, dachte sie.

Sie hatte die Leiche gefunden und sie würde nie mehr diesen Ausdruck des Erstaunens gepaart mit der Erkenntnis, dass es nun zu Ende sei auf dem Gesicht ihres Vaters vergessen.

Seine Fingernägel der rechten Hand waren blutig, weil er seinem einzigen Kind noch eine Botschaft hinterlassen hatte, eingekratzt im Parkett seines Arbeitszimmers. Bevor Sondra einen Arzt gerufen hatte, musste sie noch einige Spuren verschwinden lassen.

Zu viele Fragen, auf die sie zwar die Antworten wusste, die ihr aber die Klapsmühle eingebracht hätten.

Über die eigentliche Botschaft zog sie eine kleine Teppichbrücke, die dicht bei der Leiche lag. Mit der Hand ihres Vaters verursachte sie direkt daneben neue Kratzspuren, so, als ob er in einem Krampfanfall unkontrolliert ins Parkett gekrallt hätte. Dann schloss sie die Augen ihres Vaters, während sie bitterlich weinte.

Ja, sie hatte ihren Vater geliebt.

Und sie hielt zu ihm, während alle anderen aus der Familie, Brüder und Schwestern, Nichten und Neffen und sogar Thorbens eigener Vater ihn zumindest für einen Sonderling, wenn nicht sogar für komplett verrückt und unzurechnungsfähig hielten.

Aber Sondra wusste, dass ihr Vater weder verrückt noch sonderbar oder krank gewesen war.

Sie schüttelte kurz die Erinnerung an die Ereignisse der letzten Woche aus dem Kopf, holte tief Luft und ging in das Arbeitszimmer ihres Vaters, dass nach der obligatorischen polizeilichen Ermittlung bei einem häuslichen Todesfall bis heute Morgen versiegelt worden war.

Da der Gerichtsmediziner nur einen natürlichen Tod feststellen konnte und die Leute von der Spurensicherung keinerlei Einbruchs- oder Kampfspuren sicherstellen konnten, wurde der Tod von Thorben Wieland als alltäglich eingestuft und die Familie konnte nun wieder ihren normalen Tätigkeiten nachgehen.

„Normal, dass ich nicht lache!“, murmelte Sondra.

Sie holte noch mal tief Luft und drückte dann die Türklinke zum Arbeitszimmer hinunter.

Es war dunkel und es roch muffig.

Sondra holte tief Luft, hielt den Atem an und rannte zum Fenster. Mit einem Ruck zog sie die schweren Samtvorhänge auseinander, sodass der Staub nur so aufwirbelte. Hastig öffnete sie die alten Flügelfenster und stieß die Holzjalousien auf. Sie machte ein paar tiefe Atemzüge, auch um sich erstmal wieder zu beruhigen, bevor sie sich umdrehte.

Unweigerlich kam ihr der süße, schreckliche Duft des Todes wieder in die Nase und sie schaffte es gerade noch, sich aus dem Fenster zu lehnen, bevor sie sich in die Rabatte übergab.

„Mann, Mädchen! Hab dich doch nicht so!“, schimpfte sie mit sich selbst. „Wende an, was du mal gelernt hast über Selbstbeherrschung in Extremsituationen, und alles ist halb so schlimm.“

Sondra wusste, dass es jetzt kein Zurück mehr gab. Auf diesen Moment war sie von ihrem Vater seit ihrer Geburt trainiert und instruiert worden. Gut, vielleicht nicht auf die Art dieses Momentes, aber sie wusste, dass der Zeitpunkt gekommen war. Noch einmal holte sie tief Luft und drehte sich dann um.

Da, neben dem Lieblingssessel ihres Vaters, ein Ungetüm aus dem frühen 20. Jahrhundert mit Ohren, fast mannshoher Lehne und ohne Beine, dort waren noch die Flecke von ihres Vaters letzter Entleerung zu sehen, bevor er starb. Sie wusste, dass der Geruch von diesen Flecken stammte. Aber egal, Sondra musste sich jetzt zusammenreißen.

Sie ging zu der Stelle, wo sie die kleine Teppichbrücke rüber gezogen hatte und schlug sie beiseite.

Es war nur sehr schwer zu erkennen. Vorsichtig pustete Sondra Staub und andere Partikel weg, aber auch das brachte nicht viel. Das Holz war viel zu dunkel und die Kratzer waren nicht so tief, dass man sie ohne weiteres entziffern konnte.

Sondra grinste, das erste Mal an diesem Tag. Sie stand auf und ging ins Bad. Dort holte sie ihren Kosmetikpinsel. Aus der Küche holte sie sich Mehl und aus der Abstellkammer einen alten Farbpinsel. Damit bewaffnet ging sie wieder ins Arbeitszimmer.

Mit dem Farbpinsel fegte sie vorsichtig die restlichen Partikel weg, die sie mit ihrem Pusten nicht wegbekommen hatte. Dann streute Sondra etwa eine Handvoll Mehl auf die Kratzspuren. Vorsichtig verteilte sie es mit ihrem Kosmetikpinsel, um danach die Überreste wieder weg zu pusten.

„Tja, Papa, du wärst stolz auf mich.“

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Mehr war nicht zu entziffern. Das letzte konnte Sondra auch nur erraten, aber sie erkannte die Botschaft als ganzes

„Okay, alter Mann.“ Sie wischte sich mit der Hand über ihr Gesicht und merkte gleich, dass das eine verdammt blöde Idee war. Sie bekam Mehl in ihre Augen.

Fluchend ging sie wieder ins Bad und wusch sich Hände und Gesicht gründlich ab. Als sie fertig war betrachtete sie ihr Spiegelbild.

Feurige wilde Locken umrahmten ein schmales, eher blasses Gesicht mit einer schmalen Nase und vollen Lippen. Ihre Augen lagen ein bisschen zu weit auseinander und waren leicht schräg. Die Farbe ihrer Augen war ein zartes Grün, so wie das erste Gras im Frühling.

Sondra strich sich eine widerspenstige Strähne aus ihrem Gesicht, dadurch wurde kurz ihr Ohr sichtbar. Es sah eigentlich wie ein normales Ohr aus, aber oben war es leicht spitz zulaufend.

Sie hatte die breite, schwarze Ledermanschette, die sie immer um ihr linkes Handgelenk trug, abgelegt, um sich waschen zu können. Nachdenklich schaute sie auf die Tätowierung, die sie seit zehn Jahren hatte. Eine stilisierte Sonne, die von zwei schmalen Händen gehalten wurde. Der Gewohnheit folgend band sie sich die Manschette wieder um.

„Dann will ich erstmal aufräumen, bevor meine bucklige Verwandtschaft auf die Idee kommt, mich zu besuchen.“

Sondra zog ihre Trauerkleidung aus und schlüpfte in T-Shirt und Jogginghose. Dann schnappte sie sich einen Eimer mit heißem Wasser und Putzzeug und ging wieder ins Arbeitszimmer.

Der penetrante Geruch hatte sich schon etwas verflüchtigt, da die frische Luft des Spätsommers wie ein Deodorant wirkte. Für Anfang September war es ungewöhnlich kalt. Schnell beseitigte sie die Spuren vom Mehl und legte wider die kleine Teppichbrücke über die Stelle. Dann schrubbte Sondra die Leichen flecke mit Tafelessig aus dem Parkett, so gut sie konnte.

Eine Stunde später machte Sondra es sich mit dem Abendessen und einem Glas Weißwein im Wohnzimmer vor dem Kamin gemütlich. Nachdenklich blickte sie in das Feuer. Sie musste ihre nächsten Schritte jetzt sorgfältig planen, sonst würde der Rest der Familie sie entmündigen lassen, wenn sie auch nur einen Hauch dessen mitbekommen würden, was sie vor hatte.

Wie eine Bestätigung ihrer Gedanken klingelte es an der Haustür.

Sondra sah auf die Uhr. Es war 19.23 Uhr.

„Können die nicht bis morgen zur Testamentseröffnung warten? Warum muss die Bagage mich unbedingt jetzt belästigen.“

Seufzend stand sie auf und ging zur Haustür.

„Wer ist da?“ fragte sie, obwohl sie die Antwort in etwa kannte.

„Ach Liebes, mach doch die Tür auf. Du solltest in deiner Trauer nicht alleine sein“, säuselte eine ältere weibliche Stimme in vermeintlicher Fürsorge. „Ich bin es doch, Gisela. Und Paul und der Gregor sind auch da.“

„Oh Mann“, murmelte Sondra, atmete erneut tief durch und öffnete die Tür. Allerdings nur so weit, dass sie zwar durchsehen, die Außenstehenden aber nicht hineingehen konnten.

„Hallo, Tante Gisela.“

„Ach, Kind, sei doch nicht so förmlich. Lass dich drücken.“ Gisela Baier ging einen halben Schritt auf Sondra zu mit übertrieben weit geöffneten Armen. Als sie Sondras unbewegtes Gesicht sah, stockte sie. „Willst du uns nicht hineinbitten?“

„Nein.“

Giselas grell geschminktes Gesicht mit dem neonfarbenen Lippenstift zuckte einen kurzen Moment. Dann schüttelte sie ihre blondierte Mähne, bei dem schon der Gelbstich des Alters durchkam. Gisela Baier war 58 Jahre alt, sah aber aus wie eine auf jung getrimmte 70 jährige Frau, die alles im Leben probiert hatte, was ihr in die Finger kam, von Alkohol über andere Drogen bis hin zu diversen Männern.

Paul Baier, Giselas ältester Sohn, hatte sich in einer Bank eine Führungsposition erarbeitet. Er war ein gradliniger, strebsamer Mann ohne eigene Familie, da `Mutti´ die passende Frau für ihn noch nicht gefunden hatte. Ein ewiger Ja-Sager ohne eigene Meinung. Gregor Baier, der jüngste Sohn von Gisela, war da ganz anders. Er sah gut aus und wusste das, aber innerlich war er leer und kalt.

„Aber Sondra, was hast du nur? Wir wollen doch nur Trost spenden.“ Gisela drückte sich sogar eine Träne heraus.

„Gisela, ich möchte bitte einfach nur allein sein. Wir sehen uns ja morgen. Du und die anderen werden bei Kolbrink gegen 10 Uhr aufschlagen, nicht wahr?“

„Aber du brauchst doch jetzt deine Familie um dich herum“, sagte Paul.

Sondra sah ihn verwirrt an. Er redete selten unaufgefordert. Aber das was er sagte, war garantiert einstudiert.

„Paul, mach dich nicht lächerlich.“ Sondra hatte genug. Alles Aufgestaute der letzten Zeit wollte raus. „Glaubst du ehrlich, dass ich jetzt, nach dem Tod meines Vaters noch irgendetwas mit euch zu tun haben will? Eure geheuchelte Trauer und Anteilnahme könnt ihr wieder mitnehmen. Verlasst bitte mein Grundstück.“

„Dein Grundstück? Das Testament wird morgen verlesen. Dann werden wir ja sehen, wem das alles gehört. Und das ganze Geld.“

Gisela Baier verwandelte sich in Bruchteilen von Sekunden in eine keifende, spuckende Furie. Die blauroten Äderchen pulsierten unter den Schichten von Make-up.

„Ich werde nicht mit dir oder deinen Söhnen diskutieren. Das wird morgen der Anwalt und Notar erledigen. Ich wünsche euch eine gute Heimfahrt.“

Sondra wollte die Haustür schließen, aber Gregor stellte seinen Fuß dazwischen. Sein sonst so hübsches Gesicht war eine wutverzerrte Maske.

„Du kannst uns nicht einfach so abwimmeln. Du bist genauso verrückt wie dein Vater. Du gehörst auch in die Klapse.“

„Und du in den Knast! Oder wie wird Fahrerflucht unter Alkoholeinfluss bestraft?“

Gregor Baier wurde leichenblass. Er keuchte. „Woher weißt du das?“

Sondra lächelte kalt. „Wenn ich dir das sage, habe ich doch nichts mehr gegen dich in der Hand! Lass mich in Ruhe und ich lasse dich in Ruhe! Und jetzt nimm deinen Fuß aus der Tür, bevor ich ihn zertrümmere.“

Fünf Minuten später hatte Sondra es sich wieder auf ihrer Couch gemütlich gemacht und einen Schluck von ihrem Wein getrunken, als es wieder an der Haustür klingelte.

„Das darf doch nicht wahr sein!“ Sondra war jetzt wirklich sauer und brüllte diesen Satz hinaus. Wütend ging sie zur Haustür und riss sie auf.

„Sagt mal, habt ihr das immer noch nicht begriffen, ihr sollt verschw…!“

Sie unterbrach sich selbst, denn vor ihr stand kein Verwandter, sondern ein ihr völlig fremder Mann. Sondra war selten sprachlos oder verlegen, aber dieser Typ verwirrte sie.

Mitte bis Ende zwanzig, etwa 1,85 groß und schlank. Kurzes hellblondes Haar und dunkelbraune Augen. Jeans, Pullover, hellbraune Lederjacke und weiße Sportschuhe. Sondra hatte es sich zur Angewohnheit gemacht, die Menschen, mit denen sie es zu tun hatte in Bruchteilen von Sekunden zu visualisieren.

Er grinste leicht. „Ich bin keiner Ihrer gierigen Verwandten, Frau Wieland.“

„Das sehe ich jetzt auch.“

Einen Moment sahen sie sich wortlos an.

„Sie sind mir gegenüber im Vorteil“, sagte Sondra trocken.

„Wie bitte?“ fragte der Mann mit leicht verwirrtem Blick.

„Na ja, Sie wissen, wer ich bin. Aber Sie haben sich mir noch nicht vorgestellt.“

„Oh, entschuldigen Sie bitte. Mein Name ist Andreas Laurenz und ich bin Kriminalkommissar bei der Kripo Flensburg.“ Mit diesen Worten zückte der Mann seinen Dienstausweis und reichte ihn Sondra.

Sie sah sich den Ausweis an. „Welcher Bereich bei der Kripo?“ fragte sie.

„Kapitalverbrechen.“

„Beinhaltet das nicht auch Körperverletzung und Mord oder so?“

„Sie sind gut informiert, Frau Wieland.“

„Habe ich irgendjemanden tätlich angegriffen oder warum sind sie hier?“

Inspektor Laurenz kratzte sich am Hals. „Ich bin hier, weil die Autopsie an ihrem Vater einige Ungereimtheiten aufwiesen.“

Sondra zog überrascht die Augenbrauen hoch. „Sie machen mich neugierig. Bitte, kommen Sie doch herein.“

Kommissar Laurenz betrat das Haus, das an ein englisches Cottage erinnerte. Allerdings nur von außen. Innen verströmte es die Gemütlichkeit Norddeutschlands. Warme Holztöne der Dielen und Treppen, geweißte Wände und teilweise altes, antikes Mobiliar.

Sie führte ihn ins Wohnzimmer. „Kann ich Ihnen irgendetwas zu trinken anbieten?“

Das Wohnzimmer war relativ modern eingerichtet, mit Rattanmöbeln und Anrichten im Landhausstil. Eine Vitrine enthielt die Preise, die Thorben Wieland für seine Bücher erhalten hatte, ebenso einige gerahmte Zeitungsartikel.

An den Wänden hingen einige größere gerahmte Zeitungsartikel und Fotos, die Thorben mit seiner Tochter in verschiedenen Altersstufen zeigte. Es gab auch einige Fotos, die Sondra alleine zeigten, zum Beispiel bei der Einschulung.

Sondra musste lächeln, als sie Kommissar Laurenz Begutachtung der Bilder bemerkte.

„Hätten Sie vielleicht einen Tee für mich? Ich habe die ganze Zeit draußen gestanden und ich bin ein wenig durchgefroren.“

Jetzt war Andreas Laurenz verwirrt. Er hatte gedacht, dass die junge Frau auf Grund seiner Bemerkung sofort Fragen stellen oder hysterisch reagieren würde. Aber sie lächelte ihn nur süffisant an und sagte „Aha!“ Dann drehte sie sich um und ging in die Küche.

Kommissar Laurenz folgte ihr. Sondra startete den Wasserkocher.

„Beutel oder richtiger Tee?“

„Welche Sorten haben Sie denn?“

„Früchte, Kamille, Pfefferminz, Schwarz pur, Earl Gray, Grünen Tee mit und ohne Geschmack und ein paar Designer-Tees.“

„Earl Gray, bitte.“

Sie holte eine größere Kanne aus dem Schrank und das Teesieb. Dann schüttete sie nach Augenmaß die gewünschte Teesorte in das Sieb und goss das noch nicht ganz kochende Wasser hinein. Sondra wählte zwei Tassen aus Friesengeschirr aus.

„Milch oder Zitrone?“ fragte sie.

„Nein danke, nur etwas Zucker.“ Kommissar Laurenz war völlig fasziniert von der Gelassenheit der Frau, die heute erst ihren Vater beerdigt hatte. Er wurde nicht schlau aus ihr. Andreas sah sich in der Küche um. Die Arbeitsplatte war fast quadratisch in der Mitte angebracht, darunter viele Schränke und Schubladen, die die Accessoires einer gut ausgestatteten Küche enthielten.

Der Backofen war in Brusthöhe, der Herd mit Ceranfeldern und Gasanschluss stand ein wenig in den Raum, so dass die Dunstabzugshaube keine Gefahr für Beulen am Kopf beim Kochen bedeutete. Alles wirkte modern und edel, aber nicht kitschig und überladen.

„Eine stilsichere Einrichtung. War das Ihre Idee oder die Ihres Vaters?“

Sondra sah kurz in das Gesicht des Polizisten. „Wir hatten beide vor, aus diesem Landhaus etwas zu machen. Jeder hat ein paar Ideen eingebracht, wir haben sie besprochen und dem Innenarchitekten vorgeschlagen. Der hatte dann noch ein paar Ideen und voilà´, das kam dabei raus.“

Im Wohnzimmer genoss der junge Kommissar die wärmende Wirkung des Tees.

„Sie haben mich und das Haus also den ganzen Tag beobachte. Waren Sie auch auf dem Friedhof?“

>Mann, ist die clever<, dachte Andreas. „Ja“, antwortete er wahrheitsgemäß. Er spürte, dass er bei seinem Gegenüber mit offenen Karten spielen musste, nur so hatte er eine Chance, diese Person ein wenig zu öffnen.

„Ich habe selten bei einer Beerdigung so viele falsche Tränen gesehen. Außerdem - ohne Ihrer Familie Nahe treten zu wollen, - einige könnten durchaus Vertreter im Gruselkabinett werden.“

Sondra musste leicht grinsen. „Da haben Sie Recht. Was Empfindlichkeiten gegenüber meiner Familie anbelangt, da gibt es keine. Wenn man alle mit Haie vergleichen würde, täte man den Tieren Unrecht, denn diese sind in der Natur durchaus nützlich. Jetzt erzählen Sie mir bitte von den Ungereimtheiten, Herr Kriminalkommissar Laurenz.“

„Wie alt war Ihr Vater?“

Sondra überlegte kurz. „Sechsundfünfzig, warum?“

„Der Gerichtsmediziner hat das physiologische Alter Ihres Vaters auf etwa fünfundsiebzig geschätzt, wie erklären Sie sich das?“

„Ups! Wie wär’s mit: Sie haben ja vorhin einen Teil meiner ach so ehrbaren Familie kennen gelernt. Da wird man schnell ganz alt.“

Innerlich musste Kommissar Laurenz schmunzeln. Mit einer schlagfertigen Antwort hatte er gerechnet. „Außerdem wurden alte verheilte Wunden festgestellt: Messer- oder Schwertstiche sowie Verletzungen durch Pfeile. Und ein paar Knochenbrüche. Ich nehme mal nicht an, dass Ihre Familie Ihren Vater als Zielscheibe für Bogenschießen benutzt hatte.“

Sondra bemerkte sehr wohl den leichten Sarkasmus in der Stimme ihres Gegenüber. „Mein Vater war sehr oft im Ausland; Irland, Mittelmeerraum, Papua-Neuguinea und Südamerika. Möglicherweise hat er sich da die eine oder andere Verletzung zugezogen. Er war hart im Nehmen. Über ein paar Verletzungen weiß ich Bescheid, aber alles hat er mir auch nicht erzählt.“

Andreas kräuselte die Lippen. „Gibt es ein Testament?“

Sondra kräuselte ebenfalls die Lippen. „Natürlich. Und ich erbe fast alles. Der Rest der Familie kommt mit einem Taschengeld davon.“

Andreas war erstaunt, dass Sondra ihm so freimütig davon erzählte.

„Hören Sie, Kommissar. Ich habe meinen Vater wirklich geliebt. Er gab mir alles, was ich brauchte und mehr. An meinem einundzwanzigsten Geburtstag hatte ich Zugriff auf einen Fond in Höhe von einer Million Euro plus Zinsen, die sich angehäuft hatten, seitdem mein Vater dieses Geld an meinem fünften Geburtstag angelegt hatte. Ich hatte es also wirklich nicht nötig oder eilig, an das Vermögen meines Vaters ran zukommen. Ich studiere Archäologie, keltische Geschichte und alte Sprachen und fahre einen alten VW-Käfer. Meine Strafzettel habe ich bisher reumütig und pünktlich bezahlt und ich bin ansonsten noch nie straffällig geworden. Meine einzigen Laster sind jede Art von Büchern und das Sammeln von Dingen, die eventuell alt sein könnten. Aber auf legale Art und Weise. Mein Vater hatte mir durchaus den Wert von allem, was mich umgibt, dargelegt, und ich meine nicht nur den materiellen Wert.“

Sondra hatte ihre lässige Haltung während ihrer Rede nicht aufgegeben, aber ihre Stimme wurde ein wenig fester.

„Aha“, sagte Kommissar Laurenz leise. „Und der Rest Ihrer Familie?“

„Die haben keine Ahnung, nicht mal im Ansatz, wie reich mein Vater war.“

„Wodurch ist er so reich geworden? Ich meine, Bücher schreiben allein macht doch niemanden in Deutschland dermaßen reich, oder?“

Sondra musste schmunzeln. „Das und das geschickte Anlegen des Geldes. Aber jetzt beantworten Sie mir bitte eine Frage.“

Andreas nickte, während er den letzten Schluck aus seiner Tasse trank.

„Da die Leiche meines Vaters freigegeben wurde und ich im Vorfeld nicht über irgendwelche Untersuchungen informiert worden bin: wieso sind Sie hier?“

„Neugierde“, antwortete Andreas Laurenz ehrlich und blickte Sondra direkt in die grünen Augen. „Dieses Merkwürdigkeiten im Autopsiebericht, die Lebensgeschichte Ihres Vaters und nicht zuletzt seine Bücher haben mich einfach interessiert.“

„Sie haben seine Bücher gelesen?“ Jetzt war Sondra wirklich erstaunt. Sie hätte nicht gedacht, dass ein junger, aufstrebender Polizist eine Fantasy-Leseratte war. Sie musste lächeln. „Ich kann Sie mir nur schwer mit einem Buch über Elfen vorstellen.“

Andreas konnte es nicht verhindern, dass er ein wenig rot im Gesicht wurde. „Halten Sie mich jetzt bitte nicht für ein Stalker, Groupie oder sonst was. Der Tod Ihres Vaters ist vielleicht natürlich, aber sein Leben schien ein einziges Geheimnis.“

Sondra goss ihrem Gegenüber noch mal Tee ein und lehnte sich zurück.

„Was haben Sie mit dem Mehl im Arbeitszimmer Ihres Vaters gemacht?“

Sondra zuckte kurz zusammen. „Ich habe mich schon gefragt, wann Sie endlich zu diesem Punkt gelangen.“

Die beiden taxierten sich einen Moment, jeder versuchte den anderen einzuschätzen.

>Gar nicht mal so übel<, dachte Sondra. >Der Typ sieht nicht nur gut aus, er ist auch noch clever. Aber ein Bulle stellt zu viele Fragen. Nachher findet er noch Dinge heraus, die ihn nichts angehen. Nein, Mädchen, sei bloß vorsichtig!<

Sondra holte tief Luft. „Mein Vater hat, wie sie ja aus dem Autopsiebericht wissen, im Todeskrampf mit seiner Hand was auf dem Parkett im Arbeitszimmer gekratzt. Ich dachte, er wollte mir eine Nachricht hinterlassen und wendete ein Trick an, um verborgenes sichtbar zu machen. Ich hätte auch einen Bogen Pergament und etwas Kohle nehmen können, aber letzteres habe ich zurzeit nicht im Haus.“

Andreas Laurenz hatte einen trockenen Mund, obwohl seine zweite Tasse fast leer war. Als er Sondra Wieland am Vormittag das erste Mal sah, auf dem Friedhof, wirkte sie zuerst zerbrechlich. Doch als er sah, dass Sie nach der Trauerfeier ging, ohne dem Rest der Familie und vor allem nicht dem Patriarch auch noch eines einzigen Wortes zu würdigen, wusste er, dass dieses Frau mit beiden Beinen fest im Leben stand. Dann die Szene an der Haustür mit ihrer Tante und den Cousins, das war unglaublich!

Und nun der klare, analytische Verstand, gepaart mit einem Aussehen, das – gelinde gesagt – reizvoll war.

Andreas musste sich räuspern. „Und, hat er Ihnen eine Nachricht hinterlassen?“ Ihm war bewusst, dass er Sondra mehrere Sekunden angestarrt hatte und es war ihm peinlich.

„Ja.“

„Wirklich? Ehrlich gesagt, hätte ich gedacht, dass Sie das verneinen würden.“

Sondra lächelte. „Ich würde doch nie die Polizei anlügen.“

Wieder dieser leichte Sarkasmus.

„Sagen Sie mir, was er geschrieben hat?“

„Nein.“

„Warum nicht?“

„Weil es sehr privat war und im Endeffekt nichts mit seinem Tod zu tun hatte. Sein Tod war natürlich und ich wünschte, dass er noch hier wäre.“

Sondra merkte, wie sich ein Kloß in ihrer Kehle manifestierte. Sie räusperte sich.

„Bitte, gehen Sie jetzt, Herr Kommissar. Ich bin wirklich müde und möchte gern allein sein. Ich habe morgen einen harten Tag mit meinen `lieben Verwandten´ bei der Testamentseröffnung und brauche dazu noch ein wenig Kraft.“

Andreas merkte, dass Sondra gerade einen Tiefpunkt bekam und jede weitere Frage keine Antwort sondern nur Verärgerung hervorrief. „Ja, natürlich.“

Er stand auf und nahm die Tasse mit in die Küche. Das leise Lachen hinter ihm irritierte ihn.

Sondras Lächeln erreichte fast ihre Augen. „Ich erlebe selten Männer, die ihr Geschirr wegräumen“, sagte sie erklärend.

„Ich habe keine Putzfrau“, antwortete er. „Könnte ich kurz Ihre Toilette benutzen?“

Sondra wies ihm den Weg und ging ins Wohnzimmer. Sie nahm eine Visitenkarte aus ihrem Terminkalender und ging in den Flur zurück.

„Falls Sie noch Fragen haben, können Sie mich gerne demnächst anrufen, Herr Kommissar Laurenz.“

Er nahm die Karte entgegen und zögerte einen Moment. „Brauchen Sie morgen vielleicht seelische Unterstützung, wenn Sie auf Ihre Familie treffen?“

Sondra war sich nicht sicher, aber irgendwie hatte sie gehofft, dass er eine Frage in diese Richtung stellen würde. „Ja.“

„Wann und wo?“

Sondra nannte ihm die Adresse und die Uhrzeit. „Ich kann Sie ja als meinen Bodyguard vorstellen.“

Jetzt musste Andreas grinsen. „Gibt es Menschen, die glauben, dass Sie einen nötig hätten?“

Sondra lächelte zurück. „Gute Nacht, Herr Kommissar.“

Weltenwanderer-Chroniken I

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