Читать книгу Weltenwanderer-Chroniken I - Heike Möller - Страница 8
Kapitel 4: Fiktion und Realität
ОглавлениеDie Sonne stand schon tief, aber Sondra wollte jede Minute Tageslicht ausnutzen.
Sanft legte sie den Pfeil in den Bogen und während sie ihn auf Augenhöhe hob, spannte sie die Sehne. Kurz hielt sie den Atem an und schoss. Das Geschoss traf den inneren Ring der Zielscheibe in fünfzehn Meter Entfernung.
„Verdammt“, zischte sie. Es war wie verhext. Sie konnte das Goldene heute einfach nicht treffen.
Zwei Wochen waren seit dem Überfall Gregors vergangen. Ihr Haus war wieder aufgeräumt, Gregor saß noch in Untersuchungshaft und der Patriarch und Gisela Baier machten Sondra täglich das Leben zur Hölle. Die meisten blauen Flecke verblassten längst. Aber dort, wo Gregor sie mit dem Handrücken im Gesicht getroffen hatte, schillerten alle Farben des Regenbogens. Wenn Sondra aus Versehen die Stelle anfasste, zog immer noch ein leichter, aber aushaltbarer Schmerz durch ihren Körper.
Sondra Wieland versuchte sich erneut zu konzentrieren und holte tief Luft, um sich zu beruhigen. Als diesmal der Pfeil die Sehne verließ, traf sie am Rand des Goldenen.
„Gar nicht mal schlecht“, sagte eine Stimme hinter ihr.
Erschrocken drehte Sondra sich um, den Bogen wie eine Schlagwaffe haltend. Andreas Laurenz blieb in einiger Entfernung stehen und hob leicht die Hände.
„Mann!“ Sondras Herz raste und sie atmete wieder. Sie funkelte Andreas böse an, während sie den Bogen sinken ließ.
„Entschuldigung. Ich wollte Sie nicht erschrecken.“ Er lächelte und hatte ein schlechtes Gewissen. „Ich habe geklingelt. Als Sie nicht öffneten, bin ich halt hinten lang.“
„Ich wollte noch die Lichtverhältnisse ausnutzen.“ Sie registrierte, dass Andreas eine gefütterte hellbraune Lederjacke anhatte, die ihm sehr gut stand. Die Haare waren frisch geschnitten und modisch gestuft. Als er lief, humpelte er leicht mit dem linken Bein.
„Was ist mit Ihrem Bein?“, fragte Sondra.
„Ich bin mal als Kind vom Pferd gefallen. Blöd aufgekommen. Seitdem habe ich, wenn sich das Wetter ändert, Probleme mit meinem Knie.“
Andreas stand jetzt dicht vor Sondra und betrachtete ihre rechte Wange.
„Auch ´ne Wettervorhersagemöglichkeit.“
Andreas war mit seinen Gedanken schon wieder weiter gewandert. „Hm?“
„Das Knie!“
Er lächelte verlegen. „Ja. Richtig.“
„Sie können also reiten. Können Sie auch hiermit umgehen?“
Sondra hielt ihm den Kurzbogen, den sie immer noch in der Hand hielt, entgegen. Andreas Laurenz nahm den Bogen und prüfte die Spannung.
„Ein wenig zu weich für mich. Die Sehne ist auch nicht mehr die Beste.“
Sondra dachte zuerst, Andreas wollte sie wieder mal auf dem Arm nehmen.
„Ist schon ein paar Monate her, dass ich auf dem Übungsplatz war.“
Er nahm einen Pfeil aus dem Köcher, der neben ihm auf einem Gartentisch lag. Dann stellte er sich leicht schräg und hob den Bogen. Als er die Sehne spannte merkte er, dass der Bogen einen leichten Drall nach rechts hatte. Instinktiv zielte er gegensätzlich und schoss.
Der Pfeil traf genau die Mitte des Goldenen.
Scharf zog Sondra die Luft zwischen ihre Zähne ein.
>Wer ist er?<, fragte sie sich.
Andreas legte den Kurzbogen auf den Tisch. Der Langbogen aus Eibenholz war auf Sondras Größe ausgelegt. Trotzdem nahm Andreas ihn auf und prüfte auch ihn. Für einen kurzen Moment vergaß er, wo er war.
„Wo waren Sie die vergangenen zwei Wochen?“
Sondra biss sich sofort auf die Lippen. Eigentlich hatte sie das nicht fragen wollen. Nachher dachte Andreas noch, dass sie ihn vermisst hätte.
Hatte sie ja auch!
Ärgerlich runzelte sie die Stirn.
Er lächelte, zeigte dabei seine Zähne. „Haben Sie mich etwa vermisst?“, fragte er und sah sie ein wenig seitlich an, während er einen neuen Pfeil nahm und in den Langbogen legte.
>Da! Wieder das sanfte Schimmern auf der Haut! Ich bilde mir das doch nicht ein!<
„Ihre Fragen haben mir gefehlt.“
Sondra versuchte sich aus dieser Situation zu manövrieren, aber sie merkte, dass sie darin nicht sehr geübt war.
Fast zärtlich berührten seine Lippen die Sehne, als den Bogen spannte. Diesmal traf er nur den Rand des Goldenen.
„Ich hatte viel zu tun. Musste ein paar Dinge klären und habe Recherchen gemacht.“
„Über mich etwa?“
Sie hatte mit einer scherzhaften Antwort gerechnet. Andreas blickte ruhig in Sondras Augen. „Ja.“
Sondra wusste, dass der Moment gekommen war, wo sie auf alle seine Fragen antworten würde müssen.
„Okay“, sagte sie leise. „Kommen Sie, drinnen kann man besser reden.“
Nachdem Sondra sämtliche Bögen und Pfeile in der trockenen Kammer verstaut hatte, die im Flur unterhalb der Treppe lag, ging sie in die Küche. Sie musste daran denken, dass sie vor fast drei Wochen schon einmal Tee für sich selbst und Andreas zubereitet hatte.
Sie spürte, dass er hinter ihr stand.
„Ich bin nicht Ihr Feind, Sondra. Das ich hier bin, ist rein Privat und hat nichts mit dem Tod ihres Vaters oder mit Gregors Überfall auf Sie zu tun.“
Sondra drehte sich um und sah in braune Augen. Auf seinen Schläfen bildeten sich plötzlich kleine rote Flecken und Sondra bemerkte, dass seine Atmung flacher ging.
Mit einem scharfen Einatmer nahm Andreas wieder Abstand zu Sondra. Er räusperte sich.
>Verdammt, benimm dich nicht wie ein Teenager im Liebesrausch<, schallt er sich selber.
„Ich gebe ja zu, dass der Tod Ihres Vaters mein Interesse neu geweckt hat, wie eine Art Auslöser fungiert hat. Aber all die Fragen, die mich schon seit beinahe zwanzig Jahren beschäftigen, haben mich letztendlich hierher geführt, Sondra.“
„Neu geweckt?“, fragte sie. Irgendwie hatte Sondra Probleme, Andreas richtig zu folgen.
Andreas schnappte ein paar Mal, als ob er sprechen wollte, den Satzanfang verwarf und neu anfing.
„Ich war zehn, als ich Ihren Vater bei einer Signierstunde begegnete. Ein Jahr zuvor habe ich das erste Mal ein Buch von Thorben Wieland gelesen. Die Art und Weise, wie er die Reise des Weltenwanderers beschrieb, seine Abenteuer und das alles fesselten mich.“
Andreas Laurenz zog seine Jacke aus und warf sie über einen Küchenstuhl. Er wirkte nervös, kämpfte um die richtigen Worte.
„Ihr Vater hatte eine frische Narbe auf der linken Wange. Sah aus wie ein Schnitt. Ein Jahr später kam dann wieder ein Roman raus, indem sein Protagonist bei einem Kampf einen Messerschnitt ins Gesicht bekam. Lange Zeit dachte ich, das Thorben Wieland wirklich ein Weltenwanderer ist und seine eigene Geschichte aufschrieb. Doch dann wurde ich älter und verwarf meine Fantasien.“
Sondra reichte ihm eine Tasse Tee. Andreas verbrannte sich fast die Zunge, aber er war so aufgeregt wie seit langem nicht mehr.
„Haben Sie aus Bewunderung für meinen Vater reiten und Bogenschießen gelernt?“
„Reiten konnte ich schon, als ich drei Jahre alt war. Ich bin auf einem Gestüt aufgewachsen. Als ich sechs Jahre alt war, fing ich mit Judo, etwas später dann mit Karate an. Mit zehn quengelte ich meine Eltern voll, dass ich Bogenschießen lernen wollte. Daran war Ihr Vater nicht ganz unschuldig.“
Andreas stellte die Tasse leise auf den Holztisch ab. Mit geschlossenen Augen atmete er kurz aus und schluckte. Dann zwang er sich, Sondra in die Augen zu sehen.
„Ich weiß, dass ich mich jetzt wie ein Groupie anhöre, aber ich muss es wissen. Ist Vilgard Realität?“
Sondra sah in zwei braune Augen, die verunsichert in ihre grünen blickten.
>Irgendwann musst du mal jemanden dein Vertrauen schenken<, hatte Holger Kolbrink ihr vor wenigen Tagen gesagt.
>Eines Tages bin ich nicht mehr da. Wer soll dann eine Geschichte mit Reisen oder ähnlichem in Umlauf bringen. Du solltest jemanden suchen, dem du dein Geheimnis anvertrauen kannst. Und wenn ich mich nicht sehr täusche, hast du bereits jemanden gefunden.<
Konnte sie Andreas Laurenz wirklich ihr Vertrauen schenken? Sie kannte ihn doch erst seit ein paar Tagen.
„Vilgard ist Realität“, sagte sie schließlich.
Andreas sackte ein wenig in sich zusammen und hielt sich am Holztisch fest. Als er seine Frage gestellt hatte, leuchtete ihre Haut regelrecht kurz auf. Jetzt pulsierte ein schwacher, immer schwächer werdender Schimmer.
„Dann sind Sie Keelas Tochter?“
Noch nie war Sondra auf ihre Mutter angesprochen worden. In der Schule fragten damals einige Mitschüler nach ihrer Mutter, doch als Sondra ihnen erzählte, dass die Mutter gestorben sei, als sie noch ein Baby war, wurde nicht weiter nachgefragt.
Sie nickte. Sondra bemerkte, dass Andreas leicht zitterte.
„Jetzt ahne ich auch, warum sie nicht zu einem Arzt oder ins Krankenhaus gegangen sind. Sie wären wahrscheinlich wie ein Alien behandelt worden.“
„Kommen Sie“, forderte sie ihn auf und streckte ihm ihre Hand entgegen.
Zögernd ergriff Andreas die Hand und wurde von Sondra zu einem Regal an der Küchenwand geführt. Darin standen einige Gewürz- und Kräutergläser. Am Rand waren vier alte Metallhaken angebracht, woran Topflappen und Küchenhandtücher hingen. Sondra griff nach einem Haken und drehte ihn ein wenig zu sich.
Hinter der Wand ertönte ein leicht knirschendes Geräusch und es gab ein leises metallischen „Pling“. Das Regal sprang ein paar Millimeter weit auf. Sondra zog an dem Regal, es schwang wie eine Tür zur Seite und gab den Weg frei in einen Keller. Sie schaltete das Licht an und führte Andreas die schmale und eng stufige Treppe hinunter. Am Fuß der Treppe befand sich ein großer, fast rechteckiger Raum mit mehr als einem Dutzend Weinregale. Einige dieser Weine, so bemerkte Andreas beim Vorbeigehen, waren fast 100 Jahre alt, die meisten aber unter fünfzig.
„Ich dachte immer, dass Häuser in Norddeutschland keine Kellergewölbe dieser Art hätten“, sagte er erstaunt.
„Die wenigsten haben einen Keller. Das liegt am sandigen Untergrund. Das Haus hier ist von meinem Ururgroßvater auf Fels erbaut worden. Er hat den Keller in den Fels treiben lassen.“
An der Rückwand des Kellers war eine fast zwei Meter große Weinfassatrappe. Sondra blieb davor stehen und drehte sich zu Andreas um. Sie sah ihm fest in die Augen.
„Sie wissen, dass ich Ihnen gerade großes Vertrauen entgegenbringe!“
Andreas sah in zwei grüne, ihn forschend ansehende Augen.
„Seit fast 20 Jahren träume ich von diesem Augenblick. Ich sagte mir immer wieder, dass meine Fantasie mit mir durchgeht. Nichts und Niemand kann mich dazu bringen, Ihr Geheimnis preiszugeben.“
Sein Händedruck war warm und fest und Sondra glaubte ihm.
„Außerdem, wer würde mir schon glauben?“, schloss er.
Sondra lächelte und löste ihre Hand aus seiner. Dann ergriff sie zwei Paneele des Weinfasses in Brusthöhe und zog daran. Wie ein Fächer schoben sich daraufhin sämtliche Verstrebungen ineinander zusammen und gaben den Blick frei auf eine grob behauene Felswand. Noch innerhalb des Weinfassringes auf der rechten Seite befand sich ein Metallring. Sondra zog leicht an ihm und drehte ihn etwas nach links. Wieder ertönte ein Knirschen, diesmal aber nicht von einem „Pling“ oder ähnlichem gefolgt. Sondra zog erneut kraftvoll an dem Ring und die Tür öffnete sich scheinbar federleicht.
Andreas bemerkte die eigentümliche Konstruktion, die es ermöglichte, dass Tonnen schweren Gesteins so leicht aufgingen wie eine Tür aus Holz. Ehe er fragen konnte, wer sich das ausgedacht hatte und wann hatte Sondra einen weiteren Lichtschalter betätigt.
Andreas blinzelte, weil seine Augen sich erst an das Licht gewöhnen mussten. Sondra war in den Raum hinter der Tür eingetreten und bedeutete Andreas mit einem Kopfnicken, es auch zu tun.
Als Andreas den Raum aus massivem Felsen betrat, hatte er das Gefühl, das alle seine Fragen nun beantwortet worden waren.
Gleichzeitig wurden neue aufgeworfen.
In diesem Raum befand sich ein Torbogen, gute drei Meter fünfzig hoch am höchsten Scheitelpunkt und über zwei Meter breit. Das dunkle Holz war mit Schnitzereien übersät.
Menschen, Elfen Trolle, verschiedene Tiere und Pflanzen. Es gab Dörfer und Städte, hohe Türme, trutzige Burgen und wehrhafte Mauern. In einigen Schnitzereien waren Intarsien aus Gold, Silber und Edelsteinen eingearbeitet.
Andreas hörte sich selbst geräuschvoll ausatmen. Er drehte sich zu Sondra um, die lächelnd an der Felswand neben der Tür lehnte.
Als Andreas sich wieder dem Torbogen zu wandte, fiel ihm ein Zentaur auf, der eine Ebene entlang galoppierte. Auf der anderen Seite des Tores jagten ein paar Menschen Wildschweine in einem Waldstück.
Die Motive bewegten sich!
Jetzt erst merkte Andreas, dass der Bogen ein Summen von sich gab.
Vorsichtig strich er mit seinen Fingerspitzen über das Holz.
Es war warm und vibrierte.
Der Torbogen lebte!
Keuchend trat Andreas ein paar Schritte zurück.
„Vor drei Tagen war das Tor aktiv. Ich wollte hindurchgehen, aber durch die Sache mit Gregor hat sich das Ganze jetzt verschoben.“
„Wie kommt das hierher? Wer hat es hergebracht? Warum…?“
„Schon gut, ich erzähle Ihnen ja alles, was ich selber weiß“, lachte Sondra. “Das ist eine lange Geschichte. Haben Sie Zeit, wollen wir es uns oben gemütlich machen?“
Andreas wollte diesen wundervollen Ort nicht verlassen, aber sein Verstand sagte ihm, dass er hier unten keine Antworten finden würde.
Oben im Wohnzimmer gab Sondra Andreas ein Glas mit Grappa und setzte sich ihm gegenüber auf ihren Lieblingssessel. Andreas schluckte den Grappa mit einem Zug. Seine Lippen bekamen fast augenblicklich wieder Farbe und das Zittern seiner Hände ließ nach.
„Wie ich schon sagte, mein Ururgroßvater hat dieses Haus gebaut“, begann Sondra zu erzählen.
„Während der Arbeiten an dem Keller stießen die Maurer auf eine Höhle im Fels. Mein Ururgroßvater war Hobbygeologe und erkannte sofort, dass die Höhle keinen natürlichen Ursprung hatte. Sofort ließ er die Arbeiten einstellen und stellte Nachforschungen an. Aber nirgendwo, in keinem Archiv Schleswig-Holsteins, keiner Pfarrei oder Bibliothek ließ sich ein Hinweis auf diese Höhle finden. Also erweiterte er selbst den Eingang zu der Höhle und entdeckte den Torbogen. Bis heute gibt es keinen Hinweis darauf, wo der Bogen herkam und wer ihn dorthin gebracht hatte, aber er war da.“
Andreas hatte seine Schuhe ausgezogen und es sich auf der Couch gemütlich gemacht. Er wirkte fast wie ein kleiner Junge, dem man eine Geschichte vorlas.
Nur das diese Geschichte wahr war!
„Ihre Familie hat diesen Torbogen schon seit Generationen?“
„Ja. Mein Ururgroßvater fand sogar heraus, wann er sich aktivierte, wie oft und wie der Rhythmus ablief, wenn man ihn durchschreitet. Er war mal einen ganzen Monat wie von der Bildfläche verschwunden.
Thadeus entwickelte auch diesen Türmechanismus. Er war nämlich Ingenieur und hatte fähige und verschwiegene Leute an der Hand. Den Weinkeller baute er zur Tarnung weiter aus und das Regal in der Küche stammt auch aus seiner kreativen Feder.
Thadeus Wieland hatte einen Sohn, der in das Geheimnis eingeweiht wurde, als dieser 17 Jahre alt war. Gunter war dreimal in Vilgard, bevor er eine eigene Familie gründete und beschloss, dieses Geheimnis nicht leichtfertig zu vererben. Er bekam drei Kinder: Thure, Hagen und Freya. Lachen Sie nicht, meine Familie hatte nun mal einen Nordsagen-Tick!“
„Es tut mir leid, aber diese Namen sind heute ja nicht gerade weit verbreitet“, lachte Andreas.
Er beobachtete Sondra, als sie aufstand und aus dem Sideboard ein altes Fotoalbum hervorholte. Sie setzte sich neben Andreas auf die Couch und schlug es auf.
Das erste Foto war sehr alt. Es zeigte einen Mann in der Mode des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Steif saß er auf einem Stuhl und stützte seinen Arm auf einen Gehstock ab. Neben ihm stand eine jüngere Ausgabe des Mannes auf dem Stuhl, genauso gekleidet und steif. Die eine Hand hatte er auf die Schulter des älteren, die andere Hand hielt eine Taschenuhrkette.
„Das sind Thadeus und Gunter Wieland. Für die damalige Zeit waren diese beiden schon sehr weltoffen und tolerant.“
„Wer sind diese Leute?“
Andreas tippte auf das zweite Foto.
„Das ist Gunter mit seiner Frau und zwei der drei Kinder. Thure und Freya.“
Auf diesem Foto war Gunter fast nicht wieder zu erkennen. Er wirkte gelöster und nicht so aristokratisch. Die Kinder spielten in der Mode des frühen 20. Jahrhunderts mit Ball und Reifen mit Stock. Es wirkte fast wie in einer Studie aus Zilles Werken, nur nicht mit den typischen Berliner Hinterhofmotiven.
„Wo ist das dritte Kind?“
Sondra drehte die Seiten um und ein neues Familienfoto war zu sehen. Das Foto musste aus den frühen Zwanzigern des 20.Jahrhundert stammen. Gunter Wieland saß in einem Korbstuhl mit Lehne, dahinter standen von links nach rechts drei Kinder: Thure, Hagen und Freya.
„Mein Gott, Hagen ist Ihr Großvater!“, entfuhr es Andreas, als er die kalten Augen des mittleren Kindes ansah.
„Wie schon die alten Lateiner sagten: Nomen est Omen!“
Sondra strich fast zärtlich über das Fotogesicht von Freya.
„Sie erbte das Geheimnis des Torbogens und das Haus, nachdem Thure verstorben war. Hagen hingegen erbte das Familienunternehmen und das meiste Vermögen.“
„Wie ist Thure denn gestorben?“
Sondra klappte das Album zu und lehnte sich auf der Couch ein wenig zurück, schlug die Beine unter.
„Gunter und Thure waren in Vilgard. Als sie zurückkamen, war Thure schwer verletzt.
Er starb noch in der gleichen Nacht. Hagen war nicht zu Hause. Er lebte schon seit einiger Zeit in einem Internat und hatte nur den nötigsten Kontakt mit seinem Vater. Für ihn war es unerträglich, dass er nur als Zweitgeborener am Haupterbe nicht beteiligt werden sollte.
Freya hingegen kümmerte sich um alles und jeden, seitdem Gunters Frau in einem harten Winter an Tuberkulose gestorben war. Sie war da, als Gunter mit Thure zurückkam. Thure starb in Freyas Armen und Gunter konnte nun nicht mehr umhin, seiner Tochter das Geheimnis des Hauses zu offenbaren.“
„War Freya jemals in Vilgard?“
„Ja, ein Jahr nach Thures Tod. Freya hatte in diesem Jahr reiten und fechten gelernt und war gut vorbereitet. Hagen hatte als Haupterbe kein Interesse an den Flausen seines Vaters und seiner Schwester und kümmerte sich lieber um das Geschäft. Als Gunter starb und Hagen tatsächlich alles außer dem Haus erbte, dachte Hagen, er wäre am Ziel. Er heiratete eine Frau aus reichem Haus und bekam die Kinder, die Sie ja kennen: Roland, Gisela, Thorben und Wolfgang. Großtante Freya hatte nie geheiratet und keine Kinder gehabt. Sie erkannte Hagen als den hartherzigen Mistkerl, der seine eigene Familie die Hölle auf Erden bereitete. Freya und mein Vater hatten immer einen Draht zueinander. Thorben war für Freya der Sohn, den sie nie hatte. Und Tante Freya war für meinen Vater die gesamte restliche Familie.“
Andreas nickte. „Ich kann mir schon denken, warum.“
„Jedenfalls weihte Freya meinen Vater in das Geheimnis des Hauses ein, als er alt genug war und vertuschte die ersten zwei Reisen von ihm gegenüber Hagen. Mein Vater und Holger Kolbrink hatten sich im Internat kennen gelernt. Mein Vater sagte mal, dass das Internat und Tante Freya sein einziges Zuhause waren. Bei der dritten Reise ging etwas schief und Hagen erfuhr davon. Aber Hagen dachte, dass seine verrückte Schwester seinen Sohn fehlgeleitet hätte und steckte meinen Vater in die Irrenanstalt. Holger Kolbrink studierte Jura und sein Vater war ein angesehener Richter. Holger setzte alles in Bewegung, um meinen Vater aus der Anstalt rauszubekommen. Mit Hilfe seines Vaters gelang es auch. Mein Vater hat Holger Kolbrink dann auch in das Geheimnis eingeweiht und auf eine Reise mitgenommen.
Als Freya starb, erbte mein Vater das Haus sehr zum Ärger von Hagen und dem Rest der Familie. Der Rest dürfte Ihnen bekannt sein.“
Andreas nickte. „Einfach unglaublich“, sagte er leise. Sondra hatte den Kopf auf die Couchlehne gelegt und die Augen geschlossen. Das Fotoalbum lag längst auf dem Tisch. Vorsichtig nahm Andreas ihre rechte Hand in seine, fuhr sanft mit seinen Fingern an ihren Puls entlang. Ihre Haut begann wieder zu schimmern. Es war nicht sehr hell, aber intensiv.
Spürbar!
„Sie wollen mitkommen, nicht wahr?“
Grüne Augen blickten prüfend in braune. Andreas wusste, das Sondra eine Frau war, die er nicht anlügen konnte. Er nickte lächelnd.
„Sie müssen aber Ihrer Dienststelle und Ihrer Familie eine glaubwürdige Geschichte liefern. Holger kann Ihnen bei einem Alibi helfen.“
„Ich habe noch Urlaub aus dem letzten Jahr übrig und in diesem Jahr noch gar keinen gemacht. Ich denke mal, dass das das kleinste Problem ist. Ich kann meiner Familie ja sagen, dass ich mit Ihnen verreise nach wohin-auch-immer und vorbereitete Briefe über Kolbrink verschicken, die meine Eltern ein wenig beruhigt.“
Sondra grinste breit. „Sie sagen Ihrer Mutter, dass Sie mit einer wildfremden Frau ins Ausland auf Abenteuerurlaub gehen? Wird Ihre Mutter denn glauben, das ihr solider Sohn so etwas macht?“
Andreas grinste zurück. „So solide bin ich gar nicht.“
Und um seine Worte zu beweisen zog er Sondra an sich und küsste sie.