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Kapitel 1: Familienbande

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Andreas Laurenz sah seine Freundin schmunzelnd an. Zum dritten Mal versuchte Sondra Wieland ihre widerspenstige rote Lockenhaarpracht in eine anständige Frisur zu verwandeln. Jedes Mal scheiterte dieser Versuch an einer einzigen Strähne, die ihr frech aus dem hochgesteckten Haar sprang und dann vor ihrem linken Auge hing. Und bei jedem dieser Versuche wurde sie noch ungeduldiger.

„Ich schneide mir diese Dinger ab! Gleich Montag gehe ich zum Frisör und lasse mir eine flotte Kurzhaarfrisur schneiden. Es reicht!“

Sondras grasgrüne, etwas weit auseinander stehende Augen blitzten wütend auf.

„Ach Süße“, seufzte Andreas und trat hinter sie. Schweigend nahm er eine kleine Haarklemme, drehte die widerspenstige Locke hoch, klemmte sie geschickt und unauffällig fest und griff zu Sondras Haarspray.

„Wie machst du das immer nur?“, fragte Sondra bestürzt, als sie feststellte, dass seine Aktion tatsächlich gelungen war. Andreas grinste breit, zeigte zwei Finger hoch.

„Zwei Schwestern!“, sagten beide gleichzeitig, wobei Sondras Stimme wahrlich erge­ben klang.

Liebevoll nahm Andreas Sondra in seine Arme und fuhr mit leicht geöffneten Lippen an ihren schlanken Hals entlang. Als er an ihrem Ohrläppchen angekommen war, vernahm er ein leises Stöhnen. Süffisant grinsend sah er sie an.

„Andi, du weißt genau, was du damit bei mir erreichst“, kiekste sie und ihre Haut schimmerte in bedenklichem Ausmaß.

Seine braunen Augen bohrten sich in ihre grünen. „Wenn das so ist, hör ich lieber damit auf!“

„Nö-hö!“

Andreas lachte, als Sondra ihre Unterlippe nach vorn schob und wie ein Teenager versuchte zu schmollen. „Du weißt, dass das bei mir nicht zieht, mein Herz!“

„Du heizt mich erst an und dann ziehst du den Stecker? Das ist wirklich unfair!“, maulte Sondra.

Andreas schob Sondra grinsend aus dem Bad und die Treppe hinunter. In der Diele des Cottage stand eine Reisetasche, die mit dem nötigsten für eine Übernachtung ge­packt war. Seufzend zog Sondra ihre braunen Lederstiefel an, die perfekt zu dem wadenlangen, weit schwingenden braunen Rock passten. Andreas verzichtete diesmal auf seine heißgeliebten Turnschuhe und zog braune Halbschuhe an. Dann half er seiner Freundin in den Trenchcoat, bevor er seine Lederjacke anzog.

„Wir können ja heute Nacht in meinem Zimmer weiter machen“, sagte er und lächelte vielsagend.

„Im Haus deiner Eltern?“, fragte Sondra entgeistert. „Das ist selbst mir peinlich und das weißt du auch.“

Andreas kicherte. „Lass uns losfahren, ich möchte im Gestüt sein, bevor es dunkel wird.“

Sie ließen Sondras Oldtimer, einen VW-Käfer aus den 1970er Jahren in der Garage stehen. Andreas hatte sich vor einem Jahr von seinem alten Golf getrennt und zusam­men hatten sie sich einen Tuareg gekauft. Er war groß, solide und bequem.

„Werden deine Schwestern auch da sein?“ Sondra hatte ihren Trenchcoat ausgezogen und auf die Rückbank geworfen. Während sie auf der Autobahn Richtung Sankt Peter-Ording fuhren, ließ sie sich von der Sonne des letzten Septembertages im Jahr 2007 streicheln.

„Petra wird heute schon kommen. Sie bringt Jonas mit. Tobi muss Wochenenddienst im Krankenhaus schieben. Ingrid treffen wir morgen in der Kirche nebst Gatte und den zwei Kindern.“

Andreas liebte seine beiden Schwestern. Petra war lebenslustig, für alles offen und einfach ein herzlicher Typ. Ingrid hingegen wirkte oft wie eine Person, der bewusst war, dass ihr Leben festgefahren war. Verbittert, zynisch und gelegentlich boshaft.

Sondra mochte Petra lieber als Ingrid, ihrem Freund zu liebe behandelte sie aber beide Schwestern gleich.

„Danke, übrigens“, sagte Andreas nach einer Weile.

Verwirrt blickte Sondra zu ihm rüber. „Wofür?“

„Dafür, dass du morgen in die Kirche mitkommst.“

Sie zuckte mit den Schultern. „Dass ich selbst nicht an einen Gott glaube heißt ja nicht, dass ich nicht den Glauben anderer Menschen respektiere. Und da ich dich liebe und respektiere, respektiere ich natürlich auch deinen Glauben.“

Andreas lächelte. „So so, du respektierst mich also.“

„Fast so sehr, wie ich dich liebe.“

„Aha. Dann wäre das ja auch geklärt.“

Sondra liebte die kleinen Wortspielchen mit Andreas. Am liebsten hätte sie ihre Hand auf seinen Oberschenkel gelegt, aber da er sich auf die Fahrbahn konzentrieren musste, hielt sie sich mit dem Körperkontakt zurück.

„Wusstest du, dass es schon im Altertum und bei den vorchristlichen Kulturen Feste gab, die das Einbringen der Ernte feierten?“

„Klar. Mein Pfaffe hat uns das im Konfirmationsunterricht eingetrichtert. Mit Quer­verweisen auf das Judentum, griechische und römische Antike. Du siehst also, auch ich bin in geschichtlicher Hinsicht nicht ganz unwissend, Frau Doktor Wieland.“

Sondra schmunzelte. Irgendwie erfüllte es sie mit Stolz, wenn Andreas sie so nannte. Sie hatte ihren Doktortitel erst ein paar Monate und konnte sich noch nicht so richtig daran gewöhnen. Aber sie hatte auch hart dafür gearbeitet. Im letzten Jahr war sie vier Monate bei Ausgrabungen in Irland gewesen. In den Hills of Tara, einer ehema­ligen Hochburg keltischer Geschichte, suchte sie nach Spuren des Königs Niall Noigiallach, dessen Namen sie vor zwei Jahren in den Bambusannalen Vilgards ent­deckt hatte. Auf dem King Seat, das wohl berühmteste Monument Taras, stand ur­sprünglich der Lia Fail, der so genannte Krönungsstein. Angeblich vibrierte und summte der Stein, wenn der rechtmäßige König ihn berührte. Der Originalstein ist schon seit langer Zeit verschwunden, über den Verbleib gibt es diverse Gerüchte, von Zerstörung bis hin zur Zweckentfremdung als Krönungsstein britischer Königs­familien in der Abtei von Westminster.

Sondra hatte da ihre ganz eigenen Theorien.

Das Vibrieren und Summen brachte sie darauf, dass sich in der Nähe vielleicht ein Tor befindet oder befunden hat. Sie hatte keine Genehmigung von Messungen durch Radar- oder Schockwellen in dem historischen Gebiet bekommen.

Aber Sondra hatte ihre eigene Methode gewählt. Sie hielt sich einfach an den Voll­mondtagen auf den King Seat auf und lauschte in sich selbst und die Umgebung hinein.

Nichts tat sich in den ersten drei Monaten. Weder ihr Amulett noch ihre Tätowierung am Rücken des linken Handgelenks signalisierten Sondra, das ein Tor in der Nähe der Hills of Tara war.

Zwischen den Vollmondtagen hielt sich Sondra im County Monaghan auf. Sie durch­suchte die Bergkette von Slieve Beagh nach Hinweisen auf Niall Noigiallach und auf Merlin. Ihrer Theorie nach, ging Merlin einst durch dasselbe Tor von Vilgard zur Erde wie sein Lehrmeister in umgekehrter Richtung.

Dieses Tor lag auf Vilgards Seite den Berichten zu Folge, die sie gelesen hatte westlich im Sikhara-Gebirge. Daraufhin stellte sie folgende Berechnung an: ihr Tor lag in Norddeutschland. Genauer gesagt in ihrem Keller. Als sie mit Andreas nach Vilgard gereist war, hatten sie sich südwestlich auf Ylra und das Sikhara-Gebirge zu bewegt.

Der Druide, der damals nach Vilgard kam und dort blieb, kam aus dem heutigen Irland. Also musste es dort auch ein Tor geben.

Da Irland etwas südwestlich von Deutschland liegt müsste Sondras Logik zur Folge das irische Tor westlich im oder am Sikhara-Gebirge zu finden sein.

Natürlich konnte Sondra diese Theorien nicht in ihrem Studium und ihrer Disser­tation einarbeiten. Die Professoren und Tutoren hätten sie bestenfalls milde ange­lächelt und dann die Männer mit den Hab-Mich-Lieb-Jäckchen angerufen. Also musste sie die Sache auf sehr irdische und irische Weise angehen.

Der Zufall kam ihr zu Hilfe. Beim Klettern in den Bergen von Slieve Beagh rutschte sie aus und schlitterte in eine Höhle hinein. Der Eingang war mit Wurzeln und Geäst zugewuchert, aber nach ein paar rabiaten Unkraut-Vernichtungsmaßnahmen mit ihrem Pickel und etwas Körperkraft legte sie den Eingang ein wenig frei.

Sondra lächelte still in sich hinein, während sie neben Andreas im Auto saß und an ihre kleine Entdeckung dachte.

Sie hatte damals einen Bergführer bei sich. Sean O´Malley war ein relativ kleiner, breiter Ire mit einem sehr gewöhnungsbedürftigen Akzent. Ständig grinste er von einem Ohr zum anderen und erzählte Geschichten aus der Zeit der Hochkönige Irlands. Nachdem Sondra den Höhleneingang freigelegt hatte, ließ sie sich von Sean mit einem Seil sichern und in die Höhle hinunter. Das, was sie in dem schwachen Licht ihrer Taschenlampe sah, verschlug ihr die Sprache.

Die Wände waren voll geschrieben mit Texten in Ogam und Latein. Dadurch, dass diese Höhle über Jahrhunderte nicht betreten worden und ihr Zustand trocken und warm war, waren die Schriften sehr gut erhalten. Sondra machte rasch mit ihrem Camcorder einige Aufnahmen, um den Fund beweisen zu können. Kurz bevor sie sich von Sean wieder hochziehen ließ, sah sie im Schein ihrer Taschenlampe noch etwas anderes.

An der hinteren Wand der Höhle stand ein rechteckiger Felsblock. Er sah merkwürdig gleichmäßig aus. Sondra blinzelte etwas, um den Gegenstand genauer unter die Lupe zu nehmen. Dann stieß sie einen kleinen Jubelschrei aus.

„Sondra! Was ist passiert?“, rief Sean von oben.

„Zieh mich rauf, mein Freund. Schnell!“

Sean O´Malley musste wohl gedacht haben, dass sein Schützling in Gefahr wäre. Mit einer unglaublichen Geschwindigkeit zog der Mann Sondra aus der Höhle, als hätte sie kein Gewicht.

„Bist du in Ordnung? Hat dich irgendwas gebissen?“

Sondra strahlte ihren Begleiter an und umarmte ihn lachend. Dann nahm sie seinen Kopf zwischen die Hände und drückte ihm einen herzhaften Kuss auf die Stirn.

„Sean, du bist mein Glücksbringer, mein Held!“, sagte sie.

O´Malley sah sie mit hochrotem Kopf an. Zwar hatte seine Gesichtsfarbe als Grund­ton immer ein leichtes Rot, aber Sondras Aktion verwandelte das leichte Rot in ein glühendes Feuerrot.

In Monaghan, der Hauptstadt des County Monaghan, hatte Sondra sich ein Zimmer in einer Pension genommen. Als sie nach ihrer Entdeckung in ihrem Zimmer den Camcorder an den Fernseher anschloss und sich die Aufnahmen in Ruhe ansah, wusste sie, dass sie den Jackpot gezogen hatte.

Die Inschriften in Latein erzählten die Geschichte eines Königs in Britannien, der versuchte die Völker zu einen und alle ehrbaren Männer unter sich zu verbünden.

Die Ogam-Zeichen nahmen diese Geschichte auf und berichteten zusätzlich von Kon­takten, die zwischen dem britischen König und dem Hochkönig Irlands stattgefunden hatten.

Der rechteckige Gegenstand am hinteren Ende der Höhle konnte entweder ein Altar oder ein Sarkophag sein. Das würden erst genauere Untersuchungen ergeben.

Dann entdeckte Sondra etwas, das sie vorher in der Höhle nicht gesehen hatte. Schriftzeichen aus Vilgard!

Sondra schluckte hart. Konnte sie es riskieren, dass sie den Fund öffentlich machte und somit Vilgard eventuell der Entdeckung preisgab? Sie konzentrierte sich und versuchte zu entziffern, was in dem Halbdunklen von ihr gefilmt worden war.

„Das heilige Gefäß wird in dieser Welt nie zu finden sein.“

Nachdenklich ließ sich Sondra auf ihr Bett zurückfallen. Diese Höhle war nun ent­deckt. Sean O´Malley würde es bestimmt schon im Pub erzählt haben. Also wäre es doch am besten, die Flucht nach vorn anzutreten und die Freilegung der Höhle selbst zu überwachen und zu dokumentieren.

Sondra Wielands Entschluss stand fest. Gleich am nächsten Morgen ging sie zu den entsprechenden Behörden in Monaghan und beantragte die Freilegung und Erforschung der Höhle.

„Miss Wieland, unsere Stadt ist zu klein. Wir können die Kosten gar nicht aufbringen, um Ihnen ein derartiges Unterfangen zu finanzieren. Wenn sie einen Sponsor hätten und freiwillige Arbeitskräfte ....“

Weiter kam der Mann vom Amt nicht. Sondra Wieland grinste ihn breit an. „Ich habe die finanziellen Mittel. Und um die Männer, die ich brauche, kümmere ich mich selbst. Ich bezahle sie auch selbst. Was ich von Ihnen brauche ist eine Unterschrift und ein Stempel, das ich in den Slieve Beagh graben darf. Selbstverständlich ver­pflichte ich mich, sämtliche Fundstücke, vom Staubkorn bis zum großen Felsblock, dem irischen Volk zuzuführen. Ich habe kein Interesse an Souvenirs oder ähnlichem. Ich möchte nur forschen und die Erkenntnisse für meine Doktorarbeit gebrauchen können. Mehr will ich nicht. Das unterschreibe ich Ihnen gern in fünffacher Aus­führung. Hier ist übrigens eine beglaubigte Kopie meines Führungszeugnisses aus Deutschland.“

Sondra lächelte immer noch und setzte zusätzlich eine kleine Gabe ein, die ihr von ihrer Mutter quasi in die Wege gelegt worden war. Ihr Nymphen-Gen!

Seit sie von ihrem Bluterbe wusste, hatte sie trainiert, um diesen Teil von sich selbst nicht unkontrolliert auf die Welt – respektive Männerwelt – loszulassen. Doch gelegentlich konnte dieses Erbe von Nutzen sein. So wie jetzt.

Langsam ließ sie einen Teil der Barrieren fallen, die sich schützend wie ein Kokon um ihr Unterbewusstsein gelegt hatte. Dann ließ sie die Quellnymphe ein wenig kom­men. Ihre Haut fing an zu schimmern und zu pulsieren. Der arme Mann vor ihr wusste nicht, wo er hinsehen sollte. Völlig verdattert unterschrieb er ihren Antrag und stempelte ihn ab.

„Ich danke Ihnen, Mr. Scott“, sagte sie lächelnd und schickte ihm einen intensiven Nymphen-Impuls. Dem Mann fielen fast die Augen aus dem Kopf und er wurde hochrot. Krampfhaft schloss er die Beine und legte seine Hände schützend auf seinen Unterleib.

Immer noch lächelnd drehte Sondra sich um und verließ das Amt.

Sondra kicherte in sich hinein.

„Woran denkst du?“, fragte Andreas.

„An den armen Beamten in Monaghan. Ich glaube, nachdem er mir die Genehmigung für die Ausgrabung erteilt hatte, ist er erst mal schnell auf Klo gerannt.“

„Die Nymphe?“

„Die Nymphe!“

„War das fair?“

„Nein, aber sonst hätte ich bis nach Dublin gemusst, um mir die Genehmigung einzuholen. Und das hätte vielleicht noch mal ein paar Wochen gedauert. Du weißt, ich bin nicht gerade sehr geduldig, mein Schatz.“ Sie hatten die Autobahn vor ein paar Minuten verlassen und fuhren jetzt auf der Bundesstraße weiter.

„Wenn der Prozess gegen diesen Bastard vorbei ist, möchte ich mit dir Urlaub ma­chen, Sondra. Vielleicht zeigst du mir ja mal deine Höhle?“

Die Stimme von Andreas klang ungewöhnlich ernst und angespannt. Sondra wusste, was ihm durch den Kopf ging. Vor knapp einem Jahr erschreckte der Fund von fünf Kinderleichen Norddeutschland. Binnen weniger Monate wurden die Mädchen entführt, missbraucht und getötet. Danach dann wie Müll weggeworfen. Kriminal­kommissar Andreas Laurenz und seine Kollegen ermittelten fieberhaft um weitere Morde zu verhindern.

Als das sechste Mädchen entführt worden war, bekam der Fall eine persönliche Wen­dung. Das Kind entpuppte sich als die Tochter einer alten Schulfreundin von Andreas. Sondra wusste keine Einzelheiten über den Verlauf der Ermittlungen. Aber zwei Tage nach der Entführung gelang es der Sonderkommission das Kind aus den Händen des Entführers und Mörders zu befreien. Die Kleine war zwar schwer verletzt und würde noch Jahre in psychologischer Betreuung verbringen, aber sie lebte.

Der Täter wurde verhaftet und die Sonderkommission arbeitete eng mit der Staats­anwaltschaft zusammen. Alle Beweise wurden mehrfach gesichtet und überprüft, ebenso die Zeugenaussagen und die Alibis. Jetzt, nach fast einem Jahr, stand der Pro­zess kurz bevor und die Staatsanwaltschaft und die Polizisten der Sonderkommission hofften, dass das gesammelte Material für eine Verurteilung ausreichen würde und der Täter nie wieder als freier Mensch herumlaufen kann.

„Das ist eine ausgezeichnete Idee, Andi. Irland ist im Winter sehr schön und ruhig. Da wirst du dich bestimmt erholen können.“

Sondra Wieland hatte die Anspannung ihres Freundes in den letzten Monaten kaum ertragen können. Es gab Momente, in denen Andreas das Lachen zu verlernen schien. Es musste grauenvoll gewesen sein, was er zu sehen bekommen hatte.

Andreas lächelte seine Freundin jetzt dankbar an. „Es war bestimmt nicht leicht mit mir in letzter Zeit.“

„Ich liebe dich, du Holzkopf“, sagte sie zärtlich.

Damit war alles gesagt. Sondra lehnte sich lächelnd in den Autositz zurück und dach­te an den Moment in Vilgard, als sie befürchtete Andreas durch den Messerstich eines Trolls zu verlieren. In diesem Moment war ihr bewusst geworden, dass der Mann, den sie in ihren Armen gehalten hatte, ein bedeutender Teil ihres Lebens sein würde.

Und sie hatte nicht vor, diesen Mann jemals wieder gehen zu lassen.

Die Eltern von Andreas, Silke und Olav Laurenz, hatten ein kleines Gestüt. Als An­dreas mit Sondra vor das Haupthaus fuhr, ging die Haustür auf und Olav Laurenz trat vor die Tür.

„Schön, dass ihr gekommen seid, Kinder!“ Er umarmte nicht nur seinen Sohn zur Begrüßung, sondern auch Sondra.

Olav Laurenz war Anfang sechzig, groß und hager. Seine blauen Augen blickten im­mer forschend in die Gesichter seiner Gesprächspartner und er war ein unbe­stechlicher Geschäftsmann. Seine Familie war ihm aber das Wichtigste. Egal wie ge­winnbringend ein Projekt sein konnte, sobald ein Mitglied seiner Familie ihn brauch­te, war er zur Stelle und er ließ alles andere stehen und liegen.

Olav legte einen Arm um Sondras Schulter. „Andi, du bringst Sondra viel zu selten hierher. Wenn sie hier ist, geht es einem gleich viel besser.“

Andreas grinste seinen Vater an. „Na-na, du alter Schwerenöter! Begebe dich nicht auf fremdes Terrain!“

Lachend führte Olav Sondra galant in das Herrenhaus, hängte ihren Trenchcoat auf einen Bügel und gab ihr ein paar Gästepantoffel. Sondra fand das von Anfang an ir­gendwie süß. Sie wäre barfuß oder mit frischen mitgebrachten Socken umher ge­laufen. Aber die Eltern von Andreas bestanden nun mal auf die Pantoffeln.

„Seht mal, wen ich hier habe“, sagte Olav und zog Sondra lächelnd an der Hand führend in das Wohnzimmer.

Silke Laurenz stand auf, ebenfalls lächelnd. Sie hatte warme, braune Augen und sanf­te Gesichtszüge. Ihre hellblonden Haare waren kinnlang und benötigten noch keine künstliche Farbe. Lachfalten hatten sich neben den Augen und in den Mundwinkeln tief eingegraben.

Sie war Ende fünfzig, aber so manche vierzigjährige Frau wäre neidisch auf die schlanke, sportliche Figur dieser Frau.

„Sondra, Liebes! Schön, dass du hier bist.“ Silke nahm Sondra in die Arme und küsste sie auf beide Wangen. Sondra erwiderte die Küsse und strahlte die ältere Frau an.

„Ich freue mich auch, wieder mal hier zu sein. Danke für euer herzliches Will­kommen!“

Andreas hatte inzwischen seine Schwester Petra umarmt und wurde nun von dem sechsjährigen Jonas angesprungen. Spielerisch, als ob der Knirps zwei Zentner wie­gen würde, strauchelte Andreas rückwärts und ließ sich laut stöhnend auf die Couch fallen.

„Sag mal, hast du Kraftfutter der Pferde zu Essen bekommen?“

„Nö, Onkel Andi. Ich laufe viel und mache jetzt Judo! Und in der Klasse bin ich der Beste im Sport!“

Jonas war gerade erst eingeschult worden. Er war ein guter Schüler, dem das Lernen Spaß machte und der alles Neue in sich aufsog wie ein Schwamm.

Petra Schubert, geborene Laurenz, umarmte Sondra ebenfalls zur Begrüßung. Sie hatte die blauen Augen ihres Vaters, aber das warme Wesen ihrer Mutter. Wenn sie lachte, bildeten sich auf den Wangen links und rechts zwei tiefe Grübchen und ihre Augen strahlten mit der Sonne um die Wette.

„Schwesterherz, kriegst du Zwillinge oder warum gehst du so auseinander?“

„Andi!“ Sondra war ein wenig entsetzt über die ruppige Art, aber Petra lachte nur.

„Volltreffer, großer Bruder. Ich bekomme ein Doppelpack. Aber ich habe noch drei Monate.“

Petra klopfte sanft mit der flachen Hand auf den gewölbten Bauch. „Wann werdet ihr zwei für Nachwuchs sorgen?“

Sondra wurde puterrot und stöhnte auf. Andreas grinste erst Sondra und dann seine Schwester an. „Eins nach dem anderen, Pittiplatsch.“

„Werde nicht frech, Rübennase!“

Sondra lächelte in sich hinein. Die beiden Geschwister hatten ein wirklich herzliches und vertrautes Verhältnis zueinander. Sie konnten gar nicht aufeinander böse sein.

Nach dem Abendessen – Sondra hatte bei dem Tischgebet, das in diesem Haus üblich war, die Hände ihres jeweiligen Sitznachbars ergriffen und respektvoll geschwiegen – wollte Petra ihren Filius ins Bett bringen. Aber Jonas maulte solange herum, bis Andreas ihn sich einfach über die Schulter warf und zusammen mit ihm und seiner Schwester in das alte Zimmer von Petra verschwand.

Sondra blickte ihrem Freund zufrieden lächelnd nach.

„Wir konnten dir noch gar nicht zu deiner Doktorwürde gratulieren, Sondra“, sagte Olav, während er sich seine Pfeife stopfend im Sessel vor dem Kamin zurücklehnte.

„Danke, Olav. In den letzten vier Monaten ist soviel passiert. Ich musste noch mal nach Irland zu meiner Höhle und als ich dann hier war, brauchte mich Andreas. Es gab einfach nicht die Zeit und die Gelegenheit, das ein bisschen zu feiern.“

Olav nickte. Sondra hatte es sich auf der großen Couch bequem gemacht und ihre Beine unter sich geschlagen. Silke saß auf dem zweiten Sessel und schaute ihrem Mann zu, wie er seine Pfeife anzündete.

´Es ist ein Ritual, jedes Mal! `, dachte sich Sondra.

„Andreas war in letzter Zeit sehr angespannt, nicht wahr? Macht ihm der Fall immer noch zu schaffen?“ Silke blickte kurz zu Sondra hinüber. In diesem kurzen Moment erkannte Sondra die Sorge, die sich Silke um ihren einzigen Sohn machte.

„Ja, der Fall ist noch nicht ganz abgeschlossen. Aber in knapp zwei Wochen beginnt der Prozess. Andreas, sein Team und die Staatsanwaltschaft überprüfen jedes Detail, jeden Beweis und jede Zeugenaussage zum x-ten Mal, um Fehler zu vermeiden. Dieser Mann soll nie wieder die Möglichkeit bekommen, Freiheit zu schnuppern. Und das ganze nimmt Andi unheimlich mit.“

„Erzählt er Einzelheiten?“, wollte Olav wissen.

„Nein. Das darf er gar nicht. Aber ich merke auch so, dass er völlig fertig ist, wenn er nach Hause kommt.“

„Belastet das nicht eure Beziehung?“, fragte Silke.

Sondra überlegte kurz. „Am Anfang, als Andi noch gar nichts sagen durfte. Da hatte ich manchmal ein befremdliches Gefühl. Aber ich merkte auch, dass er jemanden brauchte, der nicht viele Fragen stellt, sondern einfach nur da ist. Irgendwie hat uns das noch näher gebracht.“

Einen Moment schwiegen die drei. Von oben war das Lachen von Jonas zu hören, weil Andreas mit ihm herumalberte. Sondra lächelte bei den Geräuschen.

„Es tut gut, Andi wieder mal Lachen zu hören“, sagte Sondra leise. „Wenn dieser Albtraum mit dem Mörder vorbei ist, werden wir verreisen. Andi braucht unbedingt einen Tapetenwechsel.“

Silke strahlte Sondra an. „Das ist eine hervorragende Idee. Das tut ihm bestimmt gut. Aber bitte nicht wieder nach Südamerika!“

Sondra lachte. „Nein, vielleicht nach Irland oder nach Malta. Diesmal kein Urwald mit Einwohnern, die mit Messern nach uns werfen.“

Sondra und Andreas mussten sich eine kleine Notlüge ausdenken, um die frische Wunde an der Schulter von Andreas zu erklären. Schließlich konnten sie ja nicht erzählen, dass ein Troll mit einem Messer auf den König der Elfen losgegangen war und Andreas sich dazwischen geworfen hatte. Das hätte auch bei den aufge­schlossenen Eltern von Andreas zumindest zu Unverständnis geführt.

„Was wirst du eigentlich in Zukunft machen?“, fragte Olav zwischen einigen Zügen an seiner Pfeife. „Wirst du Feldforschung betreiben oder eine Dozentenstelle an einer Uni annehmen?“

Sondra zuckte mit den Schultern. „Ich weiß noch nicht so genau. Hamburg und Berlin haben mir jeweils eine lukrative Stelle mit viel Freiraum angeboten. Aber auch Dublin, London und Philadelphia in den USA sind an mich herangetreten.“ Sondra grinste breit. „Meine kleine Zufallsentdeckung hat wohl einigen Staub aufgewirbelt.“

„Aber welche Entscheidung Sondra auch trifft“, meldete sich Andreas zu Wort, der das Wohnzimmer gerade wieder betrat. „ich werde hundertprozentig hinter ihr stehen.“

Er ließ sich neben seine Freundin auf die Couch plumpsen und zog sie in seine Arme. Sondra sog seinen Duft ein, der sie jedes Mal alles andere um sie herum vergessen ließ. Für einen kurzen Moment verlor sie die Kontrolle über ihre Barrieren und ihre Haut schimmerte auf. Olav Laurenz bemerkte es und starrte verwundert zu der Freundin seines Sohnes.

„Was war das gerade?“

Sondra wusste sehr wohl, was Olav meinte. „Was meinst du?“

„Deine Haut. Sie hat eben gerade geleuchtet!“

Sondra spürte, dass Andreas sich kurz anspannte. „Das war bestimmt nur eine Re­flexion vom Kaminfeuer, Paps.“

Stirn runzelnd paffte Olav an seiner Pfeife. Sondras Herz schlug bis zum Hals. Beina­he wäre eines ihrer kleinen Geheimnisse offenbart worden.

„Ich glaube, wir gehen jetzt schlafen. Wir wollen ja nicht morgen in der Kirche einschlafen, nicht wahr?“ Andreas stand auf und half Sondra hoch. Dann ging er zu seiner Mutter und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. „Nacht, Mutsch!“

„Du sollst mich doch nicht so nennen!“, warf sie ihm vor, drückte ihm aber einen Kuss auf die Wange.

„Das war verdammt knapp“, murmelte Andreas schläfrig, als er und Sondra wenig später aneinander gekuschelt im Bett in seinem alten Zimmer lagen.

„Ja, war es.“ Sondra richtete sich ein wenig auf. „Aber deine Nähe lässt nun mal Gefühle in mir hochkommen. Dein Duft, deine Berührungen….“ Sie küsste sein Kinn, ihre Lippen wanderten an seinem Kiefer entlang zu seinem Ohrläppchen. Als sie zärtlich daran knabberte, stöhnte Andreas heftig auf.

„Sagtest du nicht vorhin, dass es dir peinlich ist, es im Haus meiner Eltern zu tun?“ Seine Stimme klang ein wenig rau, dafür war er aber wieder hellwach.

„Was tun?“, fragte sie mit gespielter Naivität und ließ ihre Zungenspitze an seinen Hals hinunter zum Schlüsselbein wandern.

„Biest!“ Andreas griff in Sondras rote Haare und riss ihren Kopf nach hinten. Hart presste er seine Lippen auf ihre und zwang seine Zunge in ihren Mund. Sondra ließ alle Barrieren fallen und leuchtete wie ein Stern in dunkler Nacht.

Weltenwanderer-Chroniken II

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