Читать книгу Gesammelte Werke - Heinrich Mann - Страница 22

Оглавление

Die Schwiegermutter des Bürgermeisters fragte ihn, was der Alte über die „Heimliche Gräfin“ geäußert habe. Diederich dachte nach, und er mußte gestehen, er habe das Stück gar nicht erwähnt. Beide waren enttäuscht.

Indes bemerkte er, daß Käthchen Zillich spöttisch hersah, und gerade sie hatte sich nichts zu erlauben. „Nun, Fräulein Käthchen“, sagte er recht laut. „Was denken Sie über den grünen Engel?“ Sie erwiderte noch lauter: „Der grüne Engel? Sind Sie das?“ Und sie lachte ihm ins Gesicht. „Sie sollten wirklich vorsichtiger sein“, meinte er stirnrunzelnd. „Ich fühle mich geradezu verpflichtet, Ihren Herrn Vater aufmerksam zu machen.“

„Papa!“ rief Käthchen sofort. Diederich erschrak. Glücklicherweise hörte Pastor Zillich nicht.

„Natürlich hab’ ich meinem Papa gleich neulich von [pg 325]unserem kleinen Ausflug erzählt. Was macht es denn, es waren doch nur Sie.“

Sie ging zu weit. Diederich schnaufte. „Na und für Liebhaber schöner Ohren war auch noch Jadassohn da.“ Da er sah, daß es sie traf, setzte er hinzu: „Das nächste Mal im grünen Engel streichen wir sie ihm grün an, das macht Stimmung.“

„Wenn Sie meinen, daß es auf die Ohren ankommt.“ Dabei drückte Käthchens Blick eine so schrankenlose Verachtung aus, daß Diederich den Entschluß faßte, mit allen Mitteln einzuschreiten. Sie befanden sich bei der Pflanzengruppe. „Was glauben Sie?“ fragte er. „Wird die Schäferin über den Bach springen und den Schäfer glücklich machen?“

„Schaf“, sagte sie. Diederich überhörte es, ging hin und tastete an der Wand umher. Nun hatte er die Tür. „Sehen Sie? Sie springt.“

Käthchen kam näher, neugierig streckte sie ihren Hals in das geheime Zimmer. Da hatte sie einen Stoß und war ganz drinnen. Diederich warf die Tür zu, er fiel stumm über Käthchen her, mit wildem Schnaufen.

„Lassen Sie mich hinaus, ich kratze!“ rief sie und wollte kreischen. Aber sie mußte lachen, was sie wehrlos machte und dem Sofa immer näher brachte. Der Kampf mit ihren entblößten Armen und Schultern versetzte ihn vollends außer sich. „Jawohl,“ keuchte er, „jetzt kommt was.“ Bei jedem Strich Boden, den er gewann, wiederholte er: „Jetzt kommt was. Bin ich noch ein Schaf? Aha, wenn man denkt, ein Mädchen ist anständig, und man hat ehrliche Absichten, ist man ein Schaf. Jetzt kommt was.“ Mit einem letzten Ruck schleuderte er sie hin. „Au“, sagte sie; und vor Lachen erstickend: „Was kommt denn jetzt?“

Plötzlich ward ihre Verteidigung ernst. Sie rang sich hervor; der Streifen Gaslicht, den das kahle Fenster hereinließ, beschien ihre Unordnung; und ihr Gesicht, von der Anstrengung wie geschwollen, war nach der Tür gerichtet. Er wandte den Kopf: da stand Guste Daimchen. Sie starrte entgeistert her, Käthchen quollen die Augen heraus, und Diederich, auf dem Sofa kniend, verrenkte sich den Hals ... Endlich zog Guste die Tür an, sie ging entschlossen auf Käthchen zu.

„Du gemeines Luder!“ sagte sie aus tiefem Innern.

„Selber eins!“ sagte Käthchen, schnell gefaßt. Da schnappte Guste nur noch nach Luft. Von Käthchen sah sie zu Diederich, ratlos und so empört, daß ihr Blick sich mit feuchtem Glanz füllte. Er versicherte: „Fräulein Guste, es handelt sich um einen Scherz“; aber er kam schlecht an, Guste brach los. „Sie kenn’ ich, von Ihnen kann ich es mir denken.“

„So, du kennst ihn“, bemerkte Käthchen höhnisch. Sie stand auf, indes Guste ihr noch näher rückte. Diederich seinerseits ergriff die Gelegenheit, gab seiner Haltung Würde und trat zurück, um die Damen unter sich die Sache erledigen zu lassen.

„Daß ich so was muß mit ansehen!“ rief Guste; und Käthchen: „Du hast gar nichts gesehen! Wozu siehst du es dir überhaupt an?“

Diederich begann gleichfalls dies auffallend zu finden, zumal da Guste schwieg. Käthchen gewann sichtlich die Oberhand. Sie warf den Kopf zurück und sagte: „Von dir finde ich es überhaupt sonderbar. Wer so viel Butter auf dem Kopf hat wie du!“

Sofort zeigte Guste sich tief beunruhigt. „Ich?“ fragte sie gedehnt. „Was tu’ ich denn?“

Käthchen zierte sich plötzlich – indes Diederich vom Schrecken gepackt ward.

„Das wirst du wohl selbst wissen. Mir ist es zu peinlich.“

„Ich weiß gar nichts“, sagte Guste klagend.

„So was hätte man gedacht, das es gar nicht gibt“, sagte Käthchen und rümpfte die Nase. Guste verlor die Geduld. „Nun bitte ich es mir aber aus! Was habt ihr alle?“

Diederich schlug vor: „Es ist doch wohl besser, wenn wir jetzt das Lokal verlassen.“ Aber Guste stampfte auf.

„Keinen Schritt tu’ ich, bis ich es weiß. Den ganzen Abend merke ich schon, daß sie mich anglotzen, als ob ich einen toten Fisch verschluckt habe.“

Käthchen wandte sich weg. „Na, da siehst du es. Sei froh, daß sie dich nicht hinauswerfen mitsamt deinem Halbbruder Wolfgang.“

„Mit wem?... Mein Halbbruder ... Wieso Halbbruder?“

In einer tiefen Stille keuchte Guste leise und irrte mit den Augen umher. Auf einmal hatte sie begriffen. „So eine Gemeinheit!“ rief sie entsetzt. Über Käthchens Mienen breitete sich ein Lächeln des Genusses aus. Diederich seinerseits wehrte beteuernd ab. Guste streckte den Finger aus gegen Käthchen. „Das habt ihr Mädchen euch ausgedacht! Ihr seid mir neidisch wegen meinem Geld!“

„Pöh“, machte Käthchen. „Dein Geld wollen wir überhaupt nicht, wenn so was dabei ist.“

„Es ist doch nicht wahr!“ Guste kreischte auf. Plötzlich fiel sie vornüber auf das Sofa und wimmerte. „Ach Gott, ach Gott, was haben wir da angerichtet.“

„Siehst du wohl“, sagte Käthchen, frei von Mitleid.

Guste schluchzte immer lauter; Diederich berührte ihre Schulter. „Fräulein Guste, Sie wollen doch nicht, daß [pg 328]die Leute kommen.“ Er suchte nach einem Trost. „So was kann man nie wissen. Ähnlich sehen Sie sich nicht.“

Aber der Trost wirkte anstachelnd auf Guste. Sie sprang auf und ging zum Angriff über. „Du – du bist überhaupt eine feine Nummer“, zischte sie Käthchen zu. „Von dir sag’ ich, was ich gesehen habe!“

„Das werden sie dir glauben! So einer glaubt keiner mehr was. Von mir weiß jeder, daß ich anständig bin.“

„Anständig! Streich dir wenigstens das Kleid glatt!“

„So gemein wie du –“

„Bist bloß noch du!“

Hierüber erschraken beide, brachen ab und verharrten einander gegenüber, Haß und Angst in ihren dicken Gesichtern, die sich so sehr glichen; und die Büsten nach vorn, die Schultern hinauf, die Arme in die Hüften gestemmt, sahen sie aus, als sollten ihnen die duftigen Ballkleider vom Leibe platzen. Guste unternahm noch einen Vorstoß. „Ich sag’ es doch!“

Da sprengte Käthchen die letzte Fessel. „Dann mach’ aber schnell, sonst komm’ ich früher und erzähl’ allen, daß nicht du, sondern ich hier die Tür hab’ aufgemacht und hab’ euch beide ertappt.“

Da hierauf Guste nur noch mit den Lidern klappte, setzte Käthchen, plötzlich selbst ernüchtert, hinzu: „Nun ja, das bin ich mir doch schuldig. Bei dir kommt es nicht mehr darauf an.“

Aber Diederichs Blick war Gustes begegnet, verständigte sich mit ihr und glitt hinunter, bis er auf ihrem kleinen Finger den Brillanten traf, den sie gemeinsam aus den Lumpen gezogen hatten. Da lächelte Diederich ritterlich, und Guste, tief errötet, trat so nahe zu ihm, als lehnte sie sich an. Käthchen schlich zur Tür. Über Gustes Schul[pg 329]ter geneigt, sagte Diederich leise: „Ihr Verlobter läßt Sie aber lange allein.“ – „Ach der“, erwiderte sie. Er senkte das Gesicht noch ein wenig und drückte es auf ihre Schulter. Sie hielt ganz still. „Schade“, sagte er und zog sich so unerwartet zurück, daß Guste ausglitt. Sie begriff auf einmal, daß ihre Lage sich wesentlich verändert hatte. Ihr Geld war nicht mehr Trumpf, es war entwertet, ein Mann wie Diederich war mehr wert. Sofort bekam sie einen Blick wie eine Hündin. Diederich sagte gemessen: „An der Stelle Ihres Verlobten würde ich allerdings anders vorgehen.“

Käthchen zog mit äußerster Behutsamkeit die Tür wieder an, sie kehrte zurück, den Finger auf den Lippen.

„Wißt ihr was? Das Theater hat wieder angefangen – schon lange, glaube ich.“

„O Gott!“ sagte Guste; und Diederich:

„Na, dann sitzen wir in der Falle.“

Er suchte die Wände ab nach einem Ausgang; er rückte sogar das Sofa fort. Da keiner zu finden war, entrüstete er sich.

„Hier ist tatsächlich eine Falle. Und um der alten Baracke willen hat der Herr Buck den ganzen Straßenzug verlegt. Er soll es noch erleben, daß ich sie ihm einreiße! Bloß erst Stadtverordneter sein!“

Käthchen kicherte. „Was schnauben Sie denn so? Hier ist es doch ganz gemütlich. Jetzt können wir machen, was wir wollen.“ Und sie sprang über das Sofa. Da gab Guste sich einen Ruck und wollte auch hinüber. Sie blieb aber hängen. Diederich fing sie auf. Auch Käthchen hängte sich an ihn. Er zwinkerte beiden zu. „Also was machen wir?“ Käthchen sagte: „Das müssen Sie wissen. Wir drei kennen uns ja nun.“ – „Und zu verlieren haben wir auch nichts mehr“, sagte Guste. Dann platzten sie alle aus.

Aber Käthchen entsetzte sich. „Kinder! In dem Spiegel seh’ ich aus wie meine tote Großmutter.“

„Er ist ganz schwarz.“

„Und ganz bekritzelt.“

Sie legten die Gesichter darauf, um im fahlen Gaslicht die Ausrufe und Kosenamen zu lesen, die zusammen mit alten Jahreszahlen in den Umrissen verschlungener Herzen standen, auf eingeritzten Vasen, Amoretten und sogar über Gräbern. „Auf der Urne hier unten, nein so was!“ sagte Käthchen. „‚Erst jetzt sollen wir leiden‘ ... Warum? Weil sie hier drinnen waren? Die waren wohl verrückt.“

„Wir sind nicht verrückt“, behauptete Diederich. „Fräulein Guste, Sie haben doch einen Brillanten.“ Er zeichnete drei Herzen, versah sie mit einer Inschrift und ließ die Mädchen das Werk enträtseln. Da sie sich kreischend abwandten, sagte er stolz: „Wozu heißt dies das Liebeskabinett.“

Plötzlich stieß Guste einen Schreckensruf aus. „Hier sieht jemand zu!“

Hinter dem Spiegel hervor streckte sich ein geisterbleicher Kopf!... Käthchen war schon bei der Tür. „Kommen Sie wieder her“, rief Diederich. „Es ist bloß gemalt.“

Der Spiegel hatte sich auf einer Seite von der Wand gelöst, man konnte ihn noch weiter umwenden: da trat die ganze Figur heraus.

„Es ist die Schäferin, die draußen über den Bach springt!“

„Jetzt hat sie es hinter sich“, sagte Diederich; denn die Schäferin saß da und weinte. Auf der Rückseite des Spiegels aber entfernte sich der Schäfer.

„Und dort kommt man hinaus!“ Diederich wies auf einen erleuchteten Spalt, er tastete, die Tapete öffnete sich.

„Dies ist der Ausgang, wenn man es hinter sich hat“, [pg 331]bemerkte er und ging voraus. Ihm im Rücken sagte Käthchen spöttisch:

„Ich habe gar nichts hinter mir.“

Und Guste wehmütig: „Ich auch nicht.“

Diederich überhörte dies, er stellte fest, daß man sich in einem der kleinen Salons hinter dem Büfett befand. Eilends erreichte er die Spiegelgalerie und verlor sich unauffällig in der Menge, die soeben aus dem Saal quoll. Man war erfüllt von dem tragischen Schicksal der heimlichen Gräfin, die nun also doch den Klavierlehrer geheiratet hatte. Frau Harnisch, Frau Cohn, die Schwiegermutter des Bürgermeisters, alle hatten verweinte Augen; Jadassohn, der, schon abgeschminkt, Lorbeeren einzusammeln kam, ward von den Damen nicht gut aufgenommen. „Sie sind schuld, Herr Assessor, daß es so gekommen ist! Schließlich war sie doch Ihre leibliche Schwester.“ – „Pardon, meine Damen!“ Und Jadassohn verteidigte seinen Standpunkt als legitimer Erbe der gräflichen Besitzungen. Da sagte Meta Harnisch:

„Aber so herausfordernd brauchten Sie nicht auszusehen.“

Sofort richteten sich alle Blicke auf seine Ohren; man kicherte; und Jadassohn, der vergeblich krähte, was denn los sei, ward von Diederich unter den Arm genommen. Diederich, das süße Pochen der Rache im Herzen, führte ihn eben dorthin, wo die Regierungspräsidentin unter lebhafter Anerkennung seiner Verdienste um ihr Werk sich vom Major Kunze verabschiedete. Kaum aber daß sie Jadassohn erblickte, drehte sie einfach den Rücken. Jadassohn blieb am Boden haften, Diederich brachte ihn nicht mehr weiter. „Was ist denn?“ fragte er heuchlerisch. „Ach ja, die [pg 332]Präsidentin. Sie haben ihr nicht gefallen. Sie sollen auch nicht Staatsanwalt werden. Man sah Ihre Ohren zu sehr.“

Was aber Diederich auch erwartet hatte, diese Spottgeburt einer Grimasse hatte er nicht erwartet! Wo war die hochgemute Schneidigkeit, der Jadassohn sein Leben geweiht hatte? „Ich sage es ja“, äußerte er nur, ganz leise; aber man glaubte einen grauenvollen Aufschrei zu hören ... Dann kam er in Bewegung, tanzte am Fleck umher und redete. „Sie können lachen, mein Bester! Sie wissen nicht, was Sie an Ihrem Gesicht haben. Ihr Gesicht, nichts weiter, und in zehn Jahren bin ich Minister.“

„Na, na“, sagte Diederich. Er setzte hinzu: „Das ganze Gesicht brauchen Sie nicht einmal: bloß die Ohren.“

„Wollen Sie sie mir verkaufen?“ fragte Jadassohn und sah ihn an, daß Diederich erschrak. „Kann man das?“ fragte er unsicher. Jadassohn ging schon, unter zynischem Lachen, auf Heuteufel zu. „Sie sind doch Spezialist für Ohren, Herr Doktor ...“

Heuteufel erklärte ihm, daß tatsächlich, wenn auch bisher nur in Paris, Operationen ausgeführt würden, durch die man Ohren auf die Hälfte ihres Umfanges herunterbringe. „Wozu gleich das Ganze weg?“ sagte Heuteufel. „Die Hälfte können Sie ruhig behalten.“ Jadassohn hatte seine Haltung zurück. „Großartiger Witz! Erzähl’ ich bei Gericht. Sie Gauner!“ Und er klopfte Heuteufel auf den Bauch.

Diederich inzwischen wandte sich seinen Schwestern zu, die, zum Ball umgekleidet, aus der Garderobe kamen. Sie wurden allerseits mit Beifall begrüßt und berichteten von ihren Eindrücken auf der Bühne. „Tee – Kaffee: Gott, war das aufregend!“ sagte Magda. Auch Diederich als Bruder nahm Glückwünsche entgegen. Er schritt zwischen ihnen, Magda hatte sich in ihn eingehängt, [pg 333]Emmis Arm dagegen mußte er gewaltsam festhalten. Sie zischte: „Laß die Komödie“; und er schnob ihr zu, zwischen Lachen und Grüßen: „Du hast zwar bloß die kleine Rolle gehabt, aber sei froh, wenn du überhaupt mal was vorstellst. Sieh Magda an!“ Denn Magda schmiegte sich gefällig an ihn, sie schien bereit, das Glück der einigen Familie so lange spazieren zu führen, als er es irgend wünschte. „Kleine,“ sagte er mit zärtlicher Achtung, „du hast Erfolg gehabt. Aber ich kann dir versichern, ich auch.“ Er gab ihr sogar Schmeicheleien. „Du siehst heute süß aus. Für Kienast bist du fast zu schade.“ Als dann noch die Regierungspräsidentin, schon im Fortgehen, ihnen gnädig zuwinkte, begegneten die Geschwister auf ihrem Weg nur den ergebensten Gesichtern. Der Saal war ausgeräumt; hinter der Palmengruppe ward eine Polonäse angestimmt. Diederich machte seine korrekteste Verbeugung vor Magda und schritt mit ihr zum Tanz, triumphierend, gleich nach dem Major Kunze, der führte. So zogen sie an Guste Daimchen vorüber, die saß. Sie saß neben dem verwachsenen Fräulein Kühnchen und sah ihnen nach, als habe sie Prügel bekommen. Ihr Anblick berührte Diederich fast so unheimlich, wie der des Herrn Lauer in der Vogtei.

„Die arme Guste!“ sagte Magda. Diederich runzelte die Brauen. „Ja ja, das kommt davon.“

„Aber eigentlich“ – und Magda blinzelte von unten, „woher kommt es denn?“

„Das ist gleich, mein Kind, jetzt ist es mal so.“

„Diedel, du solltest sie nachher doch zum Walzer bitten.“

„Das darf ich nicht. Man muß wissen, was man sich selbst schuldet.“

Dann verließ er sogleich den Saal. Soeben holte der [pg 334]junge Sprezius, der jetzt nicht mehr Leutnant, sondern wieder Primaner war, das verwachsene Fräulein Kühnchen von der Wand weg. Er nahm wohl Rücksicht auf ihren Vater. Guste Daimchen blieb sitzen ... Diederich machte einen Gang durch die Seitenzimmer, wo ältere Herren Karten spielten, bekam eine lange Nase von Käthchen Zillich, die er hinter einer Tür mit einem Schauspieler überraschte, und gelangte zum Büfett. Dort saß an einem Tischchen Wolfgang Buck und zeichnete in sein Notizbuch die Mütter, die um den Saal herum warteten.

„Sehr talentvoll“, sagte Diederich. „Haben Sie auch schon Ihr Fräulein Braut porträtiert?“

„In der Beziehung interessiert sie mich nicht,“ erwiderte Buck, so phlegmatisch, daß Diederich Zweifel kamen, ob seine Erlebnisse mit Guste im Liebeskabinett ihren Verlobten interessiert haben würden.

„Mit Ihnen weiß man überhaupt nicht“, sagte er enttäuscht.

„Mit Ihnen weiß man immer“, sagte Buck. „Damals vor Gericht, während Ihres großen Monologes, hätte ich Sie zeichnen mögen.“

„Ihr Plädoyer hat mir genügt; es war ein Versuch, wenn auch glücklicherweise ein mißlungener, meine Person und mein Wirken vor der breitesten Öffentlichkeit in Mißkredit zu bringen und verächtlich zu machen!“

Diederich blitzte, Buck bemerkte es erstaunt. „Mir scheint, Sie sind beleidigt. Und ich habe es doch so gut gesagt.“ Er bewegte den Kopf und lächelte, grüblerisch und entzückt. „Wollen wir nicht ’ne Flasche Sekt zusammen trinken?“ fragte er.

Diederich meinte: „Ob ich nun gerade mit Ihnen –.“ Aber er gab nach. „Das Gericht hat durch sein Urteil [pg 335]festgestellt, daß Ihre Vorwürfe sich nicht allein gegen mich, sondern gegen alle national gesinnten Männer richteten. Damit sehe ich die Sache als erledigt an.“

„Dann also Heidsieck?“ fragte Buck. Er nötigte Diederich, mit ihm anzustoßen. „Das werden Sie doch zugeben, bester Heßling, so eingehend wie ich, hat sich mit Ihnen überhaupt noch niemand beschäftigt ... Jetzt kann ich es Ihnen sagen: Ihre Rolle vor Gericht hat mich mehr interessiert als meine eigene. Später, zu Hause vor meinem Spiegel, habe ich sie Ihnen nachgespielt.“

„Meine Rolle? Sie wollen wohl sagen, meine Überzeugung. Freilich, für Sie ist der repräsentative Typus von heute der Schauspieler.“

„Das sagte ich mit Beziehung auf – einen anderen. Aber Sie sehen, wieviel näher ich es habe zu der Beobachtung ... Wenn ich morgen nicht die Waschfrau zu verteidigen hätte, die bei Wulckows Unterhosen gestohlen haben soll, vielleicht würde ich den Hamlet spielen. Prost!“

„Prost. Dazu brauchen Sie allerdings keine Überzeugungen!“

„Gott, ich habe auch welche. Aber immer dieselben?... Sie würden mir also das Theater anraten?“ fragte Buck. Diederich hatte schon den Mund geöffnet, um es ihm anzuraten, da trat Guste ein, und Diederich errötete, denn er hatte bei Bucks Frage an sie gedacht. Buck sagte träumerisch: „Inzwischen würde mein Topf mit Wurst und Kohl mir überkochen, und es ist doch ein so gutes Gericht.“ Aber Guste, auf leisen Sohlen, legte ihm von rückwärts die Hände auf die Augen und fragte: „Wer ist das?“ – „Da ist er ja,“ sagte Buck und gab ihr einen Klaps.

„Die Herren unterhalten sich wohl gut? Soll ich wieder gehen?“ fragte Guste. Diederich beeilte sich, ihr einen [pg 336]Stuhl zu holen; aber in Wirklichkeit wäre er lieber mit Buck allein gewesen; der fiebrige Glanz in Gustes Augen versprach nichts Gutes. Sie redete geläufiger als sonst.

„Ihr paßt eigentlich großartig zueinander, bloß daß ihr so förmlich tut.“

Buck sagte: „Das ist die gegenseitige Achtung.“ Diederich stutzte, und dann machte er eine Bemerkung, die ihn selbst in Erstaunen setzte. „Eigentlich – sooft ich mich von Ihrem Herrn Bräutigam trenne, hab’ ich Wut auf ihn; beim nächsten Wiedersehen aber freu’ ich mich.“ Er richtete sich auf. „Wenn ich nämlich noch kein national gesinnter Mann wäre, würde er mich dazu machen.“

„Und wenn ich es wäre,“ sagte Buck, weich lächelnd, „würde er es mir abgewöhnen. Das ist der Reiz.“

Aber Guste hatte sichtlich andere Sorgen; sie war erbleicht und schluckte hinunter.

„Jetzt sag’ ich dir was, Wolfgang. Wetten, daß du umfällst?“

„Herr Rose, Ihren Hennessy!“ rief Buck. Während er Kognak mit Sekt mischte, umklammerte Diederich Gustes Arm; und da die Ballmusik gerade sehr laut war, flüsterte er beschwörend: „Sie werden doch keine Dummheiten machen?“ Sie lachte wegwerfend. „Doktor Heßling hat Angst! Er findet die Geschichte zu gemein, ich finde sie bloß ulkig.“ Und laut lachend: „Was sagst du? Dein Vater soll mit meiner Mutter: du verstehst. Und infolgedessen sollen wir: du verstehst?“

Buck bewegte langsam den Kopf; und dann verzog er den Mund. „Wenn schon.“ Da lachte Guste nicht mehr.

„Wieso, wenn schon?“

„Nun, wenn die Netziger an so etwas glauben, muß es bei ihnen wohl alle Tage vorkommen, tut also nichts.“

„Redensarten machen den Kohl nicht fett“, entschied Guste. Diederich glaubte sich denn doch verwahren zu müssen.

„Überall können Fehltritte vorkommen. Aber über die Meinung seiner Mitmenschen setzt niemand sich ungestraft hinweg.“

Guste bemerkte: „Er glaubt immer, er ist zu gut für diese Welt.“ Und Diederich: „Dies ist eine harte Zeit. Wer sich nicht wehrt, muß dran glauben.“ Da rief Guste voll schmerzlicher Begeisterung:

„Doktor Heßling ist nicht wie du! Er hat mich verteidigt! Ich hab’ den Beweis, daß ich es weiß, von Meta Harnisch, weil sie schließlich hat müssen den Mund auftun. Er war überhaupt der einzige, der mich hat verteidigt. Er an deiner Stelle täte sich die Leute kaufen, die sich unterstehen und verklatschen mich!“

Diederich bestätigte es durch Nicken. Buck drehte immerfort sein Glas und spiegelte sich darin. Plötzlich ließ er es los.

„Wer sagt euch denn, daß ich mir nicht auch ganz gern einmal einen kaufen würde – einen herausgreifen, ohne besondere Auswahl, weil doch alle so ziemlich gleich dumm und gemein sind?“ Dabei kniff er die Augen zu. Guste hob die nackten Schultern.

„So was sagt man, aber sie sind gar nicht so dumm, sie wissen, was sie wollen ... Der Dümmere ist der Klügere“, schloß sie herausfordernd, und Diederich nickte mit Ironie. Da sah Buck ihn an, aus Augen, die auf einmal wie irrsinnig waren. Die Fäuste bewegte er mit krampfigem Zittern um seinen Hals her. „Wenn ich aber –“ er war plötzlich ganz heiser – „wenn ich den einen am Kragen hätte, von dem ich wüßte, er zettelt alles an, er faßt in [pg 338]seiner Person zusammen, was an allen häßlich und schlecht ist: ihn am Kragen hätte, der das Gesamtbild wäre alles Unmenschlichen, alles Untermenschlichen –.“ Diederich, weiß wie sein Frackhemd, drückte sich seitwärts vom Stuhl herunter und wich schrittweise zurück. Guste schrie auf, sie stob panikartig nach der Wand. „Es ist der Kognak!“ rief Diederich ihr zu ... Aber Bucks Blicke, die zwischen ihnen beiden, voll des gräßlichsten Unheils, umherrollten, packten unvermittelt ein. Er zwinkerte, er glänzte heiter.

„An die Mischung bin ich leider gewöhnt“, erklärte er.

„Es ist nur, damit ihr seht, wir können auch das.“

Diederich setzte sich polternd wieder hin. „Sie sind doch nur ein Komödiant“, sagte er entrüstet.

„Finden Sie?“ fragte Buck und glänzte noch heller. Guste rümpfte die Nase. „Na dann amüsiert euch weiter“, äußerte sie und wollte gehen. Aber der Landgerichtsrat Fritzsche war da, er verbeugte sich vor ihr und auch vor Buck. Ob der Herr Rechtsanwalt gestatte, daß er mit dem Fräulein Braut den Kotillon tanze. Er sprach äußerst höflich, beschwichtigend gewissermaßen. Buck antwortete nicht, er faltete die Brauen. Guste indessen hatte schon Fritzsches Arm genommen.

Buck sah ihnen nach, eine Falte zwischen den Brauen, selbstvergessen. „Ja ja,“ dachte Diederich, „erfreulich ist es nicht, wenn man einem Herrn begegnet, der mit Ihrer Schwester, mein Bester, eine Vergnügungsreise gemacht hat, und dann holt er einem die Braut vom Tisch weg, und du kannst nichts machen, weil sonst der Skandal noch größer wird, weil nämlich unsere Verlobung selbst schon ein Skandal ist ...“

Aufschreckend sagte Buck: „Wissen Sie, daß ich erst jetzt rechte Lust bekomme, Fräulein Daimchen zu ehelichen? [pg 339]Ich hielt die Sache für – nicht sehr sensationell; aber die Einwohner von Netzig machen geradezu eine Pikanterie daraus.“

Diederich war starr über diese Wirkung. „Wenn Sie finden“, brachte er hervor.

„Warum nicht? Sie und ich, wir beiden Gegenpole, führen doch hier die vorgeschrittenen Tendenzen der moralfreien Epoche ein. Wir machen Betrieb. Der Geist der Zeit geht hier noch in Filzschuhen über die Straße.“

„Wir werden ihm Sporen anlegen“, verhieß Diederich.

„Prost!“

„Prost! Aber meine Sporen“ – Diederich blitzte. „Ihre Skepsis und Ihre schlappe Gesinnung sind nicht zeitgemäß. Mit“ – er blies durch die Nase – „mit Geist ist heute nichts zu machen. Die nationale Tat“ – ein Faustschlag auf den Tisch – „hat die Zukunft!“

Buck darauf mit verzeihendem Lächeln: „Die Zukunft? Das ist eben die Verwechslung. Die nationale Tat hat abgehaust, im Lauf von hundert Jahren. Was wir erleben und noch erleben sollen, sind ihre Zuckungen und ihr Leichengeruch. Es wird keine gute Luft sein.“

„Von Ihnen habe ich nichts anderes erwartet, als daß Sie das Heiligste in den Schmutz ziehen!“

„Heilig! Unantastbar! Sagen wir gleich ewig! Nicht wahr? Außerhalb der Ideale eures Nationalismus wird nie, nie wieder gelebt werden. Früher, mag sein, in der dunkeln Periode der Geschichte, die euch noch nicht kannte. Jetzt aber seid ihr da, und die Welt ist angelangt. Dünkel und Haß der Nationen, das ist das Ziel, darüber hinaus geht es nicht.“

„Wir leben in einer harten Zeit“, bestätigte Diederich ernst.

„Weniger hart als verkalkt ... Ich bin nicht überzeugt, daß die Menschen, deren Dasein in den Dreißigjährigen Krieg fiel, an die Unabänderlichkeit ihres auch nicht weichen Zustandes geglaubt haben. Und ich bin überzeugt, daß die Rokokowillkür von denen, die ihr unterlagen, für überwindbar gehalten worden ist, sonst hätten sie nicht die Revolution gemacht. Wo ist, in den Räumen der Geschichte, die wir seelisch noch betreten können, die Zeit, die sich in Permanenz erklärt und aufgetrumpft hätte vor der Ewigkeit mit ihrer traurigen Beschränktheit. Die jeden nicht ganz in ihr Befangenen abergläubisch bemäkelt hätte. Nicht national gesinnt sein erregt bei euch noch mehr Grauen als Haß! Aber die vaterlandslosen Gesellen sind euch auf den Fersen. Dort im Saal, sehen Sie sie?“

Diederich verschüttete seinen Sekt, so schnell fuhr er herum. War denn Napoleon Fischer eingedrungen, mit den Genossen?... Buck lachte stumm und innig. „Bemühen Sie sich nicht, ich meine nur das stille Volk auf den Wänden. Warum scheinen sie so heiter? Was gibt ihnen das Recht auf Blumenwege, leichten Schritt und Harmonie? Ah! Ihr Freunde!“ Über die Tanzenden hinweg schwenkte Buck sein Glas. „Ihr Freunde der Menschheit und jeder guten Zukunft, weitherzig und unbekannt mit der düsteren Selbstsucht eines nationalen Vetternbundes: Weltseelen ihr, kehrt wieder! Selbst unter uns noch erwarten euch einige!“

Er trank aus, Diederich bemerkte mit Verachtung, daß er weinte. Übrigens bekam er sogleich eine schlaue Miene. „Ihr aber, Zeitgenossen, wißt wohl nicht, was der alte Bürgermeister, der da hinten zwischen den Amtspersonen und Schäferinnen rosig lächelt, als Schleife über der Brust trägt? Die Farben sind verblichen; ihr denkt wohl, es sind [pg 341]die euren? Es ist aber die französische Trikolore. Sie war neu damals und nicht die eines Landes, sondern der allgemeinen Morgenröte. Sie zu tragen, war beste Gesinnung; es war, wie ihr sagen würdet, streng korrekt. Prost!“

Aber Diederich war verstohlen mit seinem Stuhl davongerückt und spähte umher, ob niemand höre. „Sie sind ja besoffen,“ murmelte er; und um die Situation zu retten, rief er: „Herr Rose! Noch eine Flasche!“ Darauf setzte er sich achtunggebietend zurecht.

„Sie scheinen nicht daran zu denken, daß seitdem ein Bismarck da war!“

„Nicht nur einer“, sagte Buck. „Von allen Seiten ist Europa in diesen nationalen Durchgang getrieben worden. Nehmen wir an, er war nicht zu vermeiden. Nach ihm werden bessere Gefilde kommen ... Aber seid ihr eurem Bismarck etwa gefolgt, solange er im Recht war? Ihr habt euch zerren lassen, ihr habt mit ihm im Konflikt gelebt. Erst jetzt, da ihr über ihn hinaus sein solltet, hängt ihr euch an seinen kraftlosen Schatten! Denn euer nationaler Stoffwechsel ist entmutigend langsam. Bis ihr begriffen habt, daß ein großer Mann da ist, hat er schon aufgehört, groß zu sein.“

„Sie werden ihn kennenlernen!“ verhieß Diederich. „Blut und Eisen bleibt die wirksamste Kur! Macht geht vor Recht!“ Der Kopf schwoll ihm rot an bei diesen Glaubenssätzen. Aber auch Buck regte sich auf.

„Die Macht! Die Macht läßt sich nicht ewig auf Bajonetten davontragen wie eine aufgespießte Wurst. Die einzige reale Macht ist heute der Friede! Spielt euch die Komödie der Gewalt vor! Prahlt gegen eingebildete Feinde draußen und im Innern! Taten, glücklicherweise, sind euch nicht erlaubt!“

„Nicht erlaubt?“ Diederich blies, als sollte Feuer kom[pg 342]men. „Seine Majestät hat gesagt: Lieber lassen wir unsere gesamten achtzehn Armeekorps und zweiundvierzig Millionen Einwohner auf der Strecke ...“

„Denn wo der deutsche Aar –!“ rief Buck, mit jähem Schwung; und noch wilder: „Nicht Parlamentsbeschlüsse! Die einzige Säule ist das Heer!“

Diederich gab ihm nichts nach. „Ihr seid berufen, mich in erster Linie vor dem äußeren und inneren Feind zu schützen!“

„Einer hochverräterischen Schar zu wehren!“ schrie Buck.

„Eine Rotte von Menschen –“

Diederich fiel ein: „– nicht wert, den Namen Deutsche zu tragen!“

Und beide einstimmig: „Verwandte und Brüder niederschießen!“

Tänzer, die sich am Büfett erfrischten, wurden aufmerksam auf ihr Geschrei, sie holten auch ihre Damen herbei, um ihnen den Anblick eines heldenhaften Rausches zu verschaffen. Sogar die Kartenspieler streckten die Köpfe herein; und alle bestaunten Diederich und seinen Partner, die auf ihren Stühlen schwankend und an den Tisch geklammert mit glasigen Augen und entblößten Gebissen einander starke Worte ins Gesicht schleuderten.

„Einen Feind, und der ist mein Feind!“

„Einer nur ist Herr im Reich, keinen anderen dulde ich!“

„Ich kann sehr unangenehm sein!“

Die Stimmen überschlugen sich.

„Falsche Humanität!“

„Vaterlandslose Feinde der göttlichen Weltordnung!“

„Müssen ausgerottet werden bis auf den letzten Stumpf!“

Eine Flasche flog gegen die Wand.

„Zerschmettere ich!“

„Deutschen Staub!... Pantoffeln!... Herrliche Tage!“

Hier glitt durch die Zuschauer ein Wesen mit verbundenen Augen: Guste Daimchen, die sich auf diese Weise einen Herrn suchen sollte. Von rückwärts betastete sie Diederich und wollte ihn zum Aufstehen bewegen. Er machte sich steif und wiederholte drohend: „Herrliche Tage!“ Sie riß das Tuch herunter, starrte ihn angstvoll an und holte seine Schwestern. Auch Buck sah ein, daß es angezeigt sei, aufzubrechen. Unauffällig stützte er den Freund beim Abgang, konnte aber nicht verhindern, daß Diederich in der Tür sich nochmals umwandte, der tanzenden, gaffenden Menge zu, gebieterisch aufgereckt, wenn auch verglast und ohne Blitzen.

„Zerschmettere ich!“

Dann ward er hinunter und in den Wagen befördert.

Als er gegen Mittag mit schweren Kopfschmerzen das Familienzimmer betrat, war er sehr erstaunt, daß Emmi es entrüstet verließ. Aber Magda brauchte ihm nur einige vorsichtige Andeutungen zu machen, da wußte er schon wieder, um was es sich handelte. „Hab’ ich das wirklich gemacht? Na ja, ich gebe zu, es waren Damen dabei. Es gibt verschiedene Arten, sich als deutscher Mann zu zeigen: bei den Damen ist es wieder eine andere ... Natürlich beeilt man sich in solchem Fall, die Sache in der loyalsten und korrektesten Weise beizulegen.“

Obwohl er kaum aus den Augen sehen konnte, war ihm klar, was zu geschehen hatte. Indes ein zweispänniger Paradewagen herbeigeholt ward, bekleidete er sich mit Gehrock, weißer Krawatte und Zylinder; dann überreichte er dem Kutscher die von Magda aufgesetzte Liste und fuhr los. Überall verlangte er nach den Damen; manche schreckte er vom Mittagessen auf; – und ohne deutlich zu [pg 344]erkennen, ob er Frau Harnisch, Frau Daimchen oder Frau Tietz vor sich habe, sagte er mit rauher Katerstimme her:

„Ich gebe zu ... Als deutscher Mann, bei Damen ... Loyalste und korrekteste Weise ...“

Um halb zwei war er zurück und ließ sich aufseufzend zum Essen nieder. „Die Sache ist beigelegt.“

Der Nachmittag gehörte einer schwierigeren Aufgabe. Diederich ließ Napoleon Fischer hinauf in seine Privatwohnung kommen.

„Herr Fischer,“ sagte er und wies ihm einen Stuhl an, „ich empfange Sie hier und nicht in meinem Bureau, weil den Herrn Sötbier unsere Angelegenheiten nichts angehen. Es betrifft nämlich die Politik.“

Napoleon Fischer nickte, als habe er sich dies schon gedacht. Er schien an solche vertraulichen Unterredungen nunmehr gewöhnt, auf Diederichs ersten Wink griff er sogleich in die Zigarrenkiste; er schlug sogar das Bein über. Diederich war weit weniger sicher; er schnaufte – und dann entschloß er sich, ohne Umschweife, mit brutaler Ehrlichkeit auf sein Ziel loszugehen. Bismarck hatte es auch so gemacht.

„Ich will nämlich Stadtverordneter werden,“ erklärte er, „und dazu brauche ich Sie.“

Der Maschinenmeister warf ihm einen Blick von unten zu. „Ich Sie auch“, sagte er. „Denn ich will auch Stadtverordneter werden.“

„Nanu, na hören Sie mal! Ich war auf manches gefaßt ...“

„Sie hatten wohl schon wieder ein paar Doppelkronen in der Hand?“ – und der Proletarier fletschte die gelben Zähne. Er versteckte sein Grinsen gar nicht mehr. Diederich begriff, daß in Wahlsachen weniger leicht mit ihm zu reden sein werde als über eine geschundene Arbeiterin. [pg 345]„Nämlich, Herr Doktor,“ begann Napoleon, „den einen von den beiden Sitzen hat meine Partei bombensicher. Den anderen kriegen wahrscheinlich die Freisinnigen. Wenn Sie die ’rausschmeißen wollen, brauchen Sie uns.“

„So weit seh’ ich es ein“, sagte Diederich. „Ich habe zwar auch den alten Buck für mich. Aber seine Leute sind vielleicht nicht alle so vertrauensselig, daß sie mich wählen, wenn ich mich als Freisinniger aufstellen lasse. Sicherer ist es, ich vertrage mich auch mit Ihnen.“

„Und ich hab’ auch schon ’ne Ahnung, wieso Sie das machen können“, erklärte Napoleon. „Weil ich nämlich schon längst ’n Auge auf Herrn Doktor habe, ob er nun nicht bald in die politische Arena ’reinsteigt.“

Napoleon blies Ringe, so sehr war er auf der Höhe!

„Ihr Prozeß, Herr Doktor, und dann das mit dem Kriegerverein und so, das war alles ganz schön, als Reklame. Aber für einen Politiker heißt es doch immer: wie viele Stimmen krieg’ ich.“

Napoleon teilte aus dem Schatz seiner Erfahrungen mit! Als er vom „nationalen Rummel“ sprach, wollte Diederich protestieren; aber Napoleon fertigte ihn schnell ab.

„Was wollen Sie denn? Wir in unserer Partei haben gewissermaßen allerhand Achtung vor dem nationalen Rummel. Bessere Geschäfte sind allemal damit zu machen als mit dem Freisinn. Die bürgerliche Demokratie fährt bald in einer einzigen Droschke ab.“

„Und die vermöbeln wir ihr auch noch!“ rief Diederich. Die Bundesgenossen lachten vor Vergnügen. Diederich holte eine Flasche Bier.

„A–ber“, machte der Sozialdemokrat; und er rückte mit seiner Bedingung heraus: ein Gewerkschaftshaus, bei dessen Bau die Partei von der Stadt zu unterstützen war! [pg 346]... Diederich sprang vom Stuhl. „Und das erdreisten Sie sich von einem nationalen Mann zu verlangen?“

Der andere blieb gelassen und ironisch. „Wenn wir dem nationalen Mann nicht helfen, daß er gewählt wird, wo bleibt dann der nationale Mann?“ – Und Diederich mochte sich empören oder um Gnade flehen, er mußte auf ein Blatt Papier schreiben, daß er für das Gewerkschaftshaus nicht nur selbst stimmen, sondern auch die ihm nahestehenden Stadtverordneten bearbeiten werde. Darauf erklärte er barsch die Unterredung für beendet und nahm dem Maschinenmeister die Bierflasche aus der Hand. Aber Napoleon Fischer zwinkerte. Überhaupt dürfe der Herr Doktor froh sein, daß er mit ihm und nicht mit dem Parteibudiker Rille verhandele. Denn Rille, der für seine eigene Wahl agitiere, wäre zu dem Kompromiß nicht zu haben gewesen. Und in der Partei seien die Meinungen geteilt; Diederich habe also allen Grund, in der ihm nahestehenden Presse etwas für die Kandidatur Fischer zu tun. „Wenn fremde Leute, zum Beispiel Rille, sollten die Nase in Ihre Geschichten stecken, Herr Doktor, dafür werden Sie sich wohl bedanken. Bei uns beiden ist es was anderes. Wir haben schon mehr Dreck zusammen verscharrt.“

Damit ging er und überließ Diederich seinen Gefühlen. „Schon mehr Dreck zusammen verscharrt!“ dachte Diederich, und Angstschauer kreuzten sich in ihm mit Wallungen des Zorns. Das durfte der Hund ihm sagen, sein eigener Kuli, den er jeden Augenblick auf die Straße werfen konnte! Vielmehr, leider ging das nicht, denn es war wahr, sie hatten Dreck verscharrt. Der Holländer! Die geschundene Arbeiterin! Eine Vertraulichkeit zog die andere nach sich: jetzt waren Diederich und sein Prolet [pg 347]nicht nur im Betrieb aufeinander angewiesen, sondern auch politisch. Am liebsten hätte Diederich mit dem Parteibudiker Rille angebunden; aber dann war zu fürchten, daß Napoleon Fischer in seiner Rachsucht auspackte, was er wußte. Diederich sah sich genötigt, ihm auch noch gegen Rille zu helfen. „Aber“ – er schüttelte die Faust gegen die Zimmerdecke – „wir sprechen uns wieder. Und wenn es zehn Jahre dauert, die Abrechnung kommt!“

Hiernach oblag es ihm, dem alten Herrn Buck einen Besuch zu machen und sein biedermännisches und schöngeistiges Gerede mit Ergebenheit anzuhören. Dafür ward er Kandidat der freisinnigen Partei ... In der „Netziger Zeitung“, die in einem warmen Artikel Herrn Doktor Heßling als Mensch, Bürger und Politiker den Wählern empfahl, ward gleich darunter, wenn auch in kleinerem Druck, die Aufstellung des Arbeiters Fischer scharf beanstandet. Die sozialdemokratische Partei verfügte, man mußte es leider zugeben, über genug selbständige Gewerbetreibende, sie brauchte den bürgerlichen Stadtverordneten nicht den kollegialen Verkehr mit einem gewöhnlichen Arbeiter zuzumuten. Sollte insbesondere Herr Doktor Heßling im Schoße der städtischen Körperschaft seinem eigenen Maschinenmeister begegnen?

Dieser Ausfall des bürgerlichen Blattes stellte unter den Sozialdemokraten volle Einmütigkeit her; sogar Rille mußte sich für Napoleon erklären, – der mit Glanz durch das Ziel ging. Diederich bekam von der Partei, die ihn aufstellte, nur die Hälfte der Stimmen, aber ihn retteten die Genossen. Die beiden Gewählten wurden gemeinsam in die Versammlung eingeführt. Bürgermeister Doktor Scheffelweis beglückwünschte sie, mit dem Hinweis, daß einerseits der tätige Bürger, andererseits der empor[pg 348]strebende Arbeiter –. Und schon in der nächsten Sitzung griff Diederich in die Verhandlungen ein.

Zur Debatte stand die Kanalisation der Gäbbelchenstraße. Eine beträchtliche Anzahl jener alten Vorstadthäuser befand sich noch heute, am Ende des neunzehnten Jahrhunderts, im wenig rühmlichen Besitz von Abortgruben, deren Ausdünstungen zuzeiten die ganze Gegend überschwemmten. Bei seinem Besuch im „Grünen Engel“ hatte Diederich die Wahrnehmung gemacht. So wandte er sich denn mit Nachdruck gegen die finanztechnischen Bedenken des Magistratsvertreters. Eine Forderung der Kulturehre dürfe kleinlichen Rücksichten nicht weichen. „Deutschtum heißt Kultur!“ rief Diederich aus. „Meine Herren! Das hat kein Geringerer gesagt als Seine Majestät der Kaiser. Und bei anderer Gelegenheit hat Seine Majestät das Wort gesprochen: Die Schweinerei muß ein Ende nehmen. Wo nur immer großzügig vorgegangen wird, da leuchtet uns das erhabene Beispiel Seiner Majestät voran, und darum, meine Herren –“

„Hurra!“ rief eine Stimme links, und Diederich begegnete dem Grinsen Napoleon Fischers. Da reckte er sich auf, er blitzte.

„Sehr richtig!“ versetzte er schneidend. „Ich kann nicht besser schließen. Seine Majestät der Kaiser hurra, hurra, hurra!“

Verblüfftes Schweigen, – aber da die Sozialdemokraten lachten, riefen rechts einige hurra. Doktor Heuteufel warf die Frage dazwischen, ob der merkwürdige Zusammenhang, in den Herr Doktor Heßling die Person des Kaisers gebracht habe, nicht eigentlich eine Majestätsbeleidigung darstelle. Aber der Vorsitzende klingelte schnell. In der Presse jedoch ward weiter debattiert. Die [pg 349]„Volksstimme“ behauptete, Herr Heßling trage in die Stadtverordnetenversammlung den Geist des übelsten Byzantinismus, wohingegen die „Netziger Zeitung“ seine Rede als die erfrischende Tat eines unbefangenen Patrioten bezeichnete. Daß es sich aber um einen wahrhaft bedeutsamen Vorgang handelte, ward erst klar, als es im „Berliner Lokal-Anzeiger“ stand. Das Blatt Seiner Majestät war über das mutige Auftreten des Netziger Stadtverordneten Doktor Heßling des Lobes voll. Es stellte mit Genugtuung fest, daß der neue, entschlossen nationale Geist, für den der Kaiser eintrete, nunmehr auch im Lande Fortschritte mache. Die kaiserliche Mahnung werde befolgt, der Bürger erwache aus dem Schlummer, die Scheidung zwischen denen für ihn und denen wider ihn vollziehe sich. „Möchten viele wackere Vertreter unserer Städte dem Beispiel des Doktor Heßling folgen!“

Diese Nummer des Lokal-Anzeigers trug Diederich schon acht Tage lang auf dem Herzen, da schlich er sich um die stillste Vormittagsstunde, unter Vermeidung der Kaiser-Wilhelm-Straße, von rückwärts in die Bierstube von Klappsch, wo er Gesellschaft fand: Napoleon Fischer und der Parteiwirt Rille. Obwohl das Lokal ganz leer war, zogen die drei sich in den äußersten Winkel zurück; Fräulein Klappsch ward, kaum daß sie das Bier gebracht hatte, hinausgeschickt; und Klappsch selbst, der an der Tür horchte, hörte nur tuscheln. Er versuchte die Klappe zu Hilfe zu nehmen, durch die er bei stärkerem Besuch die Gläser hineinreichte; aber Rille, der damit Bescheid wußte, schlug sie ihm vor der Nase zu. Immerhin hatte der Wirt bemerkt, daß Doktor Heßling aufgesprungen war und im Begriff schien, wegzugehen. Dazu werde er als nationaler Mann niemals die Hand bieten!... Später aber wollte Fräulein [pg 350]Klappsch, die zum Zahlen gerufen ward, doch ein Papier gesehen haben, das von allen drei unterschrieben war.

Gesammelte Werke

Подняться наверх