Читать книгу Gesammelte Werke - Heinrich Mann - Страница 28

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Aber während er, den Kopf in den Händen, dasaß, kam der Wahltag herbei. Erfüllt von der Eitelkeit der Dinge, hatte Diederich von allem, was vorging, nichts mehr sehen [pg 431]wollen, auch nicht, daß die Miene seines Maschinenmeisters immer feindlicher ward. Am Sonntag der Wahl, frühmorgens, als Diederich noch im Bett lag, trat Napoleon Fischer bei ihm ein. Ohne sich im geringsten zu entschuldigen, begann er: „Ein ernstes Wort in letzter Stunde, Herr Doktor!“ Diesmal war er es, der Verrat witterte und sich auf den Pakt berief. „Ihre Politik, Herr Doktor, hat ein doppeltes Gesicht. Uns haben Sie Versprechungen gemacht, und loyal, wie wir sind, haben wir gegen Sie nicht agitiert, sondern bloß gegen den Freisinn.“

„Wir auch“, behauptete Diederich.

„Das glauben Sie selbst nicht. Sie haben sich bei Heuteufel angebiedert. Er hat Ihnen Ihr Denkmal schon bewilligt. Wenn Sie nicht gleich heute mit fliegenden Fahnen zu ihm übergehen, dann tun Sie es sicher bei der Stichwahl und treiben schnöden Volksverrat.“

Napoleon Fischer tat, die Arme verschränkt, noch einen langen Schritt auf das Bett zu. „Sie sollen bloß wissen, Herr Doktor, daß wir die Augen offen halten.“

Diederich sah sich in seinem Bett hilflos dem politischen Gegner ausgeliefert. Er suchte ihn zu besänftigen. „Ich weiß, Fischer, Sie sind ein großer Politiker. Sie sollten in den Reichstag kommen.“

„Stimmt.“ Napoleon blinzte von unten. „Denn wenn ich nicht hineinkomme, dann geht in Netzig in mehreren Betrieben ein Streik los. Einen von den Betrieben kennen Sie ziemlich genau, Herr Doktor.“ Er machte kehrt. Von der Tür her faßte er Diederich, der vor Schreck ganz in die Federn gerutscht war, nochmals ins Auge. „Und darum hoch die internationale Sozialdemokratie!“ rief er und ging ab.

Diederich rief aus seinen Federn: „Seine Majestät, der Kaiser hurra!“ Dann aber blieb nichts übrig, als [pg 432]der Lage ins Gesicht zu sehen. Sie sah drohend genug aus. Schwer von Ahnungen eilte er auf die Straße, in den Kriegerverein, zu Klappsch, und überall mußte er erkennen, daß in den Tagen seiner Mutlosigkeit die tückische Taktik des alten Buck weitere Erfolge zu verzeichnen gehabt hatte. Die Partei des Kaisers war verwässert durch Zulauf aus den Reihen des Freisinns und der Abstand Kunzes von Heuteufel unbeträchtlich gegen die Kluft zwischen ihm und Napoleon Fischer. Pastor Zillich, der mit seinem Schwager Heuteufel einen verschämten Gruß austauschte, erklärte, daß die Partei des Kaisers mit ihrem Erfolg zufrieden sein dürfe, denn sicher habe sie dem Kandidaten des Freisinns, wenn er schließlich siege, das nationale Gewissen gestärkt. Da Professor Kühnchen sich ähnlich äußerte, war der Verdacht nicht von der Hand zu weisen, daß ihnen die von Diederich und Wulckow erpreßten Versprechungen noch nicht genügten, und daß sie sich durch weitere persönliche Vorteile vom alten Buck hatten gewinnen lassen. Der Korruption des demokratischen Klüngels war alles zuzutrauen! Was Kunze betraf, so wollte er auf jeden Fall selbst gewählt werden, notfalls mit Hilfe der Freisinnigen. Ihn hatte sein Ehrgeiz korrumpiert, er hatte ihn schon dahin gebracht, zu versprechen, daß er für das Säuglingsheim eintreten werde! Diederich entrüstete sich; Heuteufel sei hundertmal schlimmer als irgendein Prolet; und er spielte auf die düsteren Folgen an, die eine so unpatriotische Haltung haben müsse. Leider durfte er nicht deutlicher werden – und vor sich das Bild des Streiks, im Herzen schon die Trümmer des Kaiser-Wilhelm-Denkmals, Gausenfelds, aller seiner Träume, lief er im Regen umher zwischen den Wahllokalen und schleppte gutgesinnte Wähler herbei, [pg 433]im vollen Bewußtsein, daß ihre Kaisertreue den Weg verfehlte und den schlimmsten Feinden des Kaisers helfe. Abends bei Klappsch, kotbespritzt bis an den Hals und fiebrig entrückt durch den Lärm des langen Tages, durch das viele Bier und das Nahen der Entscheidung, vernahm er das Ergebnis: gegen achttausend Stimmen für Heuteufel, sechstausend und einige für Napoleon Fischer, Kunze aber hatte dreitausendsechshundertzweiundsiebzig. Stichwahl zwischen Heuteufel und Fischer. „Hurra!“ schrie Diederich, denn nichts war verloren und Zeit war gewonnen.

Mit starkem Schritt ging er von dannen, den Schwur im Herzen, daß er fortan das Äußerste tun werde, um die nationale Sache noch zu retten. Es eilte, denn Pastor Zillich hätte am liebsten sofort alle Mauern mit Zetteln bedeckt, die den Anhängern der Partei des Kaisers empfahlen, in der Stichwahl für Heuteufel zu stimmen. Kunze freilich gab sich der eitlen Hoffnung hin, Heuteufel werde ihm zu Gefallen zurücktreten. Welche Verblendung! Gleich am Morgen las man die weißen Zettel, auf denen der Freisinn heuchlerisch erklärte, national sei auch er, die nationale Gesinnung sei nicht das Privileg einer Minderheit, und darum –. Der Trick des alten Buck enthüllte sich vollends; wenn nicht die ganze Partei des Kaisers in den Schoß des Freisinns zurückkehren sollte, hieß es handeln. Mächtig von Energie gespannt, traf Diederich von seinen Erkundigungen heimkehrend, im Hausflur auf Emmi, die einen Schleier vor dem Gesicht hatte und sich bewegte, als sei alles gleich. „Danke,“ dachte er, „es ist durchaus nicht gleich. Wohin kämen wir.“ Und er grüßte Emmi verstohlen und mit einer Art von Scheu.

Er zog sich in sein Bureau zurück, aus dem der alte Sötbier verschwunden war und wo nun Diederich, sein eigener [pg 434]Prokurist und nur seinem Gott verantwortlich, seine folgenschweren Entschlüsse faßte. Er trat zum Telephon, er verlangte Gausenfeld. Da ging die Tür auf, der Briefträger legte seinen Packen hin, und Diederich sah obenauf: Gausenfeld. Er hängte wieder ein, er betrachtete, nickend wie das Schicksal, den Brief. Schon gemacht. Der Alte hatte ohne Worte begriffen, daß er seinen Freunden Buck und Konsorten kein Geld mehr geben dürfe, und daß man nötigenfalls imstande sei, ihn persönlich verantwortlich zu machen. Gelassen zerriß Diederich den Umschlag – aber nach zwei Zeilen las er fliegend. Was für eine Überraschung! Klüsing wollte verkaufen! Er war alt, er sah seinen natürlichen Nachfolger in Diederich!

Was hieß dies? Diederich setzte sich in die Ecke und dachte tief. Es hieß vor allem, daß Wulckow schon eingegriffen hatte. Der Alte war in blasser Angst wegen der Regierungsaufträge, und der Streik, mit dem Napoleon Fischer drohte, gab ihm den Rest. Wo war die Zeit, als er sich aus der Klemme zu ziehen glaubte, wenn er Diederich einen Teil des Papiers für die „Netziger Zeitung“ anbot. Jetzt bot er ihm ganz Gausenfeld an! „Man ist eine Macht“, stellte Diederich fest – und es ging ihm auf, daß Klüsings Zumutung, die Fabrik zu kaufen und richtig nach ihrem Wert zu bezahlen, wie die Dinge lagen, einfach lächerlich sei. Worauf er wirklich laut lachte ... Da nahm er wahr, daß am Schlusse des Briefes, nach der Unterschrift, noch etwas stand, ein Zusatz, kleiner geschrieben als das übrige und so unscheinbar, daß Diederich ihn vorhin übersehen hatte. Er entzifferte – und der Mund ging ihm von selbst auf. Plötzlich tat er einen Sprung. „Na also!“ rief er frohlockend durch sein einsames Bureau. „Da haben wir sie!“ Hierauf bemerkte [pg 435]er tiefernst: „Es ist schauerlich. Ein Abgrund.“ Er las noch einmal, Wort für Wort, den verhängnisvollen Zusatz, legte den Brief in den Geldschrank und schloß mit hartem Griff. Dort innen schlummerte nun das Gift für Buck und die Seinen – geliefert von ihrem Freund. Nicht nur, daß Klüsing sie nicht mehr mit Geld versah, er verriet sie auch. Aber sie hatten es verdient, das konnte man sagen; eine solche Verderbnis hatte wahrscheinlich selbst Klüsing angeekelt. Wer da noch Schonung übte, machte sich mitschuldig. Diederich prüfte sich. „Schonung wäre geradezu ein Verbrechen. Sehe jeder, wo er bleibe! Hier heißt es rücksichtslos vorgehen. Dem Geschwür die Maske herunterreißen und es mit eisernem Besen auskehren! Ich übernehme es im Interesse des öffentlichen Wohles, meine Pflicht als nationaler Mann schreibt es mir vor. Es ist nun mal eine harte Zeit!“

Den Abend darauf war eine große öffentliche Volksversammlung, einberufen vom freisinnigen Wahlkomitee in den Riesensaal der „Walhalla“. Mit der regen Hilfe Gottlieb Hornungs hatte Diederich Vorsorge getroffen, daß die Wähler Heuteufels keineswegs unter sich blieben. Er selbst fand es unnütz, die Programmrede des Kandidaten mit anzuhören; er ging hin, als schon die Diskussion begonnen haben mußte. Gleich im Vorraum stieß er auf Kunze, der in übler Verfassung war. „Ausrangierter Schlagetot!“ rief er. „Sehen Sie mich an, Herr, und sagen Sie mir, ob so ein Mann aussieht, der sich das sagen läßt!“ Da er vor Aufregung sich nicht weiter erklären konnte, löste Kühnchen ihn ab. „Zu mir hätte Heuteufel das sagen sollen!“ schrie er. „Da hätte er nun aber Kühnchen kennengelernt!“ Diederich empfahl dem Major dringend, seinen Gegner zu verklagen. Aber Kunze [pg 436]brauchte keinen Ansporn mehr, er vermaß sich, Heuteufel ganz einfach in die Pfanne zu hauen. Auch dies war Diederich recht, und er stimmte lebhaft zu, als Kunze erkennen ließ, daß er unter diesen Umständen lieber mit dem ärgsten Umsturz gehe als mit dem Freisinn. Hiergegen äußerten Kühnchen und auch Pastor Zillich, der hinzukam, ihre Bedenken. Die Reichsfeinde – und die Partei des Kaisers! „Bestochene Feiglinge!“ sagte Diederichs Blick – indes der Major fortfuhr, Rache zu schnauben. Blutige Tränen sollte die Bande weinen! „Und zwar noch heute abend“, verhieß darauf Diederich mit einer so eisernen Bestimmtheit, daß alle stutzten. Er machte eine Pause und blitzte jeden einzeln an. „Was würden Sie sagen, Herr Pastor, wenn ich Ihren Freunden vom Freisinn gewisse Machenschaften nachwiese ...“ Pastor Zillich war erbleicht, Diederich ging zu Kühnchen über. „Betrügerische Manipulationen mit öffentlichen Geldern ...“ Kühnchen hüpfte. „Nu leg’ sich eener lang hin!“ rief er schreckensvoll. Kunze aber brüllte auf. „An mein Herz!“ und er riß Diederich in seine Arme. „Ich bin ein schlichter Soldat“, versicherte er. „Die Schale mag rauh sein, aber der Kern ist echt. Beweisen Sie den Kanaillen ihre Schurkerei, und Major Kunze ist Ihr Freund, als ob Sie mit ihm im Feuer gestanden hätten bei Marslatuhr!“

Der Major hatte Tränen in den Augen, Diederich auch. Und so hochgespannt wie ihre beiden Seelen war die Stimmung im Saal. Der Eintretende sah überall Arme in die Luft fahren, die aus blauem Dunst bestand, und hier und dort schrie eine Brust: „Pfui!“ „Sehr richtig!“ oder „Gemeinheit!“ Der Wahlkampf war auf der Höhe, Diederich stürzte sich hinein, mit unerhörter Erbitterung, denn vor dem Bureau, das der alte Buck in Person leitete, [pg 437]wer stand am Rand der Bühne und redete? Sötbier, Diederichs entlassener Prokurist! Aus Rache hielt Sötbier eine Hetzrede, worin er über die Arbeiterfreundlichkeit gewisser Herren auf das abfälligste urteilte. Sie sei nichts als ein demagogischer Kniff, womit man, um gewisser persönlicher Vorteile willen, das Bürgertum spalten und dem Umsturz Wähler zutreiben wolle. Früher habe der Betreffende im Gegenteil gesagt: Wer Knecht ist, soll Knecht bleiben. „Pfui!“ riefen die Organisierten. Diederich stieß um sich, bis er unter der Bühne stand. „Gemeine Verleumdung!“ schrie er Sötbier ins Gesicht. „Schämen Sie sich, seit Ihrer Entlassung sind Sie unter die Nörgler gegangen!“ Der von Kunze kommandierte Kriegerverein brüllte wie ein Mann: „Gemeinheit!“ und „Hört, hört!“ – indes die Organisierten pfiffen und Sötbier eine zitterige Faust machte gegen Diederich, der ihm drohte, er werde ihn einsperren lassen. Da erhob der alte Buck sich und klingelte.

Als man wieder hören konnte, sagte er mit weicher Stimme, die anschwoll und erwärmte: „Mitbürger! Wollt doch dem persönlichen Ehrgeiz einzelner nicht Nahrung gewähren, indem ihr ihn ernst nehmt! Was sind hier Personen? Was selbst Klassen? Es geht um das Volk, dazu gehören alle, nur die Herren nicht. Wir müssen zusammenhalten, wir Bürger dürfen nicht immer aufs neue den Fehler begehen, der schon in meiner Jugend begangen wurde, daß wir unser Heil den Bajonetten anvertrauen, sobald auch die Arbeiter ihr Recht wollen. Daß wir den Arbeitern niemals ihr Recht geben wollten, das hat den Herren die Macht verschafft, auch uns das unsere zu nehmen.“

„Sehr wahr!“

„Das Volk, wir alle haben angesichts der uns abgeforderten Heeresvermehrung die vielleicht letzte Gelegenheit, unsere Freiheit zu behaupten gegen Herren, die uns nur noch rüsten, damit wir unfrei sind. Wer Knecht ist, soll Knecht bleiben, das wird nicht nur euch Arbeitern gesagt: das sagen die Herren, deren Macht wir immer teurer bezahlen sollen, uns allen!“

„Sehr wahr! Bravo! Keinen Mann und keinen Groschen!“ Inmitten bewegter Zustimmung setzte der alte Buck sich. Diederich, dem äußersten Kampf nahe und im voraus schweißtriefend, sandte noch einen Blick durch den Saal und bemerkte Gottlieb Hornung, der die Lieferanten des Kaiser-Wilhelm-Denkmals befehligte. Pastor Zillich bewegte sich unter den christlichen Jünglingen, der Kriegerverein war um Kunze geschart: da zog Diederich blank. „Der Erbfeind erhebt wieder mal das Haupt!“ schrie er mit Todesverachtung. „Ein Vaterlandsverräter, wer unserem herrlichen Kaiser versagt, was er“ – „Hu, hu!“ riefen die Vaterlandsverräter; aber Diederich, unter den Beifallssalven der Gutgesinnten, schrie weiter, wenn ihm auch die Stimme überschnappte. „Ein französischer General hat Revanche verlangt!“ Vom Bureau her fragte jemand: „Wieviel hat er aus Berlin dafür bekommen?“ Worauf man lachte – indes Diederich mit den Armen hinaufgriff, als wollte er in die Luft steigen. „Schimmernde Wehr! Blut und Eisen! Mannhafte Ideale! Starkes Kaisertum!“ Seine Kraftworte stießen rasselnd aneinander, umlärmt vom Getöse der Gutgesinnten. „Festes Regiment! Bollwerk gegen die Schlammflut der Demokratie!“

„Ihr Bollwerk heißt Wulckow!“ rief wieder die Stimme vom Bureau. Diederich fuhr herum, er erkannte Heuteufel. „Wollen Sie sagen, die Regierung Seiner Majestät –?“

„Auch ein Bollwerk!“ sagte Heuteufel. Diederich reckte den Finger nach ihm. „Sie haben den Kaiser beleidigt!“ rief er mit äußerster Schneidigkeit. Aber hinter ihm kreischte jemand: „Spitzel!“ Es war Napoleon Fischer, und seine Genossen wiederholten es aus rauhen Kehlen. Sie waren aufgesprungen, sie umringten Diederich in unglückverheißender Weise. „Er provoziert schon wieder! Er will noch einen ins Loch bringen! ’raus!“ Und Diederich ward angepackt. Angstverzerrt wand er den Hals, den schwielige Fäuste beengten, nach dem Vorsitzenden hin und flehte erstickt um Hilfe. Der alte Buck gewährte sie ihm, er klingelte anhaltend, und er schickte sogar einige junge Leute aus, damit sie Diederich von seinen Feinden erretteten. Kaum daß er sich rühren konnte, schwang Diederich den Finger gegen den alten Buck. „Die demokratische Korruption!“ schrie er, tanzend vor Leidenschaft. „Ich will sie ihm beweisen!“ „Bravo! Reden lassen!“ – und das Lager der nationalen Männer setzte sich in Bewegung, überrannte die Tische und maß sich Aug’ in Auge mit dem Umsturz. Ein Handgemenge schien bevorzustehen: schon faßte der Polizeileutnant dort oben seinen Helm an, um sich damit zu bedecken; es war ein kritischer Moment – da hörte man von der Bühne herab befehlen: „Ruhe! Er soll sprechen!“ Und es ward fast still, man hatte einen Zorn vernommen, größer als irgendeiner hier. Der alte Buck, heraufgewachsen hinter seinem Tisch dort oben, war kein würdiger Greis mehr, er schien schlanker vor Kraft, vom Haß war er bleich, und einen Blick schnellte er gegen Diederich: der Atem stockte einem.

„Er soll sprechen!“ wiederholte der Alte. „Auch Verräter haben das Wort, bevor sie abgeurteilt werden. So sehen die Verräter an der Nation aus. Sie haben sich [pg 440]nur äußerlich verändert seit den Zeiten, da mein Geschlecht kämpfte, fiel, ins Gefängnis und auf die Richtstätte ging.“

„Haha“, machte hier Gottlieb Hornung, voll überlegenen Spottes. Zu seinem Unglück saß er im Armbereich eines starken Arbeiters, der so furchtbar nach ihm ausholte, daß Hornung, noch bevor der Schlag ihn traf, umfiel mitsamt seinem Stuhl.

„Schon damals“, rief der Alte, „gab es solche, die statt der Ehre den Nutzen wählten und denen keine Herrschaft demütigend schien, wenn sie sie bereicherte. Der sklavische Materialismus, Frucht und Mittel jeder Tyrannei, er war es, dem wir unterlagen, und auch ihr, Mitbürger –“

Der Alte breitete die Arme aus, er spannte sich zu dem letzten Schrei seines Gewissens.

„Mitbürger, auch ihr lauft heute Gefahr, von ihm verraten und seine Beute zu werden! Dieser Mensch soll sprechen.“

„Nein!“

„Er soll sprechen. Dann aber fragt ihn, wieviel eine Gesinnung, die national zu nennen er die Stirn hat, in barem Gelde beträgt. Fragt ihn, wem er sein Haus verkauft hat, zu welchem Zweck und mit welchem Nutzen!“

„Wulckow!“ Der Ruf kam von der Bühne, aber der Saal nahm ihn auf. Diederich, gebieterische Fäuste hinter sich, gelangte nicht ganz freiwillig die Stufen zur Bühne hinauf. Dort sah er ratsuchend umher: der alte Buck saß regungslos, die Hand geballt auf dem Knie und ließ ihn nicht aus dem Auge; Heuteufel, Cohn, alle Herren des Bureaus erwarteten mit kalter Gier im Gesicht seinen Zusammenbruch; und „Wulckow!“ rief der Saal ihm zu, „Wulckow!“ Er stammelte etwas von Verleumdung, das Herz flog ihm, einen Augenblick schloß er die Augen, in der Hoffnung, er werde umfallen und der Sache über[pg 441]hoben sein. Aber er fiel nicht um – und als nichts anderes mehr möglich war, kam ihm ein ungeheurer Mut. Er griff an seine Brusttasche, seiner Waffe sicher, und er maß kampfesfreudig den Feind, jenen tückischen Alten, der nun endlich die Maske des väterlichen Gönners verloren hatte und seinen Haß bekannte. Diederich blitzte ihn an, er stieß vor ihm beide Fäuste gegen den Boden. Dann trat er kraftvoll vor den Saal her.

„Wollen Sie was verdienen?“ brüllte er wie ein Ausrufer in den Tumult – und es ward still, wie auf ein Zauberwort. „Jeder kann bei mir verdienen!“ brüllte Diederich; mit unverminderter Gewalt. „Jedem, der mir nachweist, wieviel ich am Verkauf meines Hauses verdient habe, zahle ich ebensoviel!“

Hierauf schien niemand gefaßt. Die Lieferanten zuerst riefen „Bravo“, dann entschlossen sich auch die Christen und die Krieger, aber ohne rechte Zuversicht, denn es ward wieder „Wulckow!“ gerufen, noch dazu nach dem Takt von Biergläsern, die man auf die Tische stieß. Diederich erkannte, daß dies ein vorbereiteter Streich war, der nicht nur ihm, sondern weit höheren Mächten galt. Er sah sich unruhig um, und wirklich zückte der Polizeileutnant schon wieder den Helm. Diederich bedeutete ihm mit der Hand, daß er es schon machen werde, und er brüllte:

„Nicht Wulckow, ganz andere Leute! Das freisinnige Säuglingsheim! Dafür hätte ich mein Haus hergeben sollen, das ist mir nahegelegt worden, ich kann es beschwören. Ich als nationaler Mann habe mich energisch gewehrt gegen die Zumutung, die Stadt zu betrügen und den Raub zu teilen mit einem gewissenlosen Magistratsrat!“

„Sie lügen!“ rief der alte Buck und stand flammend da. Aber Diederich flammte noch höher, im Vollgefühl seines [pg 442]Rechtes und seiner sittlichen Sendung. Er griff in die Brusttasche, und vor dem tausendköpfigen Drachen dort unten, der ihn anspritzte: „Lügner! Schwindler!“ schwenkte er furchtlos seinen Schein. „Beweis!“ brüllte er und schwenkte so lange, bis sie hörten.

„Bei mir ist es nicht geglückt, aber in Gausenfeld. Jawohl, Mitbürger! In Gausenfeld ... Wieso? Gleich. Zwei Herren von der freisinnigen Partei sind beim Besitzer gewesen und haben das Vorkaufsrecht verlangt auf ein gewisses Terrain, für den Fall, daß das Säuglingsheim dorthin kommt.“

„Namen! Namen!“

Diederich schlug sich auf die Brust, auch zum letzten bereit. Klüsing hatte ihm alles verraten, nur nicht die Namen. Blitzend faßte er die Herren des Vorstandes ins Auge; einer schien zu erbleichen. „Wer wagt, gewinnt“, dachte Diederich, und er brüllte:

„Der eine ist Herr Warenhausbesitzer Cohn!“

Und er trat ab, mit der Miene erfüllter Pflicht. Drunten nahm Kunze ihn entgegen und küßte ihn selbstvergessen rechts und links ins Gesicht, wozu die Nationalgesinnten klatschten. Die anderen schrien: „Beweis!“ oder „Schwindel!“ Aber „Cohn soll reden!“, das wollten alle, Cohn konnte sich den Anforderungen unmöglich entziehen. Der alte Buck sah ihn an, starr, mit einem sichtbaren Zittern der Wangen; und dann erteilte er ihm von selbst das Wort. Cohn, von Heuteufel mit einem Stoß versehen, kam ohne rechte Überzeugung hinter dem langen Tisch des Komitees hervor, schleppte die Füße nach und hatte ungünstig gewirkt, noch bevor er anfing. Er lächelte entschuldigend. „Meine Herren, das werden Sie dem Herrn Vorredner doch nicht glauben,“ sagte er so sanft, daß fast [pg 443]niemand es verstand. Dennoch meinte Cohn schon zu weit gegangen zu sein. „Ich will den Herrn Vorredner nicht geradezu dementieren, aber so war es denn doch nicht.“

„Aha! Er gibt es zu!“ – und jäh brach ein Aufruhr los, daß Cohn, auf nichts vorbereitet, einen Sprung rückwärts tat. Der Saal war nur noch ein Fuchteln und Schäumen. Schon fielen da und dort Gegner übereinander her. „Hurra!“ kreischte Kühnchen und sauste durch die Reihen mit flatterndem Haar, die Fäuste geschwungen, anfeuernd zur Metzelei ... Auch auf der Bühne war alles auf den Beinen, außer dem Polizeileutnant. Der alte Buck hatte den Platz des Vorsitzenden verlassen, und abgekehrt von dem Volk, über das der letzte Schrei seines Gewissens vergebens hingegangen war, abseits und allein, richtete er die Augen dorthin, wo niemand sah, daß sie weinten. Heuteufel sprach entrüstet auf den Polizeileutnant ein, der sich von seinem Stuhl nicht rührte, ward aber darüber belehrt, daß der Beamte allein entscheide, ob und wann er auflöse. Es brauchte nicht gerade in dem Augenblick zu geschehen, wo es für den Freisinn schlecht stand! Worauf Heuteufel zum Tisch ging und die Glocke führte. Dazu schrie er: „Der zweite Name!“ Und da alle Herren auf der Bühne mitschrien, hörte man es endlich und Heuteufel konnte fortfahren.

„Der zweite, der in Gausenfeld war, ist Herr Landgerichtsrat Kühlemann! Stimmt. Kühlemann selbst. Derselbe Kühlemann, aus dessen Nachlaß das Säuglingsheim gebaut werden soll. Will jemand behaupten, Kühlemann bestiehlt seinen eigenen Nachlaß? Na also!“ – und Heuteufel zuckte die Achseln, woraus beifällig gelacht ward. Nicht lange; die Leidenschaften pfauchten schon wieder. „Beweise! Kühlemann soll selbst reden! [pg 444]Diebe!“ Herr Kühlemann sei schwerkrank, erklärte Heuteufel. Man werde hinschicken, man telephoniere schon. „Auweh“, raunte Kunze seinem Freunde Diederich zu. „Wenn Kühlemann es war, sind wir fertig und können einpacken.“ „Noch lange nicht!“ verhieß Diederich, tollkühn. Pastor Zillich seinerseits setzte seine Hoffnung nur mehr auf den Finger Gottes. Diederich in seiner Tollkühnheit sagte: „Brauchen wir gar nicht!“ – und er machte sich über einen Zweifler her, dem er zuredete. Die Gutgesinnten reizte er zu entschiedener Stellungnahme, ja, er drückte Sozialdemokraten die Hand, um ihren Haß gegen die bürgerliche Korruption zu verstärken – und überall hielt er den Leuten Klüsings Brief vor die Augen. Er schlug so heftig mit dem Handrücken auf das Papier, daß niemand lesen konnte, und rief: „Steht da Kühlemann? Da steht Buck! Wenn Kühlemann noch japsen kann, wird er zugeben müssen, daß er es nicht war. Buck war es!“

Dabei überwachte er dennoch die Bühne, wo es merkwürdig still geworden war. Die Herren des Komitees liefen durcheinander, aber sie flüsterten nur. Den alten Buck sah man nicht mehr. „Was ist los?“ Auch im Saal ward es ruhiger, noch wußte man nicht, warum. Plötzlich hieß es: „Kühlemann soll tot sein.“ Diederich fühlte es mehr, als daß er es hörte. Er gab es plötzlich auf, zu reden und sich abzuarbeiten. Vor Spannung schnitt er Gesichter. Wenn jemand ihn fragte, antwortete er nicht, er vernahm ringsum ein wesenloses Gewirr von Lauten und wußte nicht mehr deutlich, wo er war. Dann kam aber Gottlieb Hornung und sagte: „Er ist weiß Gott tot. Ich war oben, sie haben telephoniert. Im Moment ist er gestorben.“

„Im richtigen Moment“, sagte Diederich und sah sich [pg 445]um, erstaunt, als erwachte er. „Der Finger Gottes hat sich wieder mal bewährt“, stellte Pastor Zillich fest, und Diederich ward sich bewußt, daß dieser Finger doch nicht zu verachten war. Wie, wenn er dem Schicksal einen anderen Lauf angewiesen hätte?... Die Parteien im Saale lösten sich auf; das Eingreifen des Todes in die Politik machte aus den Parteien Leute; sie sprachen gedämpft und verzogen sich. Als er schon draußen war, erfuhr Diederich noch, der alte Buck habe eine Ohnmacht erlitten.

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