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VI.

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Herr und Frau Doktor Heßling aus Netzig sahen einander stumm an im Lift des Züricher Hotels, denn man fuhr sie in den vierten Stock. Dies war das Ergebnis des Blickes, den der Geschäftsführer schnell und schonend über sie hingeführt hatte. Diederich füllte gehorsam den Meldezettel aus; erst als der Oberkellner fort war, äußerte er seine Entrüstung über den Betrieb hier und über Zürich. Sie ward immer lauter und verdichtete sich zu dem Vorsatz, an Baedeker zu schreiben. Da diese Vergeltung indes zu wenig greifbar schien, machte er kehrt gegen Guste: ihr Hut sei schuld. Guste wieder schob es auf Diederichs Hohenzollernmantel. So stürzten sie denn zum Lunch mit hochroten Köpfen. An der Tür machten sie halt und schnauften unter den Blicken der Gäste, Diederich im Smoking, Guste aber mit einem Hut, der Bänder, Federn und Schnalle, alles auf einmal, hatte und der unzweifelhaft in die Beletage gehörte. Ihr Bekannter, der Oberkellner, führte sie im Triumph zu ihren Plätzen.

Mit Zürich und auch mit dem Hotel versöhnten sie sich am Abend. Denn erstens war das Zimmer im vierten Stock nicht ehrenvoll, aber billig; und dann hing gerade gegenüber den Betten des Ehepaares eine fast lebensgroße Odaliske, der bräunliche Leib hinschwellend auf üppigem Polster, mit den Händen unter dem Kopf, feuchtes Schmachten im schwarzen Spalt der Augen. In der Mitte war sie von dem Rahmen zerschnitten, was dem Ehepaar Anlaß zu Scherzen gab. Am nächsten Tage gingen sie umher mit Blei in den Lidern, verschlangen [pg 388]riesige Mahlzeiten und fragten sich nur, was erst geschehen wäre, wenn die Odaliske nicht in der Mitte zerschnitten, sondern ganz gewesen wäre. Aus Müdigkeit versäumten sie den Zug und kehrten am Abend, so früh wie möglich, in ihr billiges und aufreibendes Zimmer zurück. Ein Ende dieser Art zu leben war nicht absehbar; da las Diederich mit seinen schweren Lidern in der Zeitung, daß der Kaiser unterwegs nach Rom sei zum Besuch des Königs von Italien. Ein Schlag, er war aufgewacht. Elastisch bewegte er sich zum Portier, ins Bureau, an den Lift; und mochte Guste jammern, daß ihr schwindlig werde, die Koffer waren schon fertig, Diederich schleifte Guste schon hinaus. „Muß es denn sein?“ klagte sie, „wo doch das Bett so gut ist!“ Aber Diederich hinterließ nur noch einen höhnischen Blick für die Odaliske. „Amüsieren Sie sich weiter gut, meine Gnädigste!“

Vor Aufregung schlief er lange nicht. Guste schnarchte friedlich an seiner Schulter, indes Diederich, durch die Nacht sausend, bedachte, wie nun auf einer anderen Linie, aber nicht weniger sausend, demselben Ziel der Kaiser selbst entgegenfuhr. Der Kaiser und Diederich machten ein Wettrennen! Und da Diederich schon mehrmals im Leben hatte Gedanken äußern dürfen, die auf mystische Art mit denen des Allerhöchsten Herrn zusammenzufallen schienen, vielleicht wußte Seine Majestät zu dieser Stunde um Diederich: wußte, daß sein treuer Untertan ihm zur Seite über die Alpen zog, um den feigen Welschen mal klarzumachen, was Kaisertreue heißt. Er blitzte die Schläfer auf der anderen Bank an, kleine schwarze Leute, deren Gesichter im Schlaf verfallen aussahen. Germanische Reckenhaftigkeit sollten sie kennenlernen!

Früh in Mailand und mittags in Florenz stiegen Rei[pg 389]sende aus, was Diederich nicht begriff. Er versuchte, ohne merklichen Erfolg, den Übriggebliebenen beizubringen, welches Ereignis sie in Rom erwarte. Zwei Amerikaner zeigten sich empfänglicher, worauf Diederich triumphierend: „Na, Sie beneiden uns wohl auch um unseren Kaiser!“ Da sahen die Amerikaner einander an, mit einer stummen Frage, die ergebnislos blieb.

Vor Rom ging Diederichs Aufregung in wilden Tätigkeitsdrang über. Den Finger in einem Sprachführer, lief er dem Zugpersonal nach und suchte in Erfahrung zu bringen, wer früher ankommen werde, sein Kaiser oder er. Gustes Leidenschaft hatte sich an der des Gatten entzündet. „Diedel!“ rief sie. „Ich bin imstande und werf’ ihm meinen Reiseschleier auf den Weg, damit daß er darüber geht, und die Rosen von meinem Hut schmeiß’ ich auch hin!“ – „Wenn er dich aber sieht und du machst ihm Eindruck?“ fragte Diederich und lächelte fieberhaft. Gustes Busen begann zu wogen, sie senkte die Lider. Diederich, der keuchte, riß sich los aus der furchtbaren Spannung. „Meine Mannesehre ist mir heilig, was ich hiermit feststelle. In diesem Falle aber –“ Und er schloß mit einer knappen Geste.

Da kam man an – aber ganz anders, als die Gatten es erträumt hatten. In größter Verwirrung wurden die Reisenden von Beamten aus dem Bahnhof gedrängt, bis an den Rand eines weiten Platzes und in die Straßen dahinter, die sofort wieder abgesperrt wurden. Aber Diederich, in entfesselter Begeisterung, durchbrach die Schranken. Guste, die entsetzt die Arme reckte, ließ er mit allem Handgepäck dastehen und stürzte drauflos. Schon war er inmitten des Platzes; zwei Soldaten mit Federhüten jagten ihm nach, daß ihre bunten Frackschöße flogen. Da schritten die Bahnhofsrampe mehrere Herren herab, und [pg 390]alsbald fuhr ein Wagen auf Diederich zu. Diederich schwenkte den Hut, er brüllte auf, daß die Herren im Wagen ihr Gespräch unterbrachen. Der rechts neigte sich vor – und sie sahen einander an, Diederich und sein Kaiser. Der Kaiser lächelte kalt prüfend mit den Augenfalten, und die Falten am Mund ließ er ein wenig herab. Diederich lief ein Stück mit, die Augen weit aufgerissen, immer schreiend und den Hut schwenkend, und einige Sekunden lang waren sie, indes ringsum dahinten eine fremde Menge ihnen Beifall klatschte, in der Mitte des leeren Platzes und unter einem knallblauen Himmel ganz miteinander allein, der Kaiser und sein Untertan.

Schon verschwand der Wagen drüben in der beflaggten Straße, die Hochrufe schwollen schon ab in der Ferne, und Diederich, der aufseufzte und die Augen schloß, setzte den Hut wieder auf.

Guste winkte ihn krampfhaft herbei, und die Leute, die noch umherstanden, klatschten ihm zu, mit Gesichtern voll heiteren Wohlwollens. Auch die Soldaten, die vorhin ihn verfolgt hatten, lachten nun. Einer von ihnen ging in seiner Teilnahme so weit, daß er einen Kutscher herbeirief. Wie er abfuhr, grüßte Diederich die Menge. „Sie sind wie die Kinder“, erklärte er seiner Gattin. „Na, aber auch entsprechend schlapp“, setzte er hinzu, und er gestand: „In Berlin wäre das denn doch nicht gegangen ... Wenn ich an den Krawall Unter den Linden denke, der Betrieb war ’n bißchen schärfer.“ Und er setzte sich zurecht, um am Hotel vorzufahren. Dank seiner Haltung bekamen sie ein Zimmer im zweiten Stock.

Die erste Morgensonne aber sah Diederich schon wieder in den Straßen. „Der Kaiser steht früh auf“, hatte er Guste bedeutet, die nur aus den Kissen grunzte. Übrigens [pg 391]konnte er sie nicht brauchen bei seiner Aufgabe. Den Finger auf dem Plan der Stadt, gelangte er bis vor den Quirinal und stellte sich hin. Der stille Platz war hellgolden von schrägen Strahlen, grell und wuchtig im leeren Himmel stand der Palast – und gegenüber Diederich, der Majestät gewärtig, auf vorgestreckter Brust den Kronenorden vierter Klasse. Die Treppen herauf aus der Stadt trippelte eine Ziegenherde und verschwand hinter dem Brunnen und den riesigen Rossebändigern. Diederich sah sich nicht um. Zwei Stunden vergingen, die Passanten wurden häufiger, eine Schildwache war hinter ihrem Haus hervorgekommen, in einem der beiden Portale bewegte sich ein Portier, und mehrere Personen gingen ein oder aus. Diederich ward unruhig. Er machte sich näher an die Fassade heran, strich langsam vorbei, gespannt ins Innere spähend. Bei seinem dritten Erscheinen führte der Portier, ein wenig zögernd, die Hand an den Hut. Als Diederich stehenblieb und zurückgrüßte, ward er vertraulich. „Alles in Ordnung“, sagte er hinter der Hand; und Diederich nahm die Meldung mit einer Miene des Einverständnisses entgegen. Es schien ihm nur natürlich, daß man ihn über das Wohlergehen seines Kaisers unterrichtete. Seine Fragen, wann der Kaiser ausfahren werde und wohin, wurden anstandslos beantwortet. Der Portier verfiel von selbst darauf, daß Diederich, um den Kaiser zu begleiten, einen Wagen brauchen werde, und er schickte danach. Inzwischen hatte ein Häuflein Neugieriger sich gebildet, und dann trat der Portier beiseite; hinter einem Vorreiter, im offenen Wagen, erschien, unter dem Blitzen seines Adlerhelms, der blonde Herr des Nordens. Diederichs Hut flog schon, Diederich schrie, wie aus der Pistole geschossen, auf italienisch: „Es lebe der [pg 392]Kaiser!“ Und gefällig schrie das Häuflein mit ... Diederich aber, ein Sprung in den Einspänner, der bereitstand, und los, hinterdrein, den Kutscher angefeuert mit rauhem Schrei und geschwungenem Trinkgeld. Und sieh: schon hielt er, dahinten nahte erst der Allerhöchste Wagen. Als der Kaiser ausstieg, war wieder ein Häuflein da, und wiederum schrie Diederich auf italienisch ... Wache gehalten vor dem Haus, worin sein Kaiser weilte! Die Brust heraus und angeblitzt, wer sich in die Nähe traute! Nach zehn Minuten war das Häuflein neu vervollständigt, der Wagen entrollte dem Tor, und Diederich: „Es lebe der Kaiser!“ – und, im Echo des Häufleins, wildbrausend zurück zum Quirinal. Wache. Der Kaiser im Tschako. Das Häuflein. Ein neues Ziel, eine neue Rückkehr, eine neue Uniform, und wieder Diederich, und wieder jubelnder Empfang. So ging es weiter, und nie hatte Diederich ein schöneres Leben gekannt. Sein Freund, der Portier, unterrichtete ihn zuverlässig, wohin man fuhr. Auch kam es vor, daß ein salutierender Beamter ihm eine Meldung machte, die er herablassend entgegennahm, oder daß einer Direktiven zu erbitten schien – und dann erteilte Diederich sie in unbestimmter Form, aber gebieterisch. Die Sonne stieg hoch und höher; vor den brennenden Marmorquadern der Fassaden, hinter denen sein Kaiser weltumspannende Unterredungen pflog, litt Diederich, ohne zu wanken, Hitze und Durst. So stramm er sich hielt, war es ihm doch, als sinke sein Bauch unter der Last des Mittags bis auf das Pflaster herab und als schmelze ihm auf der Brust sein Kronenorden vierter Klasse ... Der Kutscher, der immer häufiger die nächste Kneipe betrat, empfand endlich Bewunderung für das heldenhafte Pflichtgefühl des Deutschen und brachte ihm Wein mit. [pg 393]Neues Feuer in den Adern, machten sich beide an das nächste Rennen. Denn die kaiserlichen Renner liefen scharf; um ihnen vorauszukommen, mußte man Gassen durchjagen, die aussahen wie Kanäle und deren spärliche Passanten sich schreckensvoll gegen die Mauer drückten; oder es hieß aussteigen und Hals über Kopf eine Treppe nehmen. Dann aber stand Diederich pünktlich an der Spitze seines Häufleins, sah die siebente Uniform aussteigen und schrie. Und dann wandte der Kaiser den Kopf und lächelte. Er erkannte ihn wieder, seinen Untertan! Den, der schrie, den, der immer schon da war, wie Swinegel. Diederich, federnd vor Hochgefühl über die Allerhöchste Aufmerksamkeit, blitzte das Volk an, in dessen Mienen heiteres Wohlwollen stand.

Erst die Versicherung des Portiers, daß Seine Majestät nun frühstücke, erlaubte es Diederich, sich Gustes zu erinnern. „Wie siehst du aus!“ rief sie bei seinem Anblick und zog sich gegen die Wand zurück. Denn er war rot wie eine Tomate, völlig aufgeweicht, und sein Blick war hell und wild wie der eines germanischen Kriegers der Vorzeit auf einem Eroberungszuge durch Welschland. „Dies ist ein großer Tag für die nationale Sache!“ versetzte er mit Wucht. „Seine Majestät und ich, wir machen moralische Eroberungen!“ Wie er dastand! Guste vergaß ihren Schrecken und den Ärger über das lange Warten: sie kam herbei mit liebevollen Armen, und demütig rankte sie sich an ihm hinauf.

Aber kaum das Stündchen zum Essen gönnte Diederich sich. Er wußte wohl, nach dem Mittagsmahl ruhte der Kaiser; dann hieß es, unter seinen Fenstern Wache stehen und nicht weichen. Er wich nicht; und der Erfolg zeigte, wie recht er tat. Denn noch hielt er seinen Posten, dem [pg 394]Portal gegenüber, nicht achtzig Minuten lang besetzt, als es geschah, daß ein verdächtig aussehendes Individuum unter Benutzung einer kurzen Abwesenheit des Portiers sich einschlich, sich hinter eine Säule drückte und im lauernden Schatten Pläne barg, die nicht anders sein konnten als unheilvoll. Da aber Diederich! Wie den Sturm und mit Kriegsgeschrei sah man ihn über den Platz tosen. Aufgescheuchtes Volk stürzte sofort hinterdrein, die Wache eilte herbei, im Portal lief Dienerschaft zusammen – und alle bewunderten Diederich, wie er einen, der sich versteckt hatte, wild ringend hervorzerrte. Die beiden schlugen dermaßen um sich, daß nicht einmal die bewaffnete Macht an sie herankam. Plötzlich sah man Diederichs Gegner, dem es gelungen war, den rechten Arm zu befreien, eine Büchse schwingen. Atemlose Sekunden – dann tobte die aufheulende Panik dem Ausgang zu. Eine Bombe! Er wirft!... Er hatte schon geworfen. In der Erwartung des Knalles lagen die nächsten, im voraus wimmernd, am Boden. Diederich aber: weiß auf Gesicht, Schultern und Brust stand er da und nieste. Es roch stark nach Pfefferminz. Die Kühnsten kehrten um und untersuchten ihn mit der Nase; ein Soldat unter wallenden Federn betupfte ihn mit dem benetzten Finger und kostete. Diederich verstand wohl, was er hierauf der Menge mitteilte und weshalb sogleich in alle Gesichter das heitere Wohlwollen zurückkehrte, denn seit einem Augenblick blieb ihm selbst kein Zweifel mehr darüber, daß er mit Zahnpulver beworfen war. Dessenungeachtet behielt er die Gefahr im Auge, der der Kaiser, dank seiner Wachsamkeit, vielleicht entronnen war. Der Attentäter suchte – ganz vergebens – an ihm vorbei das Weite zu gewinnen: Diederichs eiserne Faust überlieferte ihn den Polizeiwächtern. [pg 395]Diese stellten fest, daß es sich um einen Deutschen handelte, und baten Diederich, ihn zu inquirieren. Er unterzog sich der Aufgabe, trotz dem Zahnpulver, das ihn bedeckte, mit höchster Korrektheit. Die Antworten des Menschen, der bezeichnenderweise Künstler war, hatten keine ausgesprochen politische Färbung, verrieten aber durch ihre abgrundtiefe Respektlosigkeit und Unmoral nur zu wohl die Tendenzen des Umsturzes, weshalb Diederich seine Verhaftung dringend empfahl. Die Wächter führten ihn ab, nicht ohne vor Diederich zu salutieren, der nur noch Zeit hatte, sich von seinem Freunde, dem Portier, abbürsten zu lassen. Denn schon war der Kaiser gemeldet; Diederichs persönlicher Dienst begann wieder.

Sein Dienst führte ihn rastlos umher bis in die Nacht und endlich vor das Gebäude der deutschen Botschaft, wo Seine Majestät Empfang hielt. Ein längerer Aufenthalt des Allerhöchsten Herrn gab Diederich Gelegenheit, beim nächsten Wirt seine Stimmung zu erhöhen. Er erklomm vor der Tür einen Stuhl und richtete an das Volk eine Ansprache, die von nationalem Geiste getragen war und der schlappen Bande die Vorzüge eines strammen Regiments klarmachte und eines Kaisers, der kein Schattenkaiser war ... Sie sahen ihn, rot überstrahlt vom Licht der offenen Becken, die vor dem Palaste des Deutschen Reiches loderten, auf seinem Stuhl den eckig behaarten Mund aufreißen, sahen ihn blitzen und wie von Eisen starren – was ihnen offenbar genügte, um ihn zu verstehen, denn sie jubelten, klatschten und ließen den Kaiser leben, sooft Diederich ihn leben ließ. Mit einem Ernst, der nicht ohne Drohung war, nahm Diederich für seinen Herrn und die furchtbare Macht seines Herrn die Huldigungen des Auslandes entgegen, worauf er von dem [pg 396]Stuhl herabkletterte und wieder zum Wein ging. Mehrere Landsleute, kaum weniger angeregt als er, tranken ihm zu und kamen nach in heimischer Weise. Einer entfaltete eine Abendzeitung mit einem riesigen Bild des Kaisers und las den Bericht eines Zwischenfalles vor, den im Portal des Quirinals ein Deutscher hervorgerufen hatte. Nur durch die Geistesgegenwart eines Beamten im persönlichen Dienst des Kaisers war Schlimmeres verhindert worden; und auch das Bildnis dieses Beamten war dabei. Diederich erkannte ihn wohl. Wenn die Ähnlichkeit auch nur allgemeiner Natur und der Name arg entstellt war, der Umfang des Gesichtes und der Schnurrbart stimmten. So sah denn Diederich den Kaiser und sich selbst auf dem gleichen Zeitungsblatt vereinigt, den Kaiser samt seinem Untertan der Welt zur Bewunderung dargeboten. Es war zu viel. Feuchten Auges richtete Diederich sich auf und stimmte die Wacht am Rhein an. Der Wein, der so billig war, und die Begeisterung, die immer neu genährt ward, bewirkten, daß die Kunde, der Kaiser verlasse die Botschaft, Diederich nicht mehr in korrekter Haltung fand. Er tat gleichwohl alles, was er noch vermochte, um seiner Pflicht zu genügen. Er schoß im Zickzack das Kapitol hinab, stolperte und rollte über die Stufen weiter. Drunten in der Gasse holten seine Zechgenossen ihn ein, er stand mit dem Gesicht der Mauer zugekehrt ... Fackelschein und Hufschlag: der Kaiser! Die anderen schwankten hinterdrein, Diederich aber, kein Komment half ihm mehr, glitt hin, wo er stand. Zwei städtische Wächter fanden ihn, an die Mauer gelehnt, in einer Lache sitzen. Sie erkannten den Beamten im persönlichen Dienst des Deutschen Kaisers, und voll tiefer Besorgnisse beugten sie sich über ihn. Gleich darauf aber sahen sie [pg 397]einander an und brachen in ungeheure Fröhlichkeit aus. Der persönliche Beamte war gottlob nicht tot, denn er schnarchte; und die Lache, in der er saß, war kein Blut.

Am nächsten Abend, bei der Galavorstellung im Theater, sah der Kaiser ungewöhnlich ernst aus. Diederich bemerkte es, er sagte zu Guste: „Jetzt weiß ich doch, wozu ich das viele Geld hab’ ausgegeben. Paß auf, wir erleben einen historischen Moment!“ Und seine Ahnung betrog ihn nicht. Die Abendblätter verbreiteten sich im Theater, und man erfuhr, der Kaiser werde noch nachts abreisen, und er habe seinen Reichstag aufgelöst! Diederich, ebenso ernst wie der Kaiser, erklärte allen, die in der Nähe saßen, die Schwere des Ereignisses. Der Umsturz hatte sich nicht entblödet, die Militärvorlage abzulehnen! Die Nationalgesinnten gingen für ihren Kaiser in einen Kampf auf Leben und Tod! Er selbst werde mit dem nächsten Zuge nach Hause fahren, versicherte er, worauf man ihm sofort den Zug nannte ... Wer nicht zufrieden war, war Guste. „Endlich ist man mal woanders, und, Gott sei Dank, hat man es und kann sich was leisten. Wie komm’ ich dazu, daß ich mich soll zwei Tage im Hotel mopsen und dann gleich wieder retour, bloß wegen –.“ Der Blick, den sie nach der kaiserlichen Loge schleuderte, war so voll von Auflehnung, daß Diederich mit äußerster Strenge einschritt. Guste ward ihrerseits laut; ringsum zischte man, und als Diederich den Widersachern blitzend die Stirne bot, sah er sich von ihnen veranlaßt, mit Guste aufzubrechen, noch bevor ihr Zug ging. „Komment hat das Pack nun mal nicht“, stellte er draußen fest und schnaufte stark. „Überhaupt, was ist hier los, möcht’ ich mal wissen. Schönes Wetter, na ja ... Na, nu sieh dir wenigstens noch das alte Zeug an, das da ’rumsteht!“ heischte er. [pg 398]Guste, wieder gebändigt, sagte klagend: „Ich genieß’ es ja.“ Und dann fuhren sie in gemessenem Abstand hinter dem Zug des Kaisers her. Guste, die in der Eile ihre Schwämme und Bürsten vergessen hatte, wollte immer aussteigen. Damit sie sechsunddreißig Stunden Geduld hatte, mußte Diederich ihr unermüdlich die nationale Sache vorhalten. Trotzdem waren, als sie endlich in Netzig Fuß faßte, ihre erste Sorge die Schwämme. Am Sonntag hatte man ankommen müssen! Zum Glück war wenigstens die Löwenapotheke offen. Indes Diederich vor dem Bahnhof auf die Koffer wartete, ging Guste schon hinüber. Da sie aber nicht zurückkam, folgte er ihr.

Die Tür der Apotheke stand halb offen, drei junge Burschen spähten hinein und wälzten sich. Diederich, der über sie wegsah, erstarrte vor Staunen – denn drinnen hinter dem Ladentisch schritt, die Arme gekreuzt und mit düsterem Blick, hin und her sein alter Freund und Kommilitone Gottlieb Hornung. Guste sagte gerade: „Nun bin ich doch gespannt, ob ich bald meine Zahnbürste kriege“, da kam Gottlieb Hornung hinter dem Ladentisch hervor, die Arme immer verschränkt und Guste in seinen düsterm Blick fassend. „Sie werden meiner Miene angesehen haben,“ begann er mit Rednerstimme, „daß ich weder in der Lage noch gewillt bin, Ihnen eine Zahnbürste zu verkaufen.“ – „Nanu!“ machte Guste und wich zurück. „Aber Sie haben doch das ganze Glas hier voll.“ Gottlieb Hornung lächelte wie Luzifer. „Der Onkel dort oben“ – er warf den Kopf zurück und zeigte mit dem Kinn nach der Decke, hinter der wohl sein Prinzipal hauste – „der kann hier feilbieten, was ihm beliebt. Ich fühle mich dadurch nicht berührt. Ich habe nicht sechs Semester studiert [pg 399]und einer hochfeinen Korporation angehört, damit ich mich jetzt hier hinstelle und Zahnbürsten verkaufe.“ – „Wozu sind Sie denn da?“ fragte Guste, merklich eingeschüchtert. Da versetzte Hornung, majestätisch rollend: „Ich bin für die Rezeptur da!“ Und Guste fühlte wohl, sie sei zurückgeschlagen; sie wandte sich zum Gehen. Eins fiel ihr doch noch ein. „Mit den Schwämmen wäre es wohl dasselbe?“ – „Ganz dasselbe“, bestätigte Hornung. Hierauf hatte Guste offenbar gewartet, um sich ernstlich zu entrüsten. Sie streckte den Busen vor und wollte loslegen; Diederich hatte aber noch Zeit, dazwischenzutreten. Er gab dem Freunde recht darin, daß die Würde der Neuteutonia zu wahren und ihr Banner hochzuhalten sei. Wenn jemand trotzdem einen Schwamm brauchte, konnte er ihn sich am Ende selbst nehmen und den Betrag hinlegen – was Diederich hiermit tat. Gottlieb Hornung ging inzwischen beiseite und pfiff, als sei er allein. Sodann bekundete Diederich seine Teilnahme an dem bisherigen Ergehen des Freundes. Leider war viel Mißgeschick dabei; denn da Hornung niemals Schwämme und Zahnbürsten hatte verkaufen wollen, war er schon aus fünf Apotheken entlassen worden. Dennoch war er entschlossen, weiter für seine Überzeugung einzustehen, auf die Gefahr, daß es ihn auch hier wieder seine Stellung kostete. „Da sieh dir einen echten Neuteutonen an!“ sagte Diederich zu Guste, und sie sah ihn sich an.

Diederich hielt seinerseits nicht länger zurück mit dem, was er erlebt und erreicht hatte. Er machte auf seinen Orden aufmerksam, drehte Guste vor Hornung rundherum und nannte die Ziffer ihres Vermögens. Der Kaiser, dessen Feinde und Beleidiger dank Diederich hinter Schloß und Riegel saßen, war in Rom ganz kürzlich und gleich[pg 400]falls dank Diederich einer persönlichen Gefahr entronnen. Die Zeitungen sprachen, um eine Panik an den Höfen und an der Börse zu vermeiden, nur von dem Bubenstreich eines Halbwahnsinnigen, „aber im Vertrauen gesagt, ich habe Anlaß, zu glauben, daß ein weitverzweigtes Komplott bestanden hat. Du wirst verstehen, Hornung, daß das nationale Interesse die größte Zurückhaltung gebietet, denn du bist sicher auch ein national gesinnter Mann.“ Hornung war es natürlich, und so konnte Diederich sich über die hochwichtige Aufgabe verbreiten, die ihn genötigt hatte, von seiner Hochzeitsreise plötzlich zurückzukehren. Es galt, in Netzig den nationalen Kandidaten durchzubringen! Die Schwierigkeiten durfte man sich nicht verhehlen. Netzig war eine Hochburg des Freisinns, der Umsturz rüttelte an den Grundlagen.... Hier begann Guste zu drohen, daß sie mit dem Gepäck nach Hause fahren werde. Diederich konnte den Freund nur noch dringend einladen, ihn gleich heute abend zu besuchen, er habe dringend mit ihm zu reden. Wie er in den Wagen stieg, sah er einen der Schlingel, die draußen gewartet hatten, die Apotheke betreten und eine Zahnbürste verlangen. Diederich bedachte, daß Gottlieb Hornung eben vermöge seiner aristokratischen Richtung, die ihm beim Verkauf von Schwämmen und Zahnbürsten so hinderlich war, im Kampf gegen die Demokratie ein wertvoller Bundesgenosse werden könne. Aber dies war die geringste seiner schleunigen Sorgen. Der alten Frau Heßling wurden nur schnell ein paar Tränen erlaubt, dann mußte sie wieder in das obere Stockwerk hinauf, wo früher nur das Dienstmädchen und die nasse Wäsche untergebracht waren und wohin Diederich jetzt seine Mutter und Emmi beseitigt hatte. Den Ruß von der [pg 401]Reise noch im Bart, begab er sich hintenherum zum Präsidenten von Wulckow, ließ darauf, nicht weniger unauffällig, Napoleon Fischer zu sich kommen und hatte inzwischen schon Schritte getan, um ohne Verzug eine Zusammenkunft mit Kunze, Kühnchen und Zillich zu bewirken.

Der Sonntagnachmittag erschwerte das Unternehmen; der Major konnte nur mit Mühe seiner Kegelpartie entrissen werden, den Pastor mußte man an einem Familienausflug mit Käthchen und Assessor Jadassohn verhindern, und der Professor befand sich in den Händen seiner beiden Pensionäre, die ihn schon halb betrunken gemacht hatten. Schließlich gelang es, alle im Lokal des Kriegervereins zusammenzutreiben, und Diederich eröffnete ihnen ohne weiteren Zeitverlust, daß ein nationaler Kandidat aufgestellt werden müsse und daß nach Lage der Dinge nur einer in Frage komme, nämlich Herr Major Kunze. „Hurra!“ rief Kühnchen ohne weiteres, aber die Miene des Majors zog sich noch gewitterhafter zusammen. Ob man ihn denn für naiv halte, knirschte er hervor. Ob man glaube, er lechze nach einer Blamage. „Ein nationaler Kandidat in Netzig, was dem passiert, darauf bin ich nicht neugierig. Wenn alles so gewiß wäre wie der nationale Durchfall!“ Diederich ließ dies keineswegs gelten. „Wir haben den Kriegerverein, den wollen die Herren in Rechnung stellen. Der Kriegerverein ist eine unschätzbare Operationsbasis. Von ihr aus schlagen wir uns in gerader Linie durch, wenn ich so sagen darf, bis zum Kaiser-Wilhelm-Denkmal, und dort wird die Schlacht gewonnen.“ „Hurra!“ schrie Kühnchen wieder, die beiden anderen aber wünschten doch zu wissen, was es mit dem Denkmal sei, und Diederich weihte sie ein in seine Erfindung – wobei er lieber darüber hinwegging, daß das Denkmal [pg 402]der Gegenstand eines Paktes zwischen ihm und Napoleon Fischer sei. Das freisinnige Säuglingsheim, so viel verriet er, war nicht populär, eine Menge Wähler ließen sich zu der nationalen Sache herüberziehen, wenn man ihnen aus dem Nachlaß des alten Kühlemann ein Kaiser-Wilhelm-Denkmal versprach. Erstens wurden dabei mehr Handwerker beschäftigt, und dann kam Betrieb in die Stadt, die Einweihung solch eines Denkmals zog weite Kreise, Netzig hatte Aussicht, seinen schlechten Ruf als demokratischer Sumpf zu verlieren und in die Gnadensonne zu rücken. Dabei dachte Diederich an seinen Pakt mit Wulckow, über den er auch lieber hinging. „Dem Manne aber, der so unendlich viel für uns alle erreicht und errungen hat“ – er zeigte schwungvoll auf Kunze – „dem Manne wird unsere liebe alte Stadt ganz sicher auch dereinst ein Denkmal setzen. Er und Kaiser Wilhelm der Große werden einander anblicken –“ „Und die Zunge zeigen“, schloß der Major, der bei seinem Unglauben verharrte. „Wenn Sie meinen, die Netziger warten nur auf den großen Mann, der sie mit klingendem Spiel in das nationale Lager führt, warum spielen Sie dann nicht selbst den großen Mann?“ Und er bohrte sich in Diederichs Augen. Aber Diederich riß sie nur noch ehrlicher auf; er legte die Hand auf das Herz. „Herr Major! Meine wohlbekannte kaisertreue Gesinnung hat mir schon schwerere Prüfungen auferlegt als eine Kandidatur für den Reichstag, und die Prüfungen, das darf ich sagen, hab’ ich bestanden! Dabei hab’ ich mich nicht gescheut, als Vorkämpfer der guten Sache, allen Haß der Schlechtgesinnten auf meine Person zu laden, und hab’ es mir dadurch unmöglich gemacht, die Frucht meiner Opfer selbst einzustecken. Mich würden die Netziger nicht wählen, meine Sache [pg 403]werden sie wählen, und darum trete ich zurück, denn sachlich sein heißt deutsch sein, und lasse Ihnen, Herr Major, neidlos die Ehren und die Freuden!“ Allgemeine Bewegung. Kühnchens Bravo klang tränenfeucht, der Pastor nickte weihevoll, und Kunze starrte, sichtlich erschüttert, unter den Tisch. Diederich aber fühlte sich leicht und gut, er hatte sein Herz sprechen lassen, und es hatte Treue, Opfersinn und mannhaften Idealismus ausgedrückt. Diederichs blond behaarte Hand streckte sich über den Tisch, und die braun behaarte des Majors schlug zögernd, doch kräftig hinein.

Nach dem Herzen freilich ergriff bei allen vier Männern wieder die Vernunft das Wort. Der Major erkundigte sich, ob Diederich bereit sei, ihn zu entschädigen für die ideellen und materiellen Verluste, von denen er bedroht sei, falls er gegen den Kandidaten des freisinnigen Klüngels in die Schranken trete und ihm unterliege. „Sehen Sie wohl!“ – und er reckte den Finger gegen Diederich, der angesichts dieser Geradlinigkeit nicht gleich Worte fand. „So ganz koscher kommt Ihnen die nationale Sache auch nicht vor, und daß Sie mich durchaus ’rankriegen wollen, wie ich Sie kenne, Herr Doktor, hängt das mit irgendwelchen Fisimatenten Ihrerseits zusammen, von denen ich als gerader Soldat gottlob nichts verstehe.“ Hierauf beeilte Diederich sich, dem geraden Soldaten einen Orden zu versprechen, und da er sein Einverständnis mit Wulckow durchblicken ließ, war der nationale Kandidat endlich rückhaltlos gewonnen.... Inzwischen aber hatte Pastor Zillich es sich überlegt, ob seine Stellung in der Stadt es ihm erlaube, den Vorsitz des nationalen Wahlkomitees zu übernehmen. Sollte er die Zwietracht in seine Gemeinde tragen? Sein leiblicher Schwager Heuteufel war der Kandidat der Liberalen! Freilich, wenn man statt [pg 404]des Denkmals eine Kirche gebaut hätte! „Denn wahrlich, Gotteshäuser tun mehr denn je not, und meine liebe Kirche von Sankt Marien wird von der Stadt so sehr vernachlässigt, daß sie heute oder morgen mir und meinen Christen auf den Kopf fallen kann.“ Ohne Säumen verbürgte Diederich sich für alle gewünschten Reparaturen. Zur Bedingung machte er nur, daß der Pastor von den Vertrauensstellungen der neuen Partei alle diejenigen Elemente fernhalte, die schon durch gewisse Äußerlichkeiten berechtigte Zweifel an der Echtheit ihrer nationalen Gesinnung erregten. „Ohne in Familienverhältnisse eingreifen zu wollen“, setzte Diederich hinzu und sah Käthchens Vater an, der offenbar begriffen hatte, denn er muckte nicht.... Aber auch Kühnchen, der längst nicht mehr hurra schrie, meldete sich. Die beiden anderen hatten ihn, während sie selbst sprachen, nur mit Gewalt auf seinem Sitz festgehalten; kaum daß sie ihn losließen, riß er stürmisch die Debatte an sich. Wo mußte die nationale Gesinnung vor allem wurzeln? In der Jugend? Wie aber war das möglich, wenn der Rektor des Gymnasiums ein Freund des Herrn Buck war. „Da kann ich mir die Schwindsucht an den Hals reden von unseren glorreichen Taten im Jahre siebzig...“ Genug, Kühnchen wollte Rektor werden, und Diederich bewilligte es ihm großmütig.

Nachdem dermaßen die politische Haltung auf der gesunden Grundlage der Interessen festgelegt war, konnte man sich mit gutem Gewissen der Begeisterung hingeben, die, wie Pastor Zillich erklärte, von Gott kam und auch der besten Sache erst die höhere Weihe lieh, und so begab man sich in den Ratskeller.

In aller Frühe, als die vier Herren heimgingen, klebten an den Mauern zwischen den weißen Wahlaufrufen Heu[pg 405]teufels und den roten des Genossen Fischer die schwarzweißrot geränderten Plakate, die Herrn Major Kunze als Kandidaten der „Partei des Kaisers“ empfahlen. Diederich pflanzte sich so fest, als es ihm möglich war, davor auf und las mit schneidiger Tenorstimme. „Vaterlandslose Gesellen des aufgelösten Reichstages haben es gewagt, unserem herrlichen Kaiser die Machtmittel zu versagen, deren er zur Größe des Reiches bedarf.... Wollen uns des großen Monarchen würdig erweisen und seine Feinde zerschmettern! Einziges Programm: Der Kaiser! Die für mich und die wider mich: Umsturz und Partei des Kaisers!“ Kühnchen, Zillich und Kunze bekräftigten alles mit Geschrei; und da einige Arbeiter, die in die Fabrik gingen, erstaunt stehenblieben, drehte Diederich sich um und erläuterte ihnen das nationale Manifest. „Leute!“ rief er. „Ihr wißt gar nicht, was ihr für ein Schwein habt, daß ihr Deutsche seid. Denn um unseren Kaiser beneidet uns die ganze Welt, habe mich soeben im Ausland persönlich davon überzeugt.“ Hier schlug Kühnchen mit der Faust auf dem Anschlagbrett einen Tusch, und die vier Herren schrien hurra, indes die Arbeiter ihnen zusahen. „Wollt ihr, daß euer Kaiser euch Kolonien schenkt?“ fragte Diederich sie. „Na also. Dann schärft ihm gefälligst das Schwert! Wählt keinen vaterlandslosen Gesellen, das verbitte ich mir, sondern einzig den Kandidaten des Kaisers, Herrn Major Kunze: sonst garantiere ich euch keinen Augenblick für unsere Stellung in der Welt, und es kann euch passieren, daß ihr mit zwanzig Mark weniger Lohn alle vierzehn Tage nach Haus geht!“ Hier sahen die Arbeiter stumm einander an, und dann setzten sie sich wieder in Bewegung.

Aber auch die Herren verloren keine Zeit. Kunze selbst [pg 406]ging auf steifen Beinen an die Aufgabe, den Mitgliedern des Kriegervereins den Standpunkt klarzumachen. „Wenn die Kerls glauben,“ erklärte er, „sie können künftig noch den freien Gewerkschaften angehören! Den Freisinn treiben wir ihnen auch aus! Von heute ab greift ’ne schärfere Tonart Platz!“ Pastor Zillich verhieß eine verwandte Tätigkeit in den christlichen Vereinen, indes Kühnchen zum voraus von der frischen Begeisterung seiner Primaner schwärmte, die auf Fahrrädern die Stadt durcheilen und Wähler herbeischleppen sollten. Das rastloseste Pflichtgefühl aber beseelte doch Diederich. Er verschmähte jede Ruhe; seiner Gattin, die im Bett lag und ihn mit Vorwürfen empfing, erwiderte er blitzend: „Mein Kaiser hat ans Schwert geschlagen, und wenn mein Kaiser ans Schwert schlägt, dann gibt es keine ehelichen Pflichten mehr. Verstanden?“ Worauf Guste sich schroff herumwarf und das mit ihren hinteren Reizen ausgefüllte Federbett wie einen Turm zwischen sich und den Ungefälligen stellte. Diederich unterdrückte das Bedauern, das ihn beschleichen wollte, und schrieb ungesäumt einen Warnruf gegen das freisinnige Säuglingsheim. Die „Netziger Zeitung“ brachte ihn auch, obwohl sie vor zwei Tagen aus der Feder des Herrn Doktors Heuteufel eine überaus warme Empfehlung des Säuglingsheims gebracht hatte. Denn, wie der Redakteur Nothgroschen hinzusetzte, das Organ des gebildeten Bürgertums war es seinen Abonnenten schuldig, an jede neu auftauchende Idee vor allem den Prüfstein seines Kulturgewissens zu legen. Und dies tat Diederich in geradezu vernichtender Weise. Für wen war so ein Säuglingsheim naturgemäß in erster Linie bestimmt? Für die unehelichen Kinder. Was begünstigte es also? Das Laster. Hatten wir das nötig? Nicht die [pg 407]Spur; „denn wir sind Gott sei Dank nicht in der traurigen Lage der Franzosen, die durch die Folgen ihrer demokratischen Zuchtlosigkeit schon so gut wie auf den Aussterbeetat gesetzt sind. Die mögen uneheliche Geburten preiskrönen, weil sie sonst keine Soldaten mehr haben. Wir aber sind nicht angefault, wir erfreuen uns eines unerschöpflichen Nachwuchses! Wir sind das Salz der Erde!“ Und Diederich rechnete den Abonnenten der „Netziger Zeitung“ vor, bis wann sie und ihresgleichen hundert Millionen betragen würden, und wie lange es höchstens noch dauern könne, bis die Erde deutsch sei.

Hiermit waren, nach der Meinung des nationalen Komitees, die Vorbereitungen getroffen für die erste Wahlversammlung der „Partei des Kaisers“. Sie sollte bei Klappsch sein, der seinen Saal patriotisch aufgemacht hatte. In Tannenkränzen glühten Transparente: „Der Wille des Königs ist das höchste Gebot.“ „Es gibt für euch nur einen Feind, und der ist mein Feind.“ „Die Sozialdemokratie nehme ich auf mich.“ „Mein Kurs ist der richtige.“ „Bürger, erwacht aus dem Schlummer!“ Für das Erwachen sorgten Klappsch und Fräulein Klappsch, indem sie überall immer frisches Bier hinstellte, ohne so peinlich wie sonst die Bierfilze aufzuhäufen. So ward Kunze, als der Vorsitzende, Pastor Zillich, ihn der Versammlung vorstellte, schon mit Stimmung aufgenommen. Diederich freilich, hinter der Rauchwolke, in der das Bureau saß, machte die unliebsame Bemerkung, daß auch Heuteufel, Cohn und einige von ihrem Anhang in den Saal gelangt waren. Er stellte Gottlieb Hornung zur Rede, denn Hornung hatte die Aufsicht. Aber er wollte sich nichts sagen lassen, er war gereizt, es hatte ihn zu große Mühe gekostet, die Leute zusammenzutreiben. [pg 408]So viele Lieferanten wie das Kaiser-Wilhelm-Denkmal dank seiner Agitation nun schon hatte, konnte die Stadt nie bezahlen, und wenn der alte Kühlemann dreimal starb! Geschwollene Hände hatte Hornung von den Begrüßungen all der neubekehrten Patrioten! Zumutungen hatten sie an ihn gestellt! Daß er sich mit einem Drogisten assoziieren sollte, war noch das wenigste. Aber Gottlieb Hornung protestierte gegen diesen demokratischen Mangel an Distanz. Der Besitzer der Löwenapotheke hatte ihm soeben gekündigt, und er war entschlossener als je, weder Schwämme noch Zahnbürsten zu verkaufen.... Inzwischen stammelte Kunze an seiner Kandidatenrede. Denn seine finstere Miene täuschte Diederich nicht darüber, daß der Major dessen, was er sagen wollte, durchaus nicht sicher war und daß der Wahlkampf ihn befangener machte, als der Ernstfall es getan haben würde. Er sagte: „Meine Herren, das Heer ist die einzige Säule“, da jedoch einer aus der Gegend Heuteufels dazwischenrief: „Schon faul!“, verwirrte Kunze sich sogleich und setzte hinzu: „Aber wer bezahlt es? Der Bürger.“ Worauf die um Heuteufel Bravo riefen. Hierdurch in eine falsche Richtung gedrängt, erklärte Kunze: „Darum sind wir alle Säulen, das dürfen wir wohl verlangen, und wehe dem Monarchen –“ „Sehr richtig!“ antworteten freisinnige Stimmen, und die gutgläubigen Patrioten schrien mit. Der Major wischte sich den Schweiß; ohne sein Zutun nahm seine Rede einen Verlauf, als hielte er sie im liberalen Verein. Diederich zog ihn von hinten am Rockschoß, er beschwor ihn, Schluß zu machen, aber Kunze versuchte es vergebens: den Übergang zur Wahlparole der „Partei des Kaisers“ fand er nicht. Am Ende verlor er die Geduld, ward jäh dunkelrot und stieß mit unver[pg 409]mittelter Wildheit hervor: „Ausrotten bis auf den letzten Stumpf! Hurra!“ Der Kriegerverein donnerte Beifall. Wo nicht mitgeschrien wurde, erschienen auf Diederichs Wink eilends Klappsch oder Fräulein Klappsch.

Zur Diskussion meldete sich alsbald Doktor Heuteufel, aber Gottlieb Hornung kam ihm zuvor. Diederich für seine Person blieb lieber im Hintergrund, hinter der Rauchwolke des Präsidiums. Er hatte Hornung zehn Mark versprochen, und Hornung war nicht in der Lage, sie auszuschlagen. Knirschend trat er an den Rand der Bühne und erläuterte die Rede des verehrten Herrn Majors dahin, daß das Heer, für das wir alle zu jedem Opfer bereit seien, unser Bollwerk gegen die Schlammflut der Demokratie sei. „Die Demokratie ist die Weltanschauung der Halbgebildeten“, stellte der Apotheker fest. „Die Wissenschaft hat sie überwunden.“ „Sehr richtig!“ rief jemand; es war der Drogist, der sich mit ihm assoziieren wollte. „Herren und Knechte wird es immer geben!“ bestimmte Gottlieb Hornung, „denn in der Natur ist es auch so. Und es ist daß einzig Wahre, denn jeder muß über sich einen haben, vor dem er Angst hat, und einen unter sich, der vor ihm Angst hat. Wohin kämen wir sonst! Wenn der erste beste sich einbildet, er ist ganz für sich selbst was und alle sind gleich! Wehe dem Volk, dessen überkommene, ehrwürdige Formen sich erst in den demokratischen Mischmasch auflösen, und wo der zersetzende Standpunkt der Persönlichkeit das Übergewicht bekommt!“ Hier verschränkte Gottlieb Hornung die Arme und schob den Nacken vor. „Ich,“ rief er, „der ich einer hochfeinen Verbindung angehört habe und den freudigen Blutverlust für die Ehre der Farben kenne, ich bedanke mich dafür, daß ich Zahnbürsten verkaufen soll!“

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„Und Schwämme auch nicht?“ fragte jemand.

„Auch nicht!“ entschied Hornung. „Ich verbitte mir ganz energisch, daß noch mal einer kommt. Man soll immer wissen, wen man vor sich hat. Jedem das Seine. Und in diesem Sinne geben wir unsere Stimme nur einem Kandidaten, der dem Kaiser so viel Soldaten bewilligt, als er haben will. Denn entweder haben wir einen Kaiser oder nicht!“

Damit trat Gottlieb Hornung zurück und sah, den Unterkiefer vorgeschoben, aus gefalteten Brauen in das Beifallsgebrause. Der Kriegerverein ließ es sich nicht nehmen, mit geschwungenen Biergläsern an ihm und Kunze vorbeizudefilieren. Kunze nahm Händedrücke entgegen, Hornung stand ehern da – und Diederich konnte nicht umhin, mit Bitterkeit zu empfinden, daß diese beiden zweitklassigen Persönlichkeiten den Vorteil hatten von einer Gelegenheit, die sein Werk war. Er mußte ihnen die Volksgunst des Augenblicks wohl lassen, denn er wußte besser als die beiden Gimpel, wo dies hinauswollte. Da der nationale Kandidat am Ende nur dazu da war, eine Hilfstruppe für Napoleon Fischer anzuwerben, tat man gut daran, sich nicht selbst hinauszustellen. Heuteufel freilich legte es darauf an, Diederich hervorzulocken. Der Vorsitzende, Pastor Zillich, konnte ihm das Wort nicht länger verweigern, sofort begann er vom Säuglingsheim. Das Säuglingsheim sei eine Sache des sozialen Gewissens und der Humanität. Was aber sei das Kaiser-Wilhelm-Denkmal? Eine Spekulation, und die Eitelkeit sei noch der anständigste der Triebe, auf die spekuliert werde.... Die Lieferanten dort unten hörten zu in einer Stille voll peinlicher Gefühle, denen hier und da ein dumpfes Murren entstieg. Diederich bebte. „Es gibt Leute,“ behauptete Heuteufel, „denen es auf hundert Millionen mehr für das [pg 411]Militär nicht ankommt, denn sie wissen schon, womit sie es für ihre Person wieder hereinbringen.“ Da schnellte Diederich auf: „Ich bitte ums Wort!“ und mit Bravo! Hoho! Abtreten! explodierten die Gefühle der Lieferanten. Sie grölten, bis Heuteufel fort war und Diederich dastand.

Diederich wartete lange, bevor das Meer der nationalen Empörung sich beruhigte. Dann begann er. „Meine Herren!“ „Bravo!“ schrien die Lieferanten, und Diederich mußte weiter warten in der Atmosphäre gleichgestimmter Gemüter, worin das Atmen ihm leicht war. Als sie ihn reden ließen, gab er der allgemeinen Empörung Worte, daß der Vorredner es habe wagen können, die Versammlung in ihrer nationalen Gesinnung zu verdächtigen. „Unerhört!“ riefen die Lieferanten. „Das beweist uns nur,“ rief Diederich, „wie zeitgemäß die Gründung der ‚Partei des Kaisers‘ war! Der Kaiser selbst hat befohlen, daß alle diejenigen sich zusammenschließen, die, ob edel oder unfrei, ihn von der Pest des Umsturzes befreien wollen. Das wollen wir, und darum steht unsere nationale und kaisertreue Gesinnung hoch über den Verdächtigungen derer, die selbst bloß eine Vorfrucht des Umsturzes sind!“ Noch bevor der Beifall losbrechen konnte, sagte Heuteufel sehr deutlich: „Abwarten! Stichwahl!“ Und obwohl die Lieferanten sogleich alles weitere im Getöse ihrer Hände erstickten, fand Diederich doch schon in diesen zwei Worten so gefährliche Andeutungen versteckt, daß er schnell ablenkte. Das Säuglingsheim war ein weniger verfängliches Gebiet. Wie? Eine Sache des sozialen Gewissens sollte es sein? Ein Ausfluß des Lasters war es! „Wir Deutschen überlassen so was den Franzosen, die ein sterbendes Volk sind!“ Diederich brauchte nur seinen Artikel aus der „Netziger Zeitung“ herzusagen. [pg 412]Der vom Pastor Zillich geleitete Jünglingsverein sowie die christlichen Handlungsgehilfen klatschten bei jedem Wort. „Der Germane ist keusch!“ rief Diederich, „darum haben wir im Jahre siebzig gesiegt!“ Jetzt war die Reihe am Kriegerverein, von Begeisterung zu dröhnen. Hinter dem Tisch des Vorstandes sprang Kühnchen auf, schwenkte seine Zigarre und kreischte: „Nu verklobben mer sie bald noch emal!“ Diederich hob sich auf die Zehen. „Meine Herren!“ schrie er angestrengt in die nationalen Wogen, „das Kaiser-Wilhelm-Denkmal soll eine Huldigung für den erhabenen Großvater sein, den wir, ich darf es sagen, alle fast wie einen Heiligen verehren, und zugleich ein Versprechen an den erhabenen Enkel, unseren herrlichen jungen Kaiser, daß wir so bleiben wollen wie wir sind, nämlich keusch, freiheitsliebend, wahrhaftig, treu und tapfer!“

Hier waren wieder die Lieferanten nicht mehr zu halten. Selbstvergessen schwelgten sie im Idealen – und auch Diederich war sich keiner weltlichen Hintergedanken mehr bewußt, nicht seines Paktes mit Wulckow, nicht seiner Verschwörung mit Napoleon Fischer, noch seiner dunkeln Absichten für die Stichwahl. Reine Begeisterung entführte seine Seele auf einen Flug, von dem ihr schwindelte. Erst nach einer Weile konnte er wieder schreien. „Abzuweisen und mit aller Schärfe hinter die ihnen gebührenden Schranken zurückzudämmen sind daher die Anwürfe derer, die weiter nichts wollen, als uns verweichlichen mit ihrer falschen Humanität!“ – „Wo haben Sie Ihre echte sitzen?“ fragte die Stimme Heuteufels und stachelte dadurch die nationale Gesinnung der Versammelten so hoch auf, daß Diederich nur noch stellenweise zu hören war. Man verstand, er wollte keinen ewigen Frieden, denn das war ein Traum und nicht einmal ein schöner. Da[pg 413]gegen wollte er eine spartanische Zucht der Rasse. Blödsinnige und Sittlichkeitsverbrecher waren durch einen chirurgischen Eingriff an der Fortpflanzung zu verhindern. Bei diesem Punkt verließ Heuteufel mit den Seinen das Lokal. Von der Tür rief er noch her: „Den Umsturz kastrieren Sie auch!“ Diederich antwortete: „Machen wir, wenn Sie noch lange nörgeln!“ „Machen wir!“ tönte es zurück von allen Seiten. Alle waren plötzlich auf den Füßen, prosteten, jauchzten und vermischten ihre Hochgefühle. Diederich, umbraust von Huldigungen, wankend unter dem Ansturm treudeutscher Hände, die die seinen schütteln wollten, und nationaler Biergläser, die mit ihm anstießen, sah von seiner Bühne in den Saal hinaus, der seinem durch Rausch getrübten Blick weiter und höher schien. Aus den höchsten Tabakswolken glühten ihn mystisch die Gebote seines Herrn an: „Der Wille des Königs!“ „Mein Feind!“ „Mein Kurs!“ Er wollte sie in das brausende Volk hineinschreien – aber er griff sich an die Kehle, kein Ton kam mehr: Diederich war stockheiser. Da sah er sich voll Sorge nach Heuteufel um, der leider fort war. „Ich hätte ihn nicht so reizen sollen. Jetzt gnade mir Gott, wenn er mich pinselt.“

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