Читать книгу Gesammelte Werke - Heinrich Mann - Страница 23

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Denselben Tag nachmittags hatten Emmi und Magda eine Einladung zum Tee bei Frau von Wulckow, und Diederich begleitete sie. Erhobenen Hauptes schritten die Geschwister über die Kaiser-Wilhelm-Straße, Diederich lüftete kühl den Zylinder vor den Herren, die von den Stufen der Freimaurerloge erstaunt zusahen, wie er das Gebäude der Regierung betrat. Den Wachtposten begrüßte er mit einer jovialen Handbewegung. Droben in der Garderobe stieß man auf Offiziere und ihre Damen, denen die beiden Fräulein Heßling schon bekannt waren. Die Sporen zusammenschlagend, zog der Leutnant von Brietzen Emmi den Mantel aus, und sie dankte ihm über die Schulter, wie eine Gräfin. Sodann trat sie Diederich auf den Fuß, damit er merke, auf welchen heißen Boden er versetzt sei. Und wirklich, als man nun Herrn von Brietzen den Vortritt in den Salon aufgenötigt, vor der Präsidentin entzückte Kratzfüße ausgeführt hatte und mit allen bekannt geworden war: welche Aufgabe, so ehrenvoll wie gefährlich, auf einem Stühlchen zwischen Damenkleider eingeengt, die Teetasse im Gleichgewicht zu erhalten, während man Kuchenteller weitergab, und mit dem Kuchen ein huldigendes Lächeln zu spenden und beim Essen ein schmelzendes Wort über die so gelungene Aufführung der „Heimlichen Gräfin“ zu liefern, ein männlich anerkennendes für die großzügige Verwaltungstätigkeit des Präsidenten, ein gewichtiges über Umsturz und Kaisertreue – und dabei noch den Wulckowschen Hund zu füttern, der bettelte! An die anspruchslose Gesellschaft des Ratskellers oder des Kriegervereins durfte [pg 351]man hier nicht denken; es hieß mit aufreibendem Lächeln in die wasserhellen Augen des Hauptmanns von Köckeritz starren, dessen Glatze weiß, dessen Gesicht von der Mitte der Stirn abwärts feuerrot war und der vom Exerzierplatz erzählte. Und wenn einem vor Gespanntheit auf die Frage, ob man gedient habe, schon der Schweiß ausbrach, erlebte man es unversehens, daß die Dame neben einem, die ihr weißblondes Haar glatt über den Kopf hinaufkämmte und eine sonnenverbrannte Nase hatte, von Pferden zu sprechen anfing ... Diesmal ward Diederich durch Emmi gerettet, denn Emmi, unterstützt von Herrn von Brietzen, mit dem sie geradezu auf vertrautem Fuß zu stehen schien, griff gewandt in das Pferdegespräch ein, gebrauchte fachmännische Ausdrücke, ja, schreckte nicht davor zurück, von Ritten ins Gelände zu phantasieren, die sie auf dem Gut einer Tante unternommen haben wollte. Als der Leutnant sich dann erbot, mit ihr auszureiten, schützte sie die arme Frau Heßling vor, die es nicht erlaube. Diederich erkannte Emmi nicht wieder. Ihre unheimlichen Talente ließen Magda, der es doch gelungen war, sich zu verloben, hier ganz im Schatten. Nicht ohne Bangen ward Diederich, wie nach seiner Rückkehr aus dem „grünen Engel“, sich der unberechenbaren Wege bewußt, die ein Mädchen, wenn man es nicht sah –. Da bemerkte er, daß er eine Frage der Präsidentin überhört hatte, und daß man schwieg, weil er antworten sollte. Er suchte in der Luft umher nach Hilfe, stieß aber nur auf den unerbittlichen Blick eines großen Bildnisses, bleich und steinern, in roter Husarenuniform, eine Hand auf der Hüfte, der Schnurrbart an den Augenwinkeln, und der Blick über die Schulter hinweg kalt blitzend! Diederich erbebte, er verschluckte sich mit Tee, Herr von Brietzen klopfte ihm den Rücken.

Eine Dame, die bisher nur immer gegessen hatte, sollte jetzt singen. Im Musikzimmer hatte man sich gruppiert. Diederich, an der Tür, zog verstohlen die Uhr, da hüstelte hinter ihm die Präsidentin. „Ich weiß wohl, lieber Doktor, daß Sie nicht uns und unserer leichten, ich möchte sagen allzu leichten Konversation Ihre Zeit opfern, die so ernsten Pflichten gehört. Mein Mann erwartet Sie, kommen Sie nur.“ Den Finger auf den Lippen ging sie voran, über einen Gang, durch ein leeres Vorzimmer ... Ganz leise klopfte sie. Da keine Antwort kam, sah sie ängstlich auf Diederich, dem auch nicht wohl war. „Ottochen“, versuchte sie, zärtlich an die verschlossene Tür geschmiegt. Nach einer Weile des Lauschens erhob sich drinnen die fürchterliche Baßstimme: „Hier ist kein Ottochen! Sag’ den Schafsköpfen, Sie sollen ihren Tee allein saufen!“ – „Er ist so sehr beschäftigt“, flüsterte Frau von Wulckow, ein wenig bleicher. „Die Schlechtgesinnten untergraben seine Gesundheit ... Leider muß ich mich jetzt meinen Gästen widmen, der Diener soll Sie anmelden.“ Und sie entschwebte.

Diederich wartete vergeblich auf den Diener, lange Minuten. Dann aber trat der Wulckowsche Hund ein, schritt riesenhaft und voll Verachtung an Diederich vorbei und kratzte an der Tür. Sofort ertönte es drinnen: „Schnaps! Komm herein!“ – worauf die Dogge die Tür aufklinkte. Da sie vergaß, sie wieder zu schließen, erlaubte Diederich sich, mit hineinzuschlüpfen. Herr von Wulckow saß in einer Rauchwolke am Schreibtisch, er wendete den ungeheuren Rücken her.

„Guten Tag, Herr Präsident“, sagte Diederich, mit einem Kratzfuß. „Na nu, quatschst du auch schon, Schnaps?“ fragte Wulckow, ohne sich umzusehen. Er faltete ein Papier, zündete langsam eine neue Zigarre an ... „Jetzt [pg 353]kommt es“, dachte Diederich. Aber dann begann Wulckow etwas anderes zu schreiben. Interesse an Diederich nahm nur der Hund. Offenbar fand er den Gast hier noch weniger am Platz, seine Verachtung ging in Feindseligkeit über; mit gefletschten Zähnen beschnupperte er Diederichs Hose, fast war es kein Schnuppern mehr. Diederich tanzte, so geräuschlos wie möglich, von einem Fuß auf den anderen, und die Dogge knurrte drohend aber leise, wohl wissend, ihr Herr könnte es sonst nicht weiter kommen lassen. Endlich gelang es Diederich, zwischen sich und seinen Feind einen Stuhl zu bringen, an den geklammert er sich umherdrehte, bald langsamer, bald schneller, und immer auf der Hut vor Schnaps’ Seitensprüngen. Einmal sah er Wulckow den Kopf ein wenig wenden und glaubte ihn schmunzeln zu sehen. Dann hatte der Hund genug von dem Spiel, er ging zum Herrn und ließ sich streicheln; und neben Wulckows Stuhl hingelagert, maß er mit kühnen Jägerblicken Diederich, der sich den Schweiß wischte.

„Gemeines Vieh!“ dachte Diederich – und plötzlich wallte es auf in ihm. Empörung und der dicke Qualm verschlugen ihm den Atem, er dachte, mit unterdrücktem Keuchen: „Wer bin ich, daß ich mir das bieten lassen muß? Mein letzter Maschinenschmierer läßt sich das von mir nicht bieten. Ich bin Doktor. Ich bin Stadtverordneter! Dieser ungebildete Flegel hat mich nötiger als ich ihn!“ Alles, was er heute nachmittag erlebt hatte, nahm den übelsten Sinn an. Man hatte ihn verhöhnt, der Bengel von Leutnant hatte ihm den Rücken geklopft! Diese Kommißköpfe und adeligen Puten hatten die ganze Zeit von ihren albernen Angelegenheiten geredet und ihn wie dumm dabei sitzen lassen! „Und wer bezahlt die frechen Hungerleider? Wir!“ Gesinnung und Gefühle, alles [pg 354]stürzte in Diederichs Brust auf einmal zusammen, und aus den Trümmern schlug wild die Lohe des Hasses. „Menschenschinder! Säbelraßler! Hochnäsiges Pack!... Wenn wir mal Schluß machen mit der ganzen Bande –!“ Die Fäuste ballten sich ihm von selbst, in einem Anfall stummer Raserei sah er alles niedergeworfen, zerstoben: die Herren des Staates, Heer, Beamtentum, alle Machtverbände und sie selbst, die Macht! Die Macht, die über uns hingeht und deren Hufe wir küssen! Gegen die wir nichts können, weil wir alle sie lieben! Die wir im Blut haben, weil wir die Unterwerfung darin haben! Ein Atom sind wir von ihr, ein verschwindendes Molekül von etwas, das sie ausgespuckt hat!... Von der Wand dort, hinter blauen Wolken, sah eisern hernieder ihr bleiches Gesicht, eisern, gesträubt, blitzend: Diederich aber, in wüster Selbstvergessenheit, hob die Faust.

Da knurrte der Wulckowsche Hund, unter dem Präsidenten hervor aber kam ein donnerndes Geräusch, ein lang hinrollendes Geknatter – und Diederich erschrak tief. Er verstand nicht, was dies für ein Anfall gewesen war. Das Gebäude der Ordnung, wieder aufgerichtet in seiner Brust, zitterte nur noch leise. Der Herr Regierungspräsident hatte wichtige Staatsgeschäfte. Man wartete eben, bis er einen bemerkte; dann bekundete man gute Gesinnung und sorgte für gute Geschäfte ...

„Na, Doktorchen?“ sagte Herr von Wulckow und drehte seinen Sessel herum. „Was ist mit Ihnen los? Sie werden ja der reine Staatsmann. Setzen Sie sich mal auf diesen Ehrenplatz.“

„Ich darf mir schmeicheln“, stammelte Diederich. „Einiges habe ich schon erreicht für die nationale Sache.“

Wulckow blies ihm einen mächtigen Rauchkegel ins [pg 355]Gesicht, dann kam er ihm ganz nahe mit seinen warmblütigen, zynischen Augen und ihrer Mongolenfalte. „Sie haben erstens erreicht, Doktorchen, daß Sie Stadtverordneter geworden sind. Wie, das wollen wir auf sich beruhen lassen. Jedenfalls konnten Sie es brauchen, denn Ihr Geschäft soll ja ’ne ziemlich faule Karre sein.“ Da Diederich zusammenzuckte, lachte Wulckow dröhnend. „Lassen Sie nur, Sie sind mein Mann. Was meinen Sie, das ich da geschrieben habe?“ Das große Blatt Papier verschwand unter der Pranke, die er darauf legte. „Da verlange ich vom Minister einen kleinen Piepmatz für einen gewissen Doktor Heßling, in Anerkennung seiner Verdienste um die gute Gesinnung in Netzig ... Für so nett haben Sie mich wohl gar nicht gehalten?“ setzte er hinzu, denn Diederich, mit einer Miene, geblendet und wie mit Blödheit geschlagen, machte von seinem Stuhl herab immerfort Verbeugungen. „Ich weiß tatsächlich nicht“, brachte er hervor. „Meine bescheidenen Verdienste –“

„Aller Anfang ist schwer“, sagte Wulckow. „Es soll auch nur eine Aufmunterung sein. Ihre Haltung im Prozeß Lauer war nicht übel. Na und Ihr Kaiserhoch in der Kanalisationsdebatte hat die antimonarchische Presse ganz aus dem Häuschen gebracht. Schon an drei Orten im Lande ist deshalb Anklage wegen Majestätsbeleidigung erhoben. Da müssen wir uns Ihnen wohl erkenntlich zeigen.“

Diederich rief aus: „Mein schönster Lohn ist es, daß der Lokal-Anzeiger meinen schlichtbürgerlichen Namen vor die Allerhöchsten Augen selbst gebracht hat!“

„Na, nu nehmen Sie sich mal ’ne Zigarre“, schloß Wulckow; und Diederich begriff, daß jetzt die Geschäfte kamen. Schon inmitten der Hochgefühle waren ihm Zweifel aufgestiegen, ob Wulckows Gnade vor allem [pg 356]anderen nicht eine ganz besondere Ursache habe. Er sagte versuchsweise:

„Für die Bahn nach Ratzenhausen wird die Stadt nun doch wohl den Beitrag bewilligen.“

Wulckow streckte den Kopf vor. „Ihr Glück. Wir haben sonst ein billigeres Projekt, darauf wird Netzig überhaupt nicht berührt. Also sorgen Sie dafür, daß die Leute Vernunft annehmen. Unter der Bedingung dürft ihr dann dem Rittergut Quitzin euer Licht liefern.“

„Das will der Magistrat auch nicht.“ Diederich bat mit den Händen um Nachsicht. „Die Stadt hat Schaden dabei, und Herr von Quitzin zahlt uns keine Steuern ... Aber jetzt bin ich Stadtverordneter, und als nationaler Mann –“

„Das möchte ich mir ausbitten. Mein Vetter Herr von Quitzin baut sich sonst einfach ein Elektrizitätswerk, das hat er billig, was glauben Sie, zwei Minister kommen bei ihm zur Jagd – und dann unterbietet er euch hier in Netzig selbst.“

Diederich richtete sich auf. „Ich bin entschlossen, Herr Präsident, allen Anfeindungen zum Trotz in Netzig das nationale Banner hochzuhalten.“ Hierauf, mit gedämpfter Stimme: „Einen Feind können wir übrigens loswerden: einen besonders schlimmen, jawohl, den alten Klüsing in Gausenfeld.“

„Der?“ Wulckow feixte verächtlich. „Der frißt mir aus der Hand. Er liefert Papier für die Kreisblätter.“

„Wissen Sie, ob er für schlechte Blätter nicht noch mehr liefert? Darüber, Herr Präsident verzeihen, bin ich doch wohl besser informiert.“

„Die Netziger Zeitung ist jetzt in nationaler Beziehung zuverlässiger geworden.“

„Und zwar –“ Diederich nickte gewichtig, „seit dem [pg 357]Tage, an dem der alte Klüsing mir, Herr Präsident, einen Teil der Papierlieferung hat anbieten lassen. Gausenfeld sei überlastet. Natürlich hatte er Angst, daß ich mich an einem nationalen Konkurrenzblatt beteilige. Und vielleicht hatte er auch Angst –“ eine bedeutsame Pause – „daß der Herr Präsident das Papier für die Kreisblätter lieber bei einem nationalen Werk bestellt.“

„Also – Sie liefern jetzt für die Netziger Zeitung?“

„Niemals, Herr Präsident, werde ich meine nationale Gesinnung so sehr verleugnen, daß ich an eine Zeitung liefere, solange noch freisinniges Geld drin ist.“

„Na schön.“ Wulckow stemmte die Fäuste auf die Schenkel. „Jetzt brauchen Sie nichts mehr zu sagen. Sie wollen bei der Netziger Zeitung das Ganze. Die Kreisblätter wollen Sie auch. Wahrscheinlich auch die Papierlieferungen für die Regierung. Sonst noch was?“

Und Diederich, sachlich:

„Herr Präsident, ich bin nicht wie Klüsing, mit dem Umsturz mach’ ich keine Geschäfte. Wenn Sie, Herr Präsident, auch als Vorstand der Bibelgesellschaft mein Unternehmen stützen wollten, ich darf sagen, die nationale Sache würde nur gewinnen.“

„Na schön“, wiederholte Wulckow und zwinkerte. Diederich spielte seinen Trumpf aus.

„Herr Präsident! Unter Klüsing ist Gausenfeld eine Brutstätte des Umsturzes. Bei seinen achthundert Arbeitern ist nicht einer dabei, der anders wählt als sozialdemokratisch.“

„Na und bei Ihnen?“

Diederich schlug sich auf die Brust. „Gott ist mein Zeuge, daß ich lieber noch heute die Bude zumache und mit den Meinen ins Elend hinausziehe, als daß ich einen [pg 358]einzigen Mann bei mir dulde, von dem ich weiß, er ist nicht kaisertreu.“

„Sehr brauchbare Gesinnung“, sagte Wulckow. Diederich sah ihn mit blauen Augen an. „Ich nehme nur gediente Leute, vierzig haben den Krieg mitgemacht. Jugendliche beschäftige ich gar nicht mehr, seit der Geschichte mit dem Arbeiter, den der Wachtposten auf dem Felde der Ehre, wie Seine Majestät festzustellen geruhten, niedergestreckt hat, nachdem der Kerl mit seiner Braut hinter meinen Lumpen –“

Wulckow winkte ab. „Ihre Sorge, Doktorchen!“

Diederich ließ sich seinen Entwurf nicht verderben. „Unter meinen Lumpen darf kein Umsturz vorkommen. Mit Ihren Lumpen, ich meine in der Politik, ist es anders. Da können wir den Umsturz brauchen, damit aus den freisinnigen Lumpen weißes, kaisertreues Papier wird.“ Und er machte eine tief bedeutungsvolle Miene. Wulckow schien nicht verblüfft, er schmunzelte furchtbar.

„Doktorchen, ich bin auch nicht von gestern. Legen Sie los, was haben Sie mit Ihrem Maschinenmeister ausgeknobelt?“

Da er Diederich wanken sah, fuhr Wulckow fort: „Das ist auch einer von den Altgedienten, wie, Herr Stadtverordneter?“

Diederich schluckte, er sah, daß es keinen Umweg mehr gab. „Herr Präsident“, sagte er mit einem Entschluß; und dann leise und hastig: „Der Mann will in den Reichstag, und vom nationalen Standpunkt ist er besser als Heuteufel. Denn erstens werden viele Freisinnige vor Schreck national werden, und zweitens kriegen wir, wenn Napoleon Fischer gewählt wird, in Netzig ein Kaiser-Wilhelm-Denkmal. Ich habe es schriftlich.“

Er breitete ein Papier hin vor den Präsidenten. Wulckow las, dann stand er auf, warf den Stuhl mit dem Fuß fort und ging, Rauch ausstoßend, durch das Zimmer. „Also Kühlemann kratzt ab, und von seiner halben Million baut die Stadt kein Säuglingsheim, sondern ein Kaiser-Wilhelm-Denkmal.“ Er blieb stehen. „Merken Sie sich das, mein Lieber, in Ihrem eigensten Interesse! Wenn Netzig nachher einen Sozialdemokraten im Reichstag, aber keinen Wilhelm den Großen hat, dann lernen Sie mich kennen. Ich mache Frikassee aus Ihnen! Ich schlag’ Sie so klein, daß Sie nicht mal mehr im Säuglingsheim Aufnahme finden!“

Diederich war mitsamt seinem Stuhl zurückgewichen bis an die Wand. „Herr Präsident! Alles, was ich bin, meine ganze Zukunft setze ich ein für diese große nationale Sache. Auch mir kann etwas Menschliches passieren ...“

„Dann gnade Ihnen Gott!“

„Wenn nun Kühlemanns Nierensteine sich doch noch verziehen?“

„Sie haben die Verantwortung! Um meinen Kopf geht es auch!“ Wulckow ließ sich krachend auf seinen Sitz fallen. Er rauchte wütend. Als die Wolken zergingen, hatte er sich aufgeheitert. „Was ich Ihnen auf dem Harmoniefest gesagt habe, dabei bleibt es. Dieser Reichstag macht es nicht mehr lange, arbeiten Sie vor in der Stadt. Helfen Sie mir gegen Buck, ich helfe Ihnen gegen Klüsing.“

„Herr Präsident!“ Wulckows Lächeln schuf in Diederich einen Überschwang von Hoffnung, er konnte nicht an sich halten. „Wenn Sie es ihn unter der Hand wissen ließen, daß Sie ihm eventuell die Aufträge entziehen! An die große Glocke hängt er es nicht, das brauchen Sie nicht zu fürchten; aber er wird seine Anstalten treffen. Vielleicht verhandelt er –“

„Mit seinem Nachfolger“, schloß Wulckow. Da mußte Diederich aufspringen und seinerseits durch das Zimmer laufen. „Wenn Sie wüßten, Herr Präsident ... Gausenfeld ist sozusagen eine Maschine mit Tausendpferdekraft, und die steht da und verrostet, weil der Strom fehlt, ich will sagen, der moderne, großzügige Geist!“

„Den scheinen Sie zu haben“, meinte Wulckow.

„Im Dienst der nationalen Sache“, beteuerte Diederich. Er kehrte zurück. „Das Kaiser-Wilhelm-Denkmal-Komitee wird sich glücklich schätzen, wenn es uns gelingen würde, daß Sie so gut sind, Herr Präsident, und bekunden der Sache Ihr geschätztes Interesse durch Annahme des Ehrenvorsitzes.“

„Gemacht“, sagte Wulckow.

„Die aufopfernde Tätigkeit seines Herrn Ehrenvorsitzenden wird das Komitee entsprechend zu würdigen wissen.“

„Erklären Sie sich mal näher!“ In Wulckows Stimme grollte es unheilvoll, aber Diederich bei seiner Angeregtheit überhörte es.

„Die Idee hat bereits zu gewissen Erörterungen im Schoße des Komitees geführt. Man wünscht das Denkmal in frequentester Lage zu errichten und mit einem Volkspark zu umgeben, damit nämlich die unlösbare Verbindung von Herrscher und Volk sinnfällig in die Erscheinung tritt. Da haben wir nun im Zentrum der Stadt an ein größeres Grundstück gedacht; auch die Nachbargebäude wären zu haben; es ist in der Meisestraße.“

„Soso. Meisestraße.“ Wulckows Brauen hatten sich gewitterhaft zusammengezogen. Diederich erschrak, aber es gab kein Halten mehr.

„Der Gedanke ist aufgetaucht, daß wir uns, noch bevor die Stadt der Sache näher tritt, die betreffenden Grundstücke sichern und unbefugten Spekulationen zuvorkommen [pg 361]sollen. Unser Herr Ehrenvorsitzender hätte natürlich das erste Anrecht ...“

Nach diesem Wort wich Diederich zurück, der Sturm brach los. „Herr! Für wen halten Sie mich? Bin ich Ihr Geschäftsagent? Das ist unerhört, das war noch nicht da! So ein Koofmich mutet dem Königlichen Regierungspräsidenten zu, er soll seine schmutzigen Geschäfte mitmachen!“

Wulckow dröhnte übermenschlich, er drang mit seiner gewaltigen Körperwärme und mit seinem persönlichen Geruch gegen Diederich vor, der sich rückwärts bewegte. Auch der Hund war aufgestanden und ging kläffend zum Angriff über. Das Zimmer war auf einmal erfüllt von Graus und Getöse.

„Sie machen sich einer schweren Beamtenbeleidigung schuldig, Herr!“ schrie Wulckow, und Diederich, der hinter sich nach der Tür tastete, hatte nur Vermutungen darüber, wer ihm früher an der Kehle sitzen werde, der Hund oder der Präsident. Seine angstvoll irrenden Augen trafen das bleiche Gesicht, das von der Wand herab drohte und blitzte. Nun hatte er sie an der Kehle, die Macht! Vermessen hatte er sich, mit der Macht auf vertrautem Fuß zu verkehren. Das war sein Verderben, sie brach über ihn herein mit dem Entsetzen eines Weltuntergangs ... Die Tür hinter dem Schreibtisch ging auf, jemand in Polizeiuniform trat ein. Den schlotternden Diederich überraschte er nicht mehr. Wulckow ward durch die Gegenwart der Uniform auf einen neuen furchtbaren Gedanken gebracht. „Ich kann Sie augenblicklich verhaften lassen, Sie Jammerprinz, wegen versuchter Beamtenbestechung, wegen Bestechungsversuch an einer Behörde, an der obersten Behörde des Regierungsbezirks! Ich bringe Sie ins Zuchthaus, ich ruiniere Sie für Ihr Leben!“

Auf den Herrn von der Polizei schien dieses Jüngste Gericht nicht entfernt den Eindruck zu machen wie auf Diederich. Er legte das Papier, das er brachte, auf den Schreibtisch nieder und verschwand. Übrigens drehte auch Wulckow sich plötzlich um; er zündete seine Zigarre wieder an, Diederich war nicht mehr da für ihn. Und auch Schnaps ließ von ihm ab, als sei er Luft. Da wagte Diederich es, die Hände zu falten.

„Herr Präsident,“ flüsterte er wankend, „Herr Präsident, erlauben Herr Präsident, daß ich feststellen darf, es liegt ein, darf ich feststellen, tief bedauerliches Mißverständnis vor. Nie würde ich, bei meiner wohlbekannten nationalen Gesinnung –. Wie könnte ich!“

Er wartete, aber niemand bekümmerte sich um ihn.

„Wenn ich auf meinen Vorteil sähe,“ begann er wieder, um etwas vernehmlicher, „anstatt daß ich immer nur das nationale Interesse im Auge habe, dann wäre ich heute nicht hier, dann wäre ich bei dem Herrn Buck. Denn der Herr Buck, jawohl, der hat mir zugemutet, ich soll mein Grundstück an die Stadt verkaufen, für das freisinnige Säuglingsheim. Aber das Ansinnen hab’ ich mit Entrüstung zurückgewiesen und habe den geraden Weg gefunden zu Ihnen, Herr Präsident. Denn besser, hab’ ich gesagt, das Denkmal Kaiser Wilhelms des Großen im Herzen als das Säuglingsheim in der Tasche, hab’ ich gesagt und sag’ es auch hier mit lauter Stimme!“

Da Diederich in der Tat die Stimme erhob, wandte Wulckow sich ihm zu. „Sind Sie noch immer da?“ fragte er. Und Diederich, aufs neue ersterbend: „Herr Präsident –“

„Was wollen Sie noch? Ich kenne Sie überhaupt nicht. Habe nie mit Ihnen verhandelt.“

„Herr Präsident, im nationalen Interesse –“

„Mit Grundstücksspekulanten verhandele ich nicht. Verkaufen Sie Ihr Grundstück, und dalli; nachher können wir reden.“

Diederich, erblaßt, mit dem Gefühl, als werde er an der Wand zerquetscht: „In dem Fall bleibt es bei unseren Bedingungen? Der Orden? Der Wink an Klüsing? Der Ehrenvorsitz?“

Wulckow zog eine Grimasse. „Meinetwegen. Aber sofort verkaufen!“

Diederich rang nach Atem. „Ich bringe das Opfer!“ erklärte er. „Denn das Höchste, was der kaisertreue Mann hat, meine kaisertreue Gesinnung, muß über jedem Verdacht stehen.“

„Na ja“, sagte Wulckow, indes Diederich sich zurückzog, stolz auf seinen Abgang, wenn auch beengt durch die Empfindung, daß der Präsident ihn als Bundesgenossen nicht lieber ertrug als er selbst seinen Maschinenmeister.

Im Salon fand er Emmi und Magda ganz allein in einem Prachtwerk blätternd. Die Gäste waren fort, und auch Frau von Wulckow hatte sie verlassen, weil sie sich anziehen mußte zur Soiree bei der Frau Oberst von Haffke. „Meine Unterredung mit dem Präsidenten ist für beide Teile durchaus befriedigend verlaufen“, stellte Diederich fest; und draußen auf der Straße: „Da sieht man es, was es heißt, wenn zwei loyale Männer verhandeln. In dem heutigen verjudeten Geschäftsbetrieb kennt man das gar nicht mehr.“

Emmi, gleichfalls sehr angeregt, erklärte, daß sie Reitstunden nehmen werde. „Wenn ich dir das Geld gebe“, sagte Diederich, aber nur der Ordnung wegen, denn er war stolz auf Emmi. „Hat Leutnant von Brietzen nicht Schwestern?“ bemerkte er. „Du solltest bekannt werden [pg 364]und uns Einladungen verschaffen zur nächsten Soiree der Frau Oberst.“ Gerade ging drüben der Oberst vorbei. Diederich sah ihm lange nach. „Ich weiß wohl,“ sagte er, „man soll sich nicht umdrehen; aber das ist nun mal das Höchste, es zieht einen hin!“

Dennoch hatte der Vertrag mit Wulckow nur seine Sorgen vergrößert. Der handgreiflichen Verpflichtung, sein Haus zu verkaufen, stand nichts gegenüber als Hoffnungen und Aussichten: nebelhafte Aussichten, allzu kühne Hoffnungen ... Es fror; Diederich ging am Sonntag in den Stadtpark, wo es schon dunkelte, und auf einem einsamen Pfad begegnete er Wolfgang Buck.

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