Читать книгу Heinrich Mann - Sämtliche Romane - Heinrich Mann - Страница 10

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mütig lockende Aussicht, an den bekannten Plätzen das Andenken ihrer Mutter hervorzurufen, gleichsam der Erinnerung an ihre Kinderfreuden, die dort für sie in der Luft lag, nun ihr Frauenglück vorzuführen – und beide in einem zu genießen.

Wellkamp brachte im Gegenteil der Stadt, die für ihn vor allem der Schauplatz eines starken Leides war, eine Art von Trotz entgegen. Jeder Ort, den er berührt, mochte er ihn im übrigen bisweilen nahezu vergessen haben, pflegte ihm ein deutliches Andenken an die Stimmung zu hinterlassen, mit welcher er an ihm verweilt, so daß er ihn am Ende nur noch durch den Schleier solcher persönlichen Erinnerung sah. So wurde ihm sein jetziger froher und hoffnungsreicher Einzug in Berlin gleichsam zu einem Triumph über die traurigen Erfahrungen, die er hier während seines letzten Aufenthaltes durchlebt.

Um so inniger ergriff ihn gerade jetzt der Zauber von Annas Herzensreife, die stets durch die häufig so jugendlich einseitigen Äußerungen ihres Verstandes hindurch fühlbar wurde. Er betrachtete es als ein Glück, keiner ganz naiven Frau das großstädtische Treiben erläutern zu müssen. Es vermehrte ihre Intimität noch um das Gefühl wohliger Kameradschaft, wenn er die Sicherheit bemerkte, mit der sie sich in der fremden, nicht mehr gewohnten Umgebung bewegte. Sie brachte allem Neuen ihre ruhige, in ihrer Selbstsicherheit wurzelnde Urteilskraft entgegen. Sie empfing weniger leicht und weniger fein unterschiedene geistige Eindrücke als er, aber sie durchlebte das einmal Aufgenommene gründlicher und bewahrte es besser. Ihre Betrachtungsweise war, ohne darum innerlich teilnahmslos und fischblütig zu sein, immer weniger auf das Bildliche, Sinnenfällige einer Sache als auf ihren Ideengehalt gerichtet.

Dies zeigte sich besonders im Theater, wo sie mit Vorliebe ihre Abende verbrachten. Verrät sich doch hier, ganz wie auf der Bühne das Leben zusammengezogen und in eine starke Essenz verarbeitet erscheint, auch im Zuschauerraum so viel rascher und stärker als anderswo die Verschiedenheit der Anlagen; der Bildung und des Geschmacks. Sie verriet sich etwa im Zwischenakte eines lustigen Pariser Stückes, während des ungewissen, summenden Geräusches, das aus dem Plaudern und Lachen des ganzen Saales, aus dem Klappen der Sessel, dem Schließen der Logentüren, dem Gehen und Kommen zusammengesetzt war. Eine kleine nachlässige Bemerkung, über den Fächer hinweg und das Glas auf die gegenüberliegende Loge gerichtet, zeigte sie.

»Sehr unterhaltend«, sagte Wellkamp. »Ein Feuerwerk von guten Worten. Aber ist es nicht doch etwas zu frivol? Man muß nicht egoistisch sein; ich bedauere vielleicht doch, Dich hergeführt zu haben.«

»Aber nein«, erwiderte die junge Frau eifrig; »die Frage, die zu Grunde liegt, interessiert mich aufrichtig. Das hat ja viel größere Bedeutung als man meint.«

Ein anderes Mal war es, als man sich zum Ausgang den engen Wandelgang entlang schob, inmitten des hin und her wehenden charakteristischen Duftes, den so viele aneinandergedrängte Frauenkörper und ihre Toiletten, die parfümierten Barte der Herren und ihre an den Rock gehefteten Blumen ausatmeten.

»Diese laxe Moral«, bemerkte Anna, draußen in der frischen Luft aufatmend, »braucht man wirklich nicht mehr von der Bühne zu predigen. Sie ist ohnedies üblich genug.«

»Wie meinst Du? Ich muß sagen, daß ich mich schrecklich gelangweilt habe. Mir war die Wohlanständigkeit etwas zu groß für ein Stück, das keinen tieferen Reiz besitzt.«

Die Oper besuchten sie selten. Anna verstand es wenig, Musik zu genießen. Sie kannte durchaus nichts von der Hingabe an eine Phantasie und Empfindung anregende und auch wohl aufreizende Musik. So konnte ihr die Mehrzahl der in Opern gehörten Vokal- und Orchesterkompositionen nichts sagen. Doch fand sie Geschmack an einer gewissen schwereren Gattung von Konzertmusik; vor allem liebte sie Beethoven. Die Art ihres Musikgenusses bestand vorzugsweise darin, die Tonreihen zu verfolgen, ihre Wiederkehr und ihre Abstufung, gleichsam ihre Logik zu studieren, wodurch auch hier wieder ihr Vergnügen ein mehr geistiges wurde, als man im allgemeinen aus der Musik zu schöpfen pflegt.

Im ganzen war die Art, wie die junge Frau sich zu Leben und Tod stellte, sicherlich sehr verständig und hatte hier und da selbst einen leisen Beigeschmack von Trockenheit. Durch diese ihre Art wurde auch das Verhältnis zu ihrem Gatten mit bestimmt. In ihrer ruhigen, liebevollen Hingabe an ihn, die sich vom ersten Tage an gleich geblieben, war wenig von dem mehr nervösen Verständnis für leisere und unmerklichere Augenblicksempfindungen enthalten, denen er seinerseits so leicht zugänglich war.

Gelegentlich teilte er sie ihr indes mit. Auf ihren häufigen Spaziergängen im Tiergarten waren sie einmal stehen geblieben, um den Schlittschuhläufern zuzusehen. Sie verfolgten mit den Blicken das flinke, gleitende Durcheinander der graziösen Gestalten und kleidsamen Sporttrachten und das Lachen auf all den frisch geröteten Gesichtern. Das Bild, in die dünne, klare Winterluft gestellt und in der blendenden Eisfläche gespiegelt, war fast zu scharf für die Augen, die den Atemhauch, der um alle Köpfe wehte, als eine wohltuende Milderung empfanden.

Wellkamp deutete auf die schneebeladenen Büsche und Bäume ringsumher.

»Die Sonne bricht durch«, sagte er. »Sieh, wie sie auf den Zweigen ganz denselben spitzen, kurzen Glanz hervorbringt wie dort auf den Säbelscheiden der Offiziere.«

»Wirklich!« stimmte Anna bei.

»Sie macht alles nur noch kälter. Aber wenn man in all die Kälte mit unsern Augen hineinsieht – mir wird innerlich nur noch wärmer. Was meinst Du? Zwei Herzen vermögen eine ganze Landschaft zu erwärmen.«

Er hatte die Hand, die Anna unter seinen Arm geschoben, in die seine genommen. Die junge Frau sah bei dieser Berührung auf mit einem Blick, in dem dieselben warmen Schauer erzitterten, wie in dem Ton seiner Worte. Sie gingen, für beide fühlbar, aus seinem Körper in den ihren hinüber.

Wellkamps Liebe hatte während des Berliner Aufenthaltes den Zusatz einer Sentimentalität erhalten, die ihm ehemals unter allen Umständen fremd gewesen war. Diese Erscheinung mochte zum Teil an den Umständen des jetzigen Verhältnisses liegen, die von denen seiner früheren, flüchtigen Abenteuer so völlig verschieden waren. Das Gefühl von jetzt konnte seiner Natur nach nichts von jenem übermütigen oder leidenschaftlichen, immer aber gedankenlosen Für-den-Augenblick-leben haben. Jedenfalls mußte dies bald hinter die ruhigeren, auf die Zukunft bedachtsamen Bestandteile der ehelichen Empfindungen zurücktreten. Aber es trug zu jener neuen Regelung ebensosehr etwas anderes bei, das von außen her auf den zunächst durch die Art ihrer Beziehungen gestimmten Seelenzustand einwirkte. Es lag in der Luft und war kaum näher zu erklären denn als die Verlockung zu einer weicheren, mehr schwärmerischen Hingabe, die sich dann am ehesten einstellte, wenn das geräuschvolle, gefühllose und auch wohl brutale Straßenleben sie am heftigsten umbrandete. Es war die seltsame Sentimentalität der Großstadtliebe, in welcher so viel von einer süßen Melancholie des Fremd- und Alleinseins liegt. Wie sehr fühlte man sich mit den sanften Geheimnissen seiner Seele verschieden von dem seelenlosen und harten Getriebe ringsumher, und wie ganz nur auf einander angewiesen!

Wellkamp sollte später oft einer Stunde gedenken, in welcher er von dieser Stimmung besonders stark und vollständig eingenommen war. Es war an jenem Dezember-Nachmittag eine stille, sonnig-milde Luft, so daß sie für ein paar Minuten auf den schmalen Balkon des Café Bauer hinaustraten. Sie waren seit einigen Augenblicken schweigsam geworden. Nur wie ein unendlicher Schwärm summender und schwärmender Insekten stieg von unten das Geräusch der Stimmen und des Lachens, der Pferdehufe, der knirschenden Räder zu ihnen hinauf. Es war so seltsam ineinander gesponnen und besänftigt unter den weichen Schleiern, die die Träumerei darüberdeckte. Wie gewöhnlich, waren indes Annas Sinne die ersten, die sich wieder schärften. Sich wie aus Gedanken aufrichtend, erklärte sie, halb unbewußt, die Stimmung des Augenblicks durch einen Hinweis auf ihre Einsamkeit inmitten des sich drängenden Lebens.

»Wenn wir nun Papa bei uns hätten. Er würde sich gewiß freuen, Berlin gerade jetzt wiederzusehen, nun er wieder glücklicher ist als bislang.«

Auf ihre Worte folgte wieder ein kurzes Schweigen, während dessen jedes von ihnen fühlte, daß es das natürliche gewesen wäre, auch Frau v. Grubecks zu gedenken. Anna vermied dies überhaupt so viel als es anging; sie liebte es, sich unangenehmer Erinnerungen und Gedanken möglichst zu entschlagen. Wellkamp seinerseits war durch eine vage Verlegenheit daran verhindert, auszusprechen, woran er dachte. Sie hatten zu verschiedenen Malen bei gleichgültigen Anlässen und in ganz unbefangener Weise Doras Erwähnung getan. Heute war es das erste Mal, daß ihr Name zwischen ihnen absichtlich ungenannt blieb. Das Bewußtsein von etwas Unausgesprochenem, das solange in der scheinbar grenzenlosen Intimität dieser ersten Wochen ihrer Ehe untergegangen und nun wieder aufgetaucht war, wuchs in Wellkamp während weniger Sekunden rapid an und verdoppelte seine Befangenheit. Er richtete den Blick gespannt, um zu erfahren, ob sie seine Gedanken erriete, auf Anna, die den ihrigen auf das Straßenbild gesenkt hielt. Dann schauerte sie ein wenig zusammen, als empfände sie erst jetzt die frische Luft. Wellkamp richtete sich vom Geländer, gegen das er sich leicht gestützt, auf, und während sie in den Saal zurücktraten, suchte er ein belangloses Gespräch anzuknüpfen.

Auf rätselhafte Weise hatte so der unruhige und zweifellose Zustand wieder begonnen, der für Wellkamp schon der letzten Zeit vor der Hochzeit einen Teil ihres Duftes und ihres Reizes genommen. Hatte nicht gerade die große Aufrichtigkeit und Schleierlosigkeit ihres Verhältnisses das Glück dieser ersten Berliner Wochen ausgemacht? Dieses konnte sich noch für einzelne Stunden einfinden, und zumal in der Vereinigung ihrer Liebe war es mit ihnen und hatte ein Vergessen alles Störenden mitgebracht. Aber allzu häufig fühlte er von nun an wieder einen an sich ganz bedeutungslosen Gedanken an Dora oder etwas mit ihr im Zusammenhang befindliches wie ein verbotenes Geheimnis auf sich lasten.

Etwas anderes machte bald seinen Zustand noch schwieriger. Nachdem der Bann des glücklichen Vergessens einmal gebrochen war, konnten auch die durch ihn unterdrückten schmerzlichen Erinnerungen, die Wellkamp mit Berlin verbanden, zur Geltung gelangen. Es geschah dies derart, daß sich in seiner Vorstellung zeitweilig die beiden ihn wie Nebelbilder beunruhigenden Figuren gleichsam ineinander schoben. Wenn er, was sich ihm häufig unwiderstehlich aufzwang, Frau v. Grubeck, in einer Unterhaltung begriffen, sich selbst gegenübersah, so kam es vor, daß die Einrichtung des Gemaches der seiner ehemaligen Berliner Geliebten glich. Dann bemerkte er wohl an Doras Toilette Einzelheiten, deren er sich genau von der Anderen her erinnerte. Auch waren die Stimmen zuweilen vertauscht, und er hörte deutlich den wohlbekannten, mit seiner Frechheit wehrlos machenden Ton, der ihn damals in der Abschiedsstunde begleitet, nunmehr aus Doras Munde.

Seine nervösen Vorstellungen dieser Art erreichten einen Grad, wo er, mit Anna durch die Straßen schlendernd, fortwährend eine Begegnung mit der früheren Geliebten gewärtigte. Manchmal sah er sie im Gedränge vor sich auftauchen; dann war sie wieder verschwunden, oder diejenige, die er für sie gehalten, war ihm in der Nähe völlig fremd. Einmal erkannte er mit einer zweifellosen Sicherheit, die ihn abwechselnd heiß und kalt werden ließ, das wohlbekannte Gesicht, in dem jeder Zug für ihn ein Leid und eine Leidenschaft bedeutete. Die Dame blieb in geringer Entfernung vor einem Schaufenster stehen. Wellkamp vermochte ein erregtes »Ah!« nicht zu unterdrücken und berührte zugleich mit einer heftigen Bewegung den Arm seiner Gattin. Als er ihren ruhig verwunderten Blick auf sich gerichtet fühlte, setzte er mit möglichster Beherrschung seiner Erregung eine erklärende Bemerkung hinzu:

»Eine merkwürdige Ähnlichkeit …«

Anna sah der Richtung seiner Augen nach.

»Ach ja!« sagte sie dann mit leichter Ungeduld in der Stimme. Hierdurch aufs neue betroffen, betrachtete Wellkamp im Vorübergehen noch einmal gespannt aufmerksam das Profil der Fremden, um jetzt zu finden, daß es nicht dem der Berlinerin, sondern den Zügen Doras glich. Dies mußte in der Tat eine wirklich vorhandene Ähnlichkeit sein; auch Annas Zustimmung schien darauf hinzudeuten. Er war überrascht und erschreckt; wie war es möglich, daß er diese beiden Gesichter nicht mehr aus einander zu halten vermochte. Im selben Augenblick ward er von der fieberhaften Unruhe erfaßt, seine Frau den Zusammenhang nicht merken lassen. Um unzweifelhaft zu machen, daß er nur an Frau v. Grubeck erinnert worden sei, und zugleich seine dabei verratene Erregung zu vertuschen, ließ er sich verleiten, die ungeschickteste Äußerung zu tun, die er in diesem Augenblick hätte finden können.

»Sie hat eben ein Gesicht, das man öfter sieht«, sagte er. »Das Deine wiederholt sich nicht so leicht.«

Als er an der unwilligen Bewegung, mit welcher sie ihre Hand aus seinem Arm halb zurückzog, die Wirkung seiner Phrase wahrnahm, fuhr er, auf unpersönliches Gebiet überleitend, hastig fort zu sprechen.

»Mit Ähnlichkeiten ist es seltsam; man begegnet, scheint mir, den meisten auf der Straße, und ich glaube bemerkt zu haben, daß das am Gange liegt. Er trägt überraschend viel dazu bei, zwei Menschen einander ähnlich zu machen. Und außerdem – hast Du nicht auch beobachtet, daß, was Ähnlichkeiten betrifft, Gang und Gesichtsausdruck – nicht die einzelnen Züge natürlich – eng zusammengehören? Wo der Gang der gleiche war, habe ich meist auch Ähnlichkeit der Miene und des Charakters gefunden – häufig auch der Sprache, nicht gerade in der Klangfarbe des Tones, aber im Tonfall und Ausdruck.«

Anna erwiderte auf seine Worte, die er, unter ihrem Schweigen einigermaßen verlegen, zu Ende gesprochen, kaum mit einer flüchtigen Zustimmung. Sie blieb während des Restes der Promenade verstummt, und als Wellkamp einmal ihren Blick suchte, fand er nur die tiefe Falte, zu der sich ihre vollen Brauen zusammenzogen. Auch während des Diners und später beschränkte sich das Gespräch auf wortkarge und erzwungene Bemerkungen. Es war das erste Mal, daß ein Mißverständnis zwischen die Gatten getreten war, und diese erste Spannung der ehelichen Beziehungen pflegt ja so viel schmerzhafter empfunden zu werden, als selbst die weit schwereren unter den späteren. Wie damals vor der Hochzeit stand Wellkamp nun ratlos vor der vermeintlichen Eifersucht Annas, die er zu verdienen leugnete, während er sich dennoch bewußt war, sie erregt zu haben. Und wie damals täuschte er sich über die ihm in ihrer Schlichtheit rätselhafte Empfindungsweise seiner Gattin. Für ein reines Vertrauen wie das ihre hatte in der Szene dieses Morgens nichts Falsches mitgespielt als jenes in der Verlegenheit von Wellkamp gesprochene entschuldigende Wort. Anna gehörte zu der nicht überwiegenden Zahl der Frauen, welche eine ungeschickte und gewollte Schmeichelei gleich einer Beleidigung empfinden.

Sie trug an dieser bis zum Abend, wo sie mit ihrem Instinkt der Aufrichtigkeit eine Aussprache herbeiführte, die noch einmal alles zum Frieden beizulegen vermochte. In der Freude, den Anlaß ihrer augenblicklichen Entfremdung sich als so harmlos herausstellen zu sehen, vergaß der bewegliche Wellkamp alsbald den tieferen Grund seiner Beunruhigung. Auch blieb die kurze Störung ihres Glückes während des Restes ihres Berliner Aufenthaltes vergessen. Während dieser unvergleichlichen, nur zu kurzen Wochen schien sich ihre Liebe ganz und gar verjüngt zu haben. Wellkamp fand wie nie vorher eine volle und zarte Hingabe an das ganze Wesen der Geliebten. Bei seiner Feinfühligkeit für die Empfindungsweise anderer, welche ihn ja andererseits leicht beeinflußbar und schwach von Willen machte, erschloß sich ihm in diesem Falle das liebenswürdigste Verständnis für die unausgesprochenen Neigungen und Liebhabereien der jungen Frau.

»Hast Du bemerkt«, fragte er sie einmal, »daß es hier für uns manche verlorene Vormittagsstunde gibt, die wir nützlich anwenden könnten? Wie wäre es, wenn wir einmal eine Vorlesung hörten oder ein Hospital, ein Arbeitshaus besuchten? Ich würde mir schon die nötigen Empfehlungen verschaffen, und ein wenig ›soziale Studien‹ können nicht schaden – wie?«

An ihrer erfreuten Zustimmung erkannte er, daß er einen Wunsch getroffen, den sie vielleicht nur aus Furcht, ihn zu langweilen, nicht auszusprechen gewagt.

Man mag hart über den moralischen Zustand eines Augenblickscharakters seiner Art urteilen, der mit einer gleichsam halsbrecherischen Behendigkeit von einem seelischen Standpunkt zum genau entgegengesetzten überzuspringen gewohnt ist. Jedenfalls aber belog Wellkamp weder sich selbst noch die Menschen, an die er sich jedesmal in aller Aufrichtigkeit anlehnte, um ein inneres Gleichgewicht zu suchen, das ihm niemals vollständig zu teil geworden war. Er glaubte in Wahrheit stets, wenn er einem neuen Eindruck unterlag, in diesem Falle endlich ein Ziel und einen Ruhepunkt gefunden zu haben. Man hätte glauben sollen, daß der ewig schwankende Dilettantismus, der sich immer neuen Einflüssen mit immer gleicher Ausschließlichkeit hingab, eine Künstlernatur voraussetzte. Indes war Wellkamp das bewußt Spielende der Künstlernatur fremd, die alle möglichen seelischen Lebensarten durchläuft, ohne eine von ihnen für ihre eigene, ursprüngliche zu halten oder etwas anderes in ihr zu sehen als eine Station ihres Studienganges. Es war vielleicht nichts anderes als seine zu große Aufrichtigkeit und der damit verbundene Mangel an Selbstkritik, der seinen Geist für eine seiner Natur entsprechende Kunstübung untauglich machte. Damit war er eines Zweckes beraubt, der, einmal in seiner Existenz vorhanden und wirksam, vermutlich etwas ganz Verschiedenes aus ihr gemacht haben würde.

In diesem Falle indes wäre ohne seine wohl zu fühlende Aufrichtigkeit die volle Herzlichkeit ihres Verhältnisses gar nicht möglich gewesen. Die wohlige Stimmung des auf sich selbst Gelassenseins nahm zu mit dem sie umwogenden und fest aneinander drängenden Leben, das in dieser Zeit noch so viel mächtiger geworden. Denn Weihnacht stand dicht bevor, die Menge der Menschen hatte sich besonders in den Hauptverkehrsstraßen verdreifacht, und die beiden jungen Leute ließen sich gern von ihr treiben. Sie sahen sich zuweilen mit einem Kinderlächeln an, wenn sie einmal nicht viel mehr nötig gehabt, als einen Fuß vor den anderen zu setzen, um von ihrer Umgebung den Weg, den sie zurückgelegt, entlang geschoben zu werden. Dazwischen betrachteten sie es jedesmal als eine angenehme Überraschung, vor einem oder dem anderen Schaufenster anzuhalten, an das sie der Zufall herangedrängt. Ein willenloses Sichgehenlassen und zufriedenes Abwarten des Kommenden entsprach ganz ihrer doppelten, weil aus der besondern Bedeutung der Zeit und ihrer Liebe hervorgegangenen Feststimmung. Daher waren sie auch sofort übereingekommen, genau nach dem Wunsche des Vaters zu handeln, von dem sie die Mitteilung erhalten, er könne sich wohl denken, daß sie sich zur Zeit dort besonders gut unterhielten, aber ohne drängen zu wollen, möchte er doch bitten, daß sie wenigstens gerade zu Weihnacht heimkehrten.

Demnach brachen sie, nach Voraussendung einer Depesche, am Morgen vor der heiligen Nacht nach Dresden auf. Der Major, der sie am Böhmischen Bahnhof mit seinem fröhlichen guten Lachen empfing und nacheinander in die Arme schloß, führte die jungen Leute in ihre neu eingerichtete Wohnung, welche gleich der daranstoßenden des Grubeckschen Paares geschmackvoll mit Tannen geschmückt war. Die sehr gelungene, größtenteils von Herrn v. Grubeck selbst angeordnete Ausstattung und dazu der festliche Schmuck des kleinen hübschen Appartements war ganz geeignet, die weihnachtliche Illusion der Beiden zu vollenden. Sie kamen sich für die ersten Augenblicke wie Kinder vor, die vor dem Aufbau der Bescherung zu einem Spaziergang fortgeschickt sind, um, nun zurückgekehrt, durch die plötzlich weitgeöffnete Tür die Überraschungen anzustaunen, welche die Eltern vorbereitet haben.

In der Tat entsprach der Major aufs beste seiner Rolle als Weihnachtsvater. Er stand stets hinter seinen glücklichen Kindern, um aus nächster Nähe die Äußerungen froher Überraschung zu hören, die immer häufiger und herzlicher wurden, während sie die einzelnen Räume musterten. Zugleich befriedigte es den alten Herrn ungemein, bei verschiedenen Einzelheiten die aufrichtige Anerkennung seines künstlerischen Geschmackes zu vernehmen. Er hatte diesen in Wahrheit mit vieler Liebe betätigt, und besonders der Kaminwinkel in Annas Boudoir, vor dem die kleine Gruppe Halt machte, war ein kleines Meisterstück dekorativer Anordnung, mit der diskreten Abstufung der verschiedenfarbigen japanischen Seidenstoffe, welche hier die Wand bekleideten, mit den in originellen Haltern steckenden, darübergesäeten Photographien größeren und kleineren Formats, mit dem Phantasietischchen, das über und über mit eleganten Spielereien beladen war und in dem hier doppelt gebreiteten, weichen Teppich versinken zu wollen schien, und mit der hohen bronzenen und rot beschirmten Salonlampe, deren Gestell sich dahinter vom Boden erhob, endlich mit den kostbaren Kaminaufsätzen, riesigen orientalischen Vasen von ausgezeichneter Arbeit.

»Die habt ihr noch nicht gesehen, was?« fragte Herr v. Grubeck, der seine große Hand gemütlich auf die Schulter seines Schwiegersohnes gelegt hatte.

»Ich habe die Dinger ganz zufällig noch bekommen, nachdem ihr schon fort wäret, und habe mir erlaubt, sie ohne eure Genehmigung anzuschaffen; war sicher, daß sie euch als kleine Begrüßungsgabe angenehm sein würden.«

Dann wies der alte Herr rasch auf das hübsche, hell hinter den Messingstäben spielende Kaminfeuer und auf die beiden davorgeschobenen und mit Kissen aller Art beladenen Sessel.

»Auf die Ecke hier«, erklärte er, »mußte ich natürlich besondere Sorgfalt verwenden. Ich weiß, welch eigene Anziehungskraft im ersten Jahr so ein Kaminfeuer übt. Später pflegt man dann zu dem mehr praktischen Ofen überzugehen.«

Durch ähnliche, mit kleinen humoristischen Seufzern gesprochene Bemerkungen hatte der alte Herr seine beiden Begleiter mittlerweile ein wenig aus ihrer anfänglichen Märchenstimmung erweckt. Auch folgte seinen letzten Worten von Seiten Wellkamps ein anerkennendes Lachen, während dessen der Türvorhang, welcher das trauliche kleine Gemach abschloß, zurückgeschlagen wurde, um Frau v. Grubeck eintreten zu lassen. Sie entschuldigte sich, durch ihre Toilette so lange verhindert worden zu sein, und begrüßte zugleich aufs herzlichste die Zurückgekehrten, indem sie mütterlich die Stirn ihrer Stieftochter küßte, während sie die Hand des jungen Mannes in ruhig freundlicher Weise drückte. Aus ihrem Wesen schien etwas Unbestimmtes, Rätselhaftes, das früher bei jeder Begegnung mit ihr befremden und selbst quälen konnte, verschwunden, und ihr Benehmen statt dessen durch eine gewisse Entschlossenheit geleitet zu werden. Dies mochte auch ihre Toilette andeuten, welche, anstatt von der heulen und fast mädchenhaften Art wie ehemals, heute wieder von der dunkleren Farbe war, die sie auch an dem Hochzeitstage des jungen Paares getragen. Von der ersten Minute an prägte sich in ihrem Auftreten unverkennbar etwas Mütterliches aus, das auf Wellkamp, der in den vergangenen Augenblicken ihrem Erscheinen doch mit einer gewissen Bangigkeit entgegengesehen, eine durchaus beruhigende Wirkung übte. Seine Unbefangenheit wurde mehr und mehr wieder hergestellt, als er jetzt auf die beiden Frauen herniederblickte, die in den Sesseln vor dem Kamin Platz genommen hatten. Der Altersunterschied ward noch sichtbarer, wie nun dicht neben Annas von der Winterfrische gerötetem Gesicht sich Doras blasses Profil zeigte. Es war, bei aller weichen Zartheit, ein Leidenszug, vielleicht nur wenn sie lächelte, darin kenntlich. Dazu kam, daß oben auf ihrem vollen Haar, wo Wellkamp so häufig goldene Lichtreflexe hatte spielen sehen, heute ein ganz winziges Arrangement künstlicher Blumen befestigt war, das aber dennoch etwas wie ein Matronenhäubchen anzudeuten schien.

Inzwischen war das Teegeschirr vom Diener auf den Kaminsims gesetzt. Frau v. Grubeck überließ es Anna, ihren Gatten zu bedienen, während sie selbst dem Major seine Schale reichte. Sie blickte dabei zu dem alten Herrn auf und redete ihn mit einem Ton schlichter Vertraulichkeit an, den weder Anna noch Wellkamp früher in dem Verkehr der Eltern gehört hatten.

»Wer weiß, mein Lieber«, sagte sie »ob wir beide nicht auch gelegentlich noch einmal einen Abstecher nach Berlin unternehmen. Man bleibt auf die Dauer doch allzu sehr in der Kultur zurück, wenn man einmal aus dem Centrum heraus ist.«

»Nehmen wir es also in Aussicht«, erwiderte der Major mit einer zuvorkommenden Verbeugung. Er schien sich seinerseits in seiner Haltung nicht verändert zu haben. Er sprach stets wie über ein Respektsgitter hinweg, wenn er das Wort an seine Gattin richtete. Letztere fuhr fort, nunmehr an Anna und halb zu Wellkamp hinüber gewendet.

»Übrigens kann ich nicht behaupten, daß ich für den Berliner Ton schwärme, so freundlich man mich dort aufgenommen hat. Er ist mir zu burschikos und dabei doch zu greisenhaft, wie mir scheint. Das heißt in der Art von blasierten Jungen; es ist, als ob eben diese den Ton angeben. Wenn man dann wirklich in ein vernünftiges Alter kommt, so sagt einem diese Scheinreife nicht mehr zu. – Ihr habt euch jedenfalls um andere Dinge zu kümmern gehabt?«

Wellkamp ward durch ihre Worte aufs lebhafteste an jene früher des öfteren von ihr gehörten Äußerungen über ihr Altern und über ihre freudlose Ruhe erinnert. Er vergegenwärtigte sich die kokette Art, wie sie damals ihre Klagen vorgebracht, er sah deutlich die ironisch-sentimentale Neigung ihres feinen Kopfes. Und heute berührte sie plötzlich den gleichen Gegenstand mit fast unpersönlichem und ganz schlichtem Ausdruck, gleichsam als selbstverständliche Voraussetzung hinwerfend, was sie damals als etwas zu stark betonte und zu artigem Widerspruch herausfordernde Behauptung vorgebracht. Der junge Mann machte diese Beobachtung schon nicht mehr in der beruhigten und uninteressierten Weise, wie er noch vor weniger als einer halben Stunde die mit Frau v. Grubeck vorgegangene Veränderung bemerkt. Mit den Erinnerungen an die vor der Reise liegenden Vorgänge stieg wieder eine unbestimmte Unruhe in ihm auf; es war, als ob sich aufs neue eine Frage in ihm bildete. Diese ward ihm noch peinlicher in ihrer Unfaßbarkeit, als er die Erwiderung seiner jungen Frau auf die von Dora an sie gerichteten Worte vernahm.

»Ich habe in Berlin viel lernen können«, sagte Anna in ihrer ruhigen, sinnenden Weise und sie nickte bestätigend, als der Major ihr jovial zurief: »Du kannst das Studieren also immer noch nicht lassen?«

Für Wellkamp wehte aus ihren Worten etwas überraschend Fremdes und Kaltes. Es war ihm, als müsse er sie plötzlich mit veränderten Augen ansehen, nicht nur in diesem Augenblick, wie sie da saß, sondern auch seine Gefährtin in den jüngst vergangenen Wochen. War sie denn nun die Frau, die er an seiner Seite zu haben geglaubt, als er halb träumend und voll von heimlichem süßem Glück mit ihr in einer treibenden Menge durch die langen Gassen geschritten war? Er hatte davon nichts als die sehnsüchtig-schöne Erinnerung an einen begehrenswerten Traum mitgebracht, den sie gemeinsam durchlebt, und jetzt mußte er hören, wie sie von Studien, die sie gemacht, redete in einem Tone, als sähe sie in diesen den Zweck ihrer Reise. Vielleicht hatte sie gar Journal darüber geführt und jedesmal die Stunde herbeigesehnt, wenn er sie allein ließ, um ihre Notizen zu machen!

Er hatte während dieser innerlichen Bemerkungen ein erschreckend kaltes Gefühl des Erwachens, worin er den ganzen herben Unterschied durchkostete zwischen der kurzen Illusion, die er hinter sich gelassen, und der Wirklichkeit, in der er sich nun wiederfand. Aus seinen traurigen Gedanken heraus hatte er auf einige an ihn gerichtete Fragen zerstreute Antwort erteilt, und jetzt hörte er Dora vorschlagen, in die andere Wohnung hinüberzugehen, wo das Abendessen sofort bereit sein werde. Doch kostete es ihr selbst am meisten Mühe, sich von dem reizenden Kaminplätzchen zu trennen, um das sie, wie sie sagte, Anna aufrichtig beneidete.

»Nicht dort!« rief der Major, als seine Tochter die Tür zum Korridor öffnete.

»Ihr habt noch gar nicht bemerkt, daß ihr vom Vorzimmer gleich in unsere Wohnung eintreten könnt. Unser liebenswürdiger Wirt hat mir ohne weiteres erlaubt, die Verbindungswand durchbrechen zu lassen.«

Im Vorzimmer zu Doras Boudoir, das man demgemäß zu passieren hatten, wurde indes die kleine Gesellschaft durch eine Überraschung aufgehalten, in deren Erwartung Herr v. Grubeck sich schon längst vergnügt die Hände gerieben hatte.

»Für uns Kinder!« rief der alte Herr aus, während er die Seinen vor einen zur Decke rankenden Tannenbaum führte, dessen strahlender Lichterglanz nach der schwachen Beleuchtung der Räume, aus denen sie gekommen, besonders Dora und Wellkamp überraschte und blendete. Anna kannte die besondere Weihnachtspassion ihres Vaters, der jedes Jahr mit ihr zusammen selbst seinen Baum zu schmücken liebte. Diesmal hatte er es also ganz ohne Hilfe unternommen und wirklich durch die geschmackvolle Verteilung von Silberflitter und großen weißen Papierlilien mit goldenen Blütenstengeln eine reizende Arbeit ausgeführt. Er betrachtete nun, während er die Glückwünsche dafür empfing, sein Werk mit glänzenden, ganz veränderten Augen. Es war zu merken, wie sehr für ihn Weihnacht ein Ereignis war, das jedesmal wieder alle seine alltäglichen Stimmungen für kurze Tage auseinander zu treiben und mit ein bißchen Kinderglück aufzuklären vermochte. Wie wenig mehr als die gebräuchliche, fast gleichgültige Anerkennung er sonst der Religion entgegenbringen mochte, so fand er doch stets in dieser einzigen Zeit die wehmütigglückliche Anhänglichkeit an die alten geheiligten Gebräuche, welche das Erbteil der inmitten von Traditionen und Familiensinn Aufgewachsenen bleibt. Auch dauerte es eine Weile, bis er die Veränderungen der Anordnung, die er hie und da am Baum noch vornahm, beendet hatte, um endlich seine Aufmerksamkeit auf das zur Seite stehende Tischchen zu lenken. Anna hatte Sorge getragen, hier das für den Vater in Berlin Ausgewählte im voraus ausbreiten zu lassen. Herr v. Grubeck war entzückt über die verständnisvolle Gabe seiner Kinder, die ihm einige der Kunstblätter widmeten, die unlängst auf der Ausstellung seinen besondern Beifall gefunden und ihm jetzt aufs neue Ausdrücke innerster Befriedigung entlockten.

Es hatte jeder bei Auswahl der kleinen Geschenke, die er dem anderen unter den Baum legte, weniger auf die Kostbarkeit oder Originalität des Gegenstandes als auf den Wert einer besonderen persönlichen Aufmerksamkeit gesehen, mit der Familienmitglieder untereinander ihren Geschmack, in den sie sich gegenseitig genügend eingeweiht haben, treffen können. Dabei waren dann doch wieder zum Teil die unerwartetsten Dinge herausgekommen. So war Wellkamp überrascht, für sich ein neues Werk eines seiner Lieblingsautoren zu finden, für das er Frau v. Grubeck zu danken hatte.

Dora kam ihm entgegen, als er auf sie zuging.

»Ist es recht?« fragte sie mit dem ruhigen Lächeln, das er seit heute an ihr kannte.

»Sie haben es in Ihrer Güte mit Ernst Renan ganz überraschend gut getroffen. Ich habe den ›Priester von Nemi‹ wirklich noch nicht gelesen, habe ja auch in jüngster Zeit kaum ein Buch und besonders keine neuen Erscheinungen in die Hand genommen.«

Sie wollte schon mit leichtem Nicken an ihm vorbei und zu ihrem Gatten hinübertreten, dessen neue Kunstschätze sie noch nicht näher besichtigt. Als sie jedoch den Kopf erhob, streifte sie ein Blick Annas, den diese, neben ihrem Vater stehend, über die Bilder hinweg auf sie gerichtet hielt, und der sie unwillkürlich ihren Schritt anhalten ließ. Vielleicht täuschte sie sich, aber sie hatte eine tief feindliche Regung in diesem kurzen Blick bemerkt, und es war gerade infolge dieser Bemerkung, daß sie das Gespräch mit dem jungen Manne wieder aufnahm.

»Ich fürchte, ich habe es viel zu gut getroffen«, sagte sie, »Sie wissen doch, wie gefährlich ich den Einfluß Ihres verehrten Meisters Renan finde. Er hat mit seinem ›Dilettantismus‹, mit seinem Allesgeltenlassen und seiner geistigen Seiltänzerei schon genug Unheil unter unserer heutigen Generation angerichtet.«

Sie hatte ihr Lächeln nicht verloren während dieser Worte, aus denen ein leiser Tadel klang, wie von einer Mutter, die den geistig über sie hinausgewachsenen Sohn mit halb scherzhafter Überlegenheit maßregelt.

Für Wellkamp hatte indes ihre veränderte Verkehrsart die anfängliche beruhigende Wirkung völlig verloren. Er hatte im Gegenteil begonnen, etwas wie eine Koketterie herauszufühlen, die in ihrer Heimlichkeit dem jungen Mann doppelt unwiderstehlich deuchte. Jetzt unterlag er vollends der Verwirrung, die sich, zugleich peinigend und berückend, seit Viertelstunden in ihm vorbereitet hatte. War ihm aus dem unschuldigen Glücksrausch der jüngsten Wochen noch ein Rest des Bewußtseins geblieben, als sei eine endgültige Heilung seines Lebens vor sich gegangen, so hielt er nicht dieser Minute stand, in der er sich aufs neue schuldig werden fühlte.

Von den Blättern des Buches, welche von seinen plötzlich heißen Fingern feucht geworden waren, erhob er in steigender Ratlosigkeit seinen Blick zu dem der Frau, die ihm nun schweigend gegenüberstand. Er meinte auch den ihren verändert, die Ruhe daraus verschwunden, und das Lächeln, das sie noch immer festhielt, willkürlich und starr geworden zu sehen. Seine Augen schweiften augenblicklich weiter zur Seite, um hier Annas Blick auf Doras Gesicht gerichtet zu finden. Und für seine Empfindlichkeit, die wie immer in Augenblicken, wo sich in uns eine Entscheidung vorbereitet, ungewöhnlich geschärft war, mußte dieser Blick von außerordentlicher Wirkung sein.

Wirklich war der Ausdruck der Antipathie, den Dora in dem Auge ihrer Feindin wahrgenommen, in den einer kaum verhohlenen Verachtung übergegangen. Was ihr Gatte auch darüber denken mochte, so war es doch Tatsache, daß die junge Frau, nicht weniger als er, heimlich gepflegte Illusionen von ihrer Reise heimgebracht. Auch sie hatte in jener Zeit des friedlichen Glückes ihren bisherigen Leidenschaften und Vorurteilen ins Angesicht gesehen und hatte, bei dem Gedanken an Dora, den aufrichtigen Wunsch und eine starke Hoffnung empfunden, ihre Natur überwinden zu können. Aber nach der Rückkehr hatte sie sich, ebenso wie der Mann, im Alltag wiedergefunden. Einmal im Gespräch mit Dora, war sie alsbald von neuem und ganz unverändert der Abneigung unterlegen, die ihr gegen diese Frau wie gegen die Angehörige einer feindlichen Rasse innewohnte.

Alles in ihr widersprach der Persönlichkeit Doras, ihrem ganzen Sein und Auftreten und jeder ihrer Äußerungen. Auch zeigte sich bei der jetzigen Gelegenheit nur die fast unvermeidliche Verachtung des überlegenen weiblichen Geistes für die Unselbständigkeit der Frau, von der sie ahnte, daß sie ihren geistigen Unterhalt mit dem bestritt, was ihr etwa von den in ihrem Kreise lebenden Männern überkommen war. Sie war häufig genug dem Verstande Doras begegnet, der ihr niemals in sich selbst vertieft und immer nur oberflächlich die Gedanken anderer nachzudenken schien. Mehr als einmal hatte sie ehemals Einwände von Frau v. Grubeck zu hören bekommen, die allzu deutlich im Geiste ihres eigenen Vaters gewesen waren, und in ihrer Voreingenommenheit hatte sie niemals die Entschuldigung zugelassen, daß solche Übertragungen durch die ehelichen Beziehungen, durch die tägliche Gewohnheit des Verkehrs, selbst bei fehlender Sympathie zwischen den Gatten so natürlich herbeigeführt wurden. Noch soeben meinte sie die gleiche Beobachtung bei Doras Äußerung über das Berliner Leben zu machen, die ihr ebenfalls Herrn v. Grubeck entlehnt schien. Nun machte sie sie bei ihren Bemerkungen über das Renansche Buch. Sie hielt dafür, daß Dora in die Fragen, die sie berührt, viel zu wenig eingeweiht sei, um die Kritik abgeben zu können, wie sie es getan. Sie hatte überdies Ausdrücke gebraucht, welche auch Wellkamp bevorzugte, und zweifellos war es dieser selbst, der ihr die betreffenden Ansichten in gelegentlichem Gespräch, vielleicht ohne daß sie selbst es bemerkt, eingeflößt hatte.

Dadurch waren die Gefühle bestimmt, die Annas Blick ausdrückte, in welchem Wellkamp, mit seinem lauernden Schuldbewußtsein, anderes und mehr las.

Jedoch unentschlossen und nicht imstande, auch nur einen Augenblick bestimmt und einseitig zu urteilen, hatte er selbst für seine ehrlichsten, unwillkürlichen Regungen sofort wieder ein »Es ist nicht wahr!« Sobald sein Schuldgefühl eine Bestätigung erhielt, leugnete er es vor sich selbst nur um so eifriger. Er sträubte sich alsbald dagegen, die Berechtigung des Vorwurfes anzuerkennen, den er in Annas Augen ausgesprochen glaubte.

»Zuerst das Hervorkehren der ärgsten Verständnislosigkeit«, so durchblitzte es ihn, »nachdem ich wochenlang ein wahrhaft gemeinsames Leben mit ihr zu führen geglaubt, und jetzt noch ein offenes Mißtrauen!«

Das abweisende Gefühl gegen Anna, das sich seiner bemächtigt hatte, artete für eine Minute soweit aus, daß er alle Bedenken unterdrückte.

»Und wenn sie recht hat«, sprach eine wilde und verzweifelte Stimme in ihm, »– um so schlimmer für sie, wir sind alle gegen das Schicksal machtlos!«

Aber noch bevor er den Gedanken zu Ende gedacht, biß er sich auf die Lippen, um seine Miene gewaltsam ruhig zu halten in dem wilden Sinnentaumel, den die bloße Vorstellung in ihm hervorbrachte, es könnten seine bisher vor ihm selbst namenlosen, aber von jeder Minute, die er atmete, höher geschwellten Wünsche verwirklicht werden. Die verbrecherische, quälende Süßigkeit dieser Vorstellung, in der er die Unendlichkeit durchkostete, zwang ihn, sich seine Rettungslosigkeit zuzugeben. Er wußte nun, daß das, was er noch soeben in zorniger Ungeduld »Schicksal« genannt, für ihn in Wahrheit die Unerbittlichkeit eines solchen erlangt hatte.

Die jähe Gewißheit machte ihn unfähig, den Blick zu erheben. Er hatte ihn von neuem auf das Buch gesenkt, das er noch immer in der Hand hielt, und in dessen Blättern seine Finger nervös umherstöberten. Nach der angespannten Tätigkeit der letzten Augenblicke waren seine Sinne in eine tiefe Erschöpfung verfallen. Seine apathisch abschweifenden Gedanken gingen sonderbarerweise zu jenem ersten Geschenk zurück, das er von Dora empfangen.

»Das merkwürdige Stück Holz«, dachte er, jedes einzelne Wort im Innern langsam nachsprechend, »– und jetzt dieses Buch. Sie hat unheimliche Einfälle.«

Die Szene, die nun zu Ende gespielt, hatte mit ihrer Schicksalsentscheidung, die keinen Widerspruch mehr zuzulassen schien, auf Wellkamp die Wirkung von langen Stunden seelischer Erregung geübt. Aber sie war, wie so häufig die Entscheidung solcher intimen Dramen, durch nichts anderes als durch einige Blicke und durch Momente des Schweigens vor sich gegangen, und sie hatte nur wenige Minuten in Anspruch genommen. Es wurde dem jungen Manne durch das Erscheinen des aufwartenden Dieners, der das Souper anmeldete, ermöglicht, sich aus seiner Erstarrung aufzurichten. Er bot Dora, welche er noch immer vor sich stehen sah, den Arm, um sie ins Speisezimmer zu führen.

Bei Tische hatte Wellkamp, dessen Gedanken immer aufs neue in der verbotenen, unvermeidlichen Richtung abzuschweifen drohten, Mühe genug, einigermaßen den Ausführungen Herrn v. Grubecks zu folgen, der seine Meinung über die künftige Einrichtung ihres häuslichen Lebens zum besten gab. Der alte Herr sprach in seiner frohen Laune lebhaft den Wunsch aus, daß die jungen Leute sein und seiner Gattin Leben, so wie sie es sich gestaltet, teilen möchten. Es war ja eben geschehen, um die Unbequemlichkeiten eines Haushaltes, mit Doras Gewohnheiten und Neigungen durchaus unvereinbar, zu umgehen, daß man ein boardinghouse bezogen hatte. Dank der Bereitwilligkeit des Vorstehers konnte man unabhängig von der übrigen, ausschließlich englischen Gesellschaft die Mahlzeiten in den eigenen Räumen gereicht erhalten, wie ja auch die Bedienung eine private war. Überdies wurden alle besonderen Wünsche ohne weiteres berücksichtigt.

»Und schließlich«, fuhr der Major, dem der Wunsch, mit der einzig geliebten Tochter in fortwährendem Verkehr zu bleiben, den Gegenstand besonders wichtig machte, fort, »und schließlich müssen wir etwas zu einander halten, damit wir auch wirklich merken, daß unsere Familie jetzt statt aus dreien, aus vier Gliedern besteht – fürs erste«, konnte er sich nicht enthalten, leiser hinzuzusetzen, während er sich vertraulich zu Wellkamp neigte.

Letzterer hatte den Worten seines Schwiegervaters hin und wieder mit höflichem Lächeln zugestimmt. Sie waren fast ausschließlich an ihn gerichtet gewesen. Bei seiner Tochter setzte Herr v. Grubeck, wie er schon früher zuweilen, halb scherzend, angedeutet, die größte Unlust voraus, ihre intellektuellen Beschäftigungen zu gunsten einer selbständigen Wirtschaft zu unterbrechen. Es mußte ihr am Ende der größte Gefallen damit getan sein, wenn sie, der Sorgen einer eigenen Küche überhoben, samt ihrem Manne die Mahlzeiten gemeinsam mit den Eltern einnahm. Zuweilen schielte der alte Herr indes mit einem etwas ängstlichen Blick, der um Zustimmung bat, zu seiner Tochter hinüber. Diese saß fast ganz schweigsam und in sich selbst versunken da. So verkehrt auch dieses Mal die Deutung war, die ihr Gatte ihrer Haltung gegeben, so litt doch auch sie unter der Nachwirkung jener Szene. Sie bereute es bitter, ihrer Abneigung gegen die Frau ihres Vaters, die sie nun, in ihrer aufrichtigen Selbstverurteilung, ganz und gar aus kleinlichen Beweggründen herleitete, nicht besser die Zügel angelegt zu haben. Dazu war ihr das Bewußtsein, sich ihrem Gatten in einer so schwachen, ganz von dieser Leidenschaft beherrschten Minute gezeigt zu haben, unendlich beschämend. So nickte sie, aus ihren unzufriedenen Grübeleien, nur zuweilen eine nachlässige Antwort dem Vater zu, der nicht aufhörte, sich um ihren Beifall für seine Pläne zu bemühen.

»Du findest doch nicht, daß durch diese Ordnung der Dinge Deinen Rechten als Hausfrau zu sehr Abbruch getan ist?« fragte er, ihre Unaufmerksamkeit bemerkend.

Anna zeigte ein etwas mühsames Lächeln.

»Ich? Nein. – Natürlich muß sich jeder von uns Ausnahmen von der Regel vorbehalten.«

Wellkamp sah den alten Herrn eine kleine Grimasse unterdrücken.

»Ich werde meine Fürbitte für Sie einlegen«, sagte er.

Der Major hatte immer den Wunsch seiner Tochter geteilt, sie möchte von der Berührung mit den falschen Verhältnissen seines eigenen Ehelebens befreit werden. Aber der Wunsch des Vaters wurde beiseite geschoben von der Selbstsucht des alten Mannes, der vor einem gänzlichen und immerwährenden Alleinsein mit der Frau, die ihm sein böses Gewissen verkörperte, zurückschreckte. Die Aussicht darauf war ihm unheimlicher als je geworden mit der eigentümlichen Wendung, die sein Verhältnis zu seiner Gattin und die Stimmung zwischen ihnen beiden in den Wochen der Abwesenheit der jungen Leute genommen.

An jenem Nachmittage war Dora von dem Fenster, aus welchem sie dem Wagen nachgeblickt, darin ihr Gatte seine beiden Kinder an den Bahnhof geleitete, zögernd und in Gedanken versunken zurückgetreten. Sie hatte sich in ihrem gewohnten Winkel niedergelassen, um sich in langen Stunden nicht wieder zu erheben. Die Lampe, welche der Diener auf das Tischchen setzen wollte, worauf ihre blasse Hand, wie versteinert, ruhte, hatte sie zurückgewiesen und war im Dunkel, in das nur der Schnee von draußen einen unbestimmten Schimmer warf, den Rest des Abends sitzen geblieben, um zu träumen, unendlich und ohne das Vermögen, aufzuhören.

Sie hatte damals zum ersten Mal eine in ihrer Klarheit erschreckende Vision des Kommenden, wie es sich nach dem, was in der letzten Zeit mit ihr und durch sie vor sich gegangen, vorbereitete. Die ganze durchgreifende Veränderung, die ihr Leben und alles, was seinen Inhalt ausmachte, erfahren, lag in plötzlicher Beleuchtung vor ihr, als sie sich den Mann, mit dem all das Fremde, Aufrührerische in ihren Kreis eingedrungen, vorstellte, wie er mit einer Anderen, mit ihrer Feindin, in die weite, freie Welt hinausfuhr, um mit jener zusammen zu genießen, ohne Reue zu genießen. Sie haßte bei diesem Gedanken ihn nicht weniger als die Frau. Er hatte ihr, durch sein bloßes Erscheinen, Leid zugefügt, und ohne es zu teilen, ging er nun davon, um vielmehr ein Glück zu finden, wie sie es niemals kennen lernen konnte.

Seit ihrer ersten Begegnung mit Erich Wellkamp hatte sich in die verdrossene Resignation, in der sie in der Ehe mit dem schnell alternden Gatten dahinlebte, ein Lichtschein von neuen unvernünftigen, unwiderstehlichen Wünschen, wie der eines Irrlichts, geschlichen. War es nicht natürlich, daß sie es unternahm, sich an dem Störer ihrer Ruhe zu rächen? Es verstand sich ebenso, daß dieses Verlangen immer heftiger wurde, je mehr sie die Stärke des Rückhaltes erkannte, den der Gegner an der gehaßten Anderen besaß. Tatsächlich waren so die Plänkeleien, in der sie der Unterwerfung des Mannes vorarbeitete, von einer zur anderen immer heftiger geworden. Sie hatte das gefährliche Spiel gewagt, ohne je aufzuhören, vor sich selbst immer wieder das Motiv zu betonen, den Haß gegen ihre beiden Feinde. Ach, sie hatte selbst heute noch versucht, ihr Gefühl auf diese Weise zu täuschen, bevor nun ihre Kraft erschöpft war und das Bewußtsein der Wahrheit sie überwältigte. Jetzt, da sie ihn, ohne ihm kaum je in kurzen Stimmungsmomenten überlegen gewesen zu sein, aus ihrem Machtbereich hatte entlassen müssen, war die Stimme nicht länger niederzuhalten gewesen, welche wahnsinnig laut und mit jeder Minute heftiger in ihr rief: »Ich muß, ich muß ihn demütigen, aber nicht der bloßen Rache wegen, sondern um ihn zu besitzen.«

Sie begriff sich selbst nicht, wenn sie daran dachte, daß für sie der Verkehr mit Männern immer nur darin bestanden, die Stelle auszufinden, wo der Gegner zu treffen war, und sobald die Wunde beigebracht war, sich zurückzuziehen. Niemals hatte sich in das berechnende, grausame Spiel, das für sie die Beziehungen der Geschlechter bedeutet, ein tieferes Empfinden als das der geschlechtlichen Eitelkeit eingeschlichen. Was hatte sich inzwischen verändert? Waren es die langen, einsamen Träumereien der letzten Jahre gewesen, in denen sie sich mit der oft in Wonneschauer ausartenden Selbstquälerei, welche Naturen ihrer Art eignet, ein Eheleben ausgemalt, wie vielleicht andere Frauen es führten? Es war zu denken, daß sie, die als Mädchen einen nervösen Widerwillen gegen die körperlichen Beziehungen der Geschlechter besessen, und die ihn in der Ehe mit einem Manne, der sein Recht auf solche hätte geltend machen wollen, nicht abgelegt hätte, daß sie in der ständigen Gesellschaft des alternden und zu jeder Intimität unlustigen Gatten einen paradoxen Widerspruch gegen diese ihre Natur kennen lernte. Es war, durch die Angst vor dem Kommenden nur noch willkürlicher gemacht, ein rasendes Glücksverlangen, was das Blut so fieberhaft durch den noch immer mädchenhaft zarten Körper der Frau trieb, die bewegungslos, wie in der Erwartung ihres Schicksals, dasaß.

Tagelang war es die gleiche furchtbare Stimme des Blutes, welche von ihr heischte, diese vielleicht letzte Möglichkeit zu ergreifen, das Zärtlichkeitsbedürfnis zu befriedigen, das, spät genug, nun auch sie zum wahren Weibe gemacht. Inzwischen aber war auch die Angst vor dem Unbekannten, dem sie entgegenging, gewachsen und überfiel sie mit der Macht aller ihrer Einwände. Die religiöse Glut, welche als schwacher Funke immer seit ihren Kindertagen in ihr fortgeglüht, flammte plötzlich zwischen ihrem Wunsch und seinem Ziele auf. Vielleicht war sie darum nun noch mächtiger, daß sie nicht aus dem wahren, schlichten Glauben stammte, sondern ein mystischer Rausch war, verbunden mit der Furcht vor Gestalten des Aberglaubens, an die sie in ihrer Heimat glauben gelernt. Zudem aber stellte sich, ebenfalls fast ohne Überlegung und mit der Macht eines Instinktes, die Furcht vor den Folgen ein, die vorauszusehen waren, falls sie ihrem Verlangen folgte. War sie doch von jeher eine der Haupttriebfedern in ihrem Leben gewesen, die Furcht, Aufsehen zu erregen, beobachtet und besprochen zu werden. Ihre nervöse Natur, die sie schon so früh gewöhnt hatte, sich in sich selbst zurückzuziehen, um den Wirkungen ihres eigenen Temperamentes zu entfliehen, ward nun, inmitten ihrer streitenden Begierden, von der Aussicht eines vollständigen Skandales doppelt verstört. Die beängstigend genaue Vorstellung von der Ungeheuerlichkeit des Vorauszusehenden brachte in ihr eine fieberhafte Hast hervor, keinen Augenblick mehr unentschieden zu bleiben. Sie glaubte wahnsinnig werden zu müssen, wenn es ihr nicht augenblicklich gelänge, einen bestimmten Entschluß zu fassen. Daß sie dazu die Macht besäße, daß es ihr, und sollte sie darüber zu Grunde gehen, gelingen müsse, ihm, dem Feinde, ihre Wunde zu verbergen und den Ausgang des Zusammentreffens mit ihm ganz nach ihrem Belieben zu lenken, daran zweifelte sie selbst in ihrer jetzigen Verfassung nicht. Sie war zu sehr jedem Manne gegenüber an das Gefühl der Überlegenheit gewöhnt worden. Vielleicht zweifelte sie gerade jetzt weniger als je daran: sie befand sich in einer Ekstase der Furcht, in der die unwahrscheinlichsten Rettungsmittel herbeigezogen werden und durch die Kraft des Glaubens, den man ihnen entgegenbringt, sich zuweilen sogar bewähren können. Die Frau des Mannes, zu dem es sie so unheilvoll hinzog, war die Tochter ihres eigenen Gatten. Dies war der Punkt, der sich inmitten ihres inneren Aufruhrs immer tiefer in ihr Bewußtsein eingebohrt hatte. Das, falls sie unterlag, so unerhörte Verhältnis schien ihr andererseits den einfachsten Ausweg darzubieten. Wenn sie, die seine Stiefmutter war, es durchsetzte, das Verhältnis zu dem jungen Manne fortan ein unbefangen mütterliches werden zu lassen, so war alles in das natürliche Geleise gebracht. Es mußte ihn entwaffnen und es konnte niemand befremden. Vorerst war demnach ihre Aufgabe – der jähe, rastlose Trieb zu handeln, zu verhindern und zu ordnen, lenkte ihren Gedankengang sofort in dieser Richtung weiter – sich hierzu jede mögliche Berechtigung zu erwerben. Sie begriff ohne weiteres, daß sie, um das beabsichtigte Ansehen und die Autorität einer Älteren zu erlangen, ihre Gegensatzstellung zu Herrn v. Grubeck aufgeben müsse. Sie mußte mit ihrem so viel älteren Gatten gleichgestellt sein, mit ihm kameradschaftlich Hand in Hand gehen, um ihrerseits als Matrone gelten zu können. Daß die gequälte Frau dieses Ziel, welches eine so grausame Überwindung der natürlichsten Eitelkeit erforderte, so ganz ungestört im Auge behielt, bezeugte noch einmal, wie aufrichtig und wie unwiderstehlich ihr Trieb war, den einzigen, ihr möglich erscheinenden Ausweg aus allen Irrgängen einzuschlagen. War hierfür noch irgendein Beweis nötig, so wurde er sicherlich auch durch die Rücksichtslosigkeit und Selbstüberwindung erbracht, mit welcher sie eine Annäherung an ihren Gatten einleitete, von dem sie in der Zeit ihres Nebeneinanderlebens durch alles, durch Temperament, Sympathien und Anschauungen getrennt und mit dem sie durch nichts anderes als durch das rein äußerliche Band ihrer Ehe verbunden gewesen war. Auch wurde sie durch den Mißerfolg ihres Versuches, die Kluft, welche sie von ihrem Gatten trennte, zu überbrücken, kaum überrascht.

Bei der geringen Achtung, welche Dora für den Charakter ihres Mannes hegte, hatte sie bei ihm nicht einmal den Wunsch vorausgesetzt, eine Verbesserung des Verhältnisses herbeigeführt zu sehen. Tatsächlich hatte Herr v. Grubeck indes nie aufgehört, auf das drückendste all das Peinliche zu empfinden in seiner Ehe mit der für ihn unverständlichen und zudem jungen Frau, die ihm, den armen Offizier, alles, was er jetzt Sein nannte, gebracht, und der er nichts dagegen bieten konnte. Doch war der natürlicherweise in dieser Empfindung ruhende Wunsch, das Falsche, das in sein Leben geraten und es umgewandelt, auszuscheiden, ein höchst platonischer: Herr v. Grubeck war stets einer Überlegung seiner Verwirklichung ausgewichen. Bei derartigen Lebensbedingungen eines Mannes liegt der Vergleich mit der Erscheinung nahe, daß auch die Frau, nachdem sie sich einmal verkauft hat, das Bewußtsein ihrer Unehre nie völlig zu verlieren pflegt, aber dennoch kaum je über ihre gänzliche Unfähigkeit mit sich streitet, jemals eine Rückkehr aus ihrem moralisch verarmten, aber materiell verbesserten Leben anzubahnen. So sehr der Major namentlich in der Zeit, als er den Gegensatz und die häusliche Rivalität seiner Tochter mit seiner zweiten Gattin sich immer mehr verschärfen sah, unter dem Mißverhältnis seiner neuen Häuslichkeit, in der er sich förmlich »gesunken« vorkam, gelitten, hatte er doch immer gefühlt, daß er die Annehmlichkeiten seiner jetzigen Lebenslage nie mehr werde entbehren können. Dabei war es bemerkenswert, daß der Mann, der diese moralisch bedrückte und gekrümmte Existenz führte, nicht eine gewaltsame Umformung des Charakters erfahren hatte, der ehemals den jüngeren Offizier von so offener, soldatisch gerader Männlichkeit erscheinen ließ. Sein Charakter hatte nur durch die veränderten Lebensumstände eine neue und mehr verräterische Beleuchtung erhalten. Viele andere sind darin glücklicher, als er es war. Es gibt Menschen, deren Schwäche nie richtig offenbar wird, weil das Leben sie niemals auf die Probe stellt, wie es andere gibt, welche ehrlich geblieben sind, weil sie niemals Ursache und Gelegenheit zur Unehrlichkeit gehabt haben.

Herrn v. Grubecks Ansprüche an das Leben, die Forderungen seiner Natur waren bis zu dem Tode seiner ersten Gattin und in seinem Offiziersleben ganz befriedigt worden. Er hatte nicht nötig gehabt, sie mit Gewalt und unter Verletzung der Interessen anderer durchzusetzen. Mindestens hatte er nie das Bewußtsein, dies zu tun, gehabt, da er seine persönliche Freiheit nicht durch die Ehe gebunden fühlte. Wenn er seine Frau täuschte wie ehemals seine Geliebten, so war dies eine nur zu natürliche, weil alltägliche Fortsetzung des Junggesellen- und Kavalierlebens, über die er sich niemals ausdrücklich Rechenschaft ablegte. Zudem war seine Gattin meist kränklich, sie lebte so gut wie getrennt von ihm, ohne seinem Leben irgendwelche Anregung oder einen bestimmten Inhalt zu geben. Hätte er sich jemals nach dem Stande ihres Verhältnisses gefragt, so wäre er für seine Person zu dem Ergebnis gelangt, der Frau nichts schuldig zu sein. Aber damals lagen ihm solche Reflexionen fern, und als er sie später anstellte, stand ihr Ergebnis doch nicht mehr ganz fest. Der Tod seiner Gattin hatte sein Gewissen weicher gemacht; er konnte nun zuweilen eine niederschlagend klare Vorstellung haben von all dem, was er der Verstorbenen hätte sein sollen und was er ihr nicht gewesen. Seine Lebensbegierde zwar und die Gewohnheit seines Lebens bäumte sich nur noch heftiger auf bei dem Eindringen dieser ersten, hoffnungslosen Melancholie. Damals war es, daß er sich einem letzten, heftigen Anfall von Unregelmäßigkeiten und Ausschweifungen ergab, der die bis dahin noch immer kernhafte Gesundheit des nicht mehr Jugendlichen untergrub. An einem Spielabend setzte er den größten Teil des Vermögens zu, das seine Frau ihm hinterlassen. Und fast zur selben Zeit traf ihn ein anderes Unglück. Grubeck war immer ein forscher Reiter und ein guter Kamerad, aber nicht eben ein hochbefähigter Offizier und jedenfalls kein Taktiker gewesen. Nach einem unglücklichen Manöver ereilte ihn das Schicksal der Verabschiedung. Sodann war es erstaunlich, wie schnell die veränderten Lebensbedingungen ihm die jugendliche Elastizität nahmen, von der er wenigstens noch den Anschein besessen, so lange er die Uniform trug.

Wie er aber nach dem Tode seiner Gattin entdeckt, daß mit der stillen, meist unsichtbaren Frau dennoch ein Stück seines Lebens dahingeschwunden, daß die Atmosphäre, die ihn umgab, sich verändert hatte, so bemerkte er nun andererseits, einmal aus seinem letzten, schweren Rausche erwacht, daß es ein anderes Stück seines Lebens gab, das ihm bisher so gut wie fremd geblieben: seine Tochter. Wenn er in der stillen, mehr als je vorher nachdenklichen Zeit, die nun für ihn folgte, den Umgang Annas auf sich wirken ließ, so fragte er sich mehr als einmal, wie ihm dieses sein eigenes Fleisch und Blut so grenzenlos fremd hatte bleiben können, wie es ihm jetzt erschien. Woran die Mutter die längste Zeit durch ihren leidenden Zustand verhindert worden war, das hatte er selbst stets vergessen, seine Pflicht, die Entwicklung des heranwachsenden Kindes zu führen, ihre Seele und ihren Geist zu formen. Jetzt traf ihn das Ergebnis dieser Entwickelung, das er bei der ruhigen und ernsten, wenig kindlichen Siebenzehnjährigen vorfand, überraschend genug. Wenn sich bei den einsamen Mahlzeiten Vater und Tochter gegenübersaßen, versuchte er nun häufig, die gewöhnlich Schweigsame aus sich herausgehen und ihr Inneres aussprechen zu machen. Es gelang ihm leicht; sie antwortete auf alle seine Fragen in ihrer ruhigen, sichern Weise, und er fühlte wohl, daß, was sie redete, nichts Zufälliges war, sondern daß alles in ihrer tiefsten Natur begründet lag, daß aus allem ihr Geist und ihre Seele blickte. Und diese hatten, auch das empfand er deutlich, Bahnen eingeschlagen, die ihm selbst fremd waren, die er nicht einmal zu überblicken vermochte. Er erkannte, daß ihm hier nichts mehr zu tun blieb. Dann war er nicht imstande, die Tochter anzusehen, er blickte schweigend auf seinen Teller nieder und hörte ihren Worten zu, die mit so schlichter Natürlichkeit und wie zu einem Freunde gesprochen wurden, und ganz leise schlich sich so auch in seine Seele, wie später in die Wellkamps, der alles besänftigende Frieden ein, den dies in seiner prunklosen Selbstsicherheit so überlegene Geschöpf um sich verbreitete. In solchen Stunden fühlte er sich besser werden.

Freilich war eine durchgreifende Umwälzung seiner Natur hierdurch so wenig wie durch irgendwelche anderen Einflüsse ermöglicht. Der schwächliche Egoismus, der durch sein früheres Leben, in dem er keinerlei Hindernisse zu überwinden gehabt und verborgen bleiben konnte, verwöhnt war, wirkte gleichwohl in ihm fort. Die von Anna einst ihrem Verlobten gegebene Erklärung, als habe ihr Vater seine zweite Ehe ihrer selbst wegen geschlossen, war gewiß nicht unberechtigt. Es hatte Herrn v. Grubeck aufrichtig bekümmert, eingeschränkte, fast ärmliche Verhältnisse auf ein ganzes Leben hinaus mit Wahrscheinlichkeit für seine Tochter vorauszusehen. Da die Schuld für ihre Vermögenslage ihn selbst traf, mochte er sich sogar einreden, sie auf diese Weise gut machen zu können. Es war nur die Frage, ob dieser Grund hinreichend gewesen wäre, wenn nicht auch er selbst, blieb alles wie es damals stand, unter den trüben Empfindungen des Alterns einem gegen seine Lebensgewohnheiten herb abstechenden Rest seines Daseins hätte entgegenblicken müssen.

Daß sich seine Wahl auf Fräulein Dora Linter gelenkt, war wohl vor allem der Gelegenheit zuzuschreiben, welche ihm durch die ihm selbst – er war nicht ganz ohne Selbstkritik – unerklärliche Bevorzugung seitens des vielumworbenen jungen Mädchens geboten ward. Außerdem sagte ihm das Alter der Dame zu, in dem er beinahe eine Entschuldigung für sich sah, und ihr noch über dies Alter hinausgehendes, stillvornehmes, allen jugendlichen Aufregungen abgeneigtes Wesen.

In den neuen Verhältnissen nahm dann alles seinen notwendigen Gang. Die Frau, die er nicht liebte, vermochte er ebenso wenig zu verstehen. Nachdem einmal die stetigen Rücksichten, die der halb gesellschaftliche Ton der ersten Zeit ihres Zusammenlebens mit sich brachte, ein wenig beiseite geschoben waren, förderte die offenere Verkehrsart zwischen den Gatten sofort Grundantipathien zu Tage, aus denen die einschneidendsten Konflikte zu erwachsen drohten. Dies hatte zur Folge, daß Herr v. Grubeck zu einem formellen, abgemessenen Wesen zurückkehrte. Ihr ehelicher Verkehr verringerte sich schnell und hörte ganz auf. In dem Maße aber, wie der Major sich von der Gattin zurückzog, vermehrte sich sein Schuldbewußtsein ihr gegenüber. Tatsächlich war dies die durch den veredelnden Verkehr der Tochter mit ihm vorgegangene Veränderung: sein Gewissen war verfeinert worden. Wenn zu gleicher Zeit der Egoismus seiner Lebensführung nur immer noch rücksichtsloser wurde, so zeigte dies, daß auch bei ihm eine Krankheit des Willens zum offenen Ausbruch gelangt war. Nur außergewöhnliche Charaktere werden in unserer unfruchtbar kritischen und zu schlichten Handlungen unfähigen Zeit ganz frei von dieser seelischen Krankheit sein, welche in ihren Opfern die Empfindsamkeit gegen sich selbst, die Selbstkritik zu immer schwächlicherer Verfeinerung ausarten läßt, während zugleich die Fähigkeit, ihre Handlungen nach ihrer besseren Einsicht zu lenken und zu regeln, in ihnen immer mehr erlahmt. Bei weicheren, von vornherein zur Reflexion und zum Empfindungsdilettantismus bestimmten Naturen pflegt die Krankheit des Willens zu einem vollständigen Aufgeben der Initiative zu führen; die Selbstkritik nimmt eine so virtuose Vielseitigkeit an, daß: die einfachste Entscheidung nach einer bestimmten Seite hin dem Betroffenen unmöglich wird und sein Leben sich in einer ewig schwankenden Ratlosigkeit verliert. War dies etwa Wellkamps Fall, so lag der des Majors v. Grubeck anders; denn es war der einer mit starken eigensüchtigen Trieben ausgerüsteten Natur. Die Krankheit war hier viel später zum Ausbruch gelangt, durch Unglücksfälle äußerer Art, welche jäh zur Besinnung brachten und zur Rückschau aufforderten, noch mehr, wenn sie wie hier in die Zeit fielen, wo die Triebe bereits hinlänglich abgeschliffen waren, um die Genußfähigkeit erlahmen zu lassen. Das beginnende Alter ist mit der sozusagen körperlichen Melancholie der Ernüchterung ganz geeignet, das Schuldbewußtsein zu wecken. Letzteres wächst unaufhaltsam, mit seiner Reflexion das gegenwärtige Leben nicht weniger als das vergangene angreifend und zersetzend. Aber der eigensüchtige Wille des Triebmenschen ist darum nicht gebrochen. Er wirkt mit der Reflexion zugleich fort, gegen die er sich mit immer wachsender Heftigkeit empört. So entsteht der Trotz des mehr oder weniger moralisch Entgleisten dieser Art gegen das, was er selbst als sein besseres Ich empfindet.

In solcher Stimmung des selbstquälerischen Trotzes also war es, daß der gealterte und durch den inneren Unfrieden der letzten Jahre verbitterte Mann die ihm noch einmal dargereichte Hand der Gattin zurückwies. Er zog sich vor ihrer unvermittelten Annäherung mit dem Gefühl des Unbehagens zurück, das ihm die Störung seiner selbstsüchtig abgeschlossenen Bequemlichkeit verursachte, selbst wenn sie tatsächlich zum Besseren führen konnte. Ob dies überhaupt möglich gewesen wäre, ob die tiefen Gegensätze, die in der stummen Feindschaft dieser ganzen Zeit zwischen den Gatten aufgerissen waren, je auszuheilen waren, daran hatte Dora in der Lage, welche ihr jenen Entschluß abnötigte, schwerlich gedacht. Sicher war es jedoch, daß der Widerwille des Gatten, auf ihre Absichten einzugehen, ohne für sie ein Hindernis zu bilden, ihr vielmehr eine gewisse Genugtuung bereitete. Der Mann, auf den sie herabgesehen, obwohl oder weil das Zusammenleben mit ihm genau so ausgefallen, wie sie es von Anfang berechnet, gab ihr bei dieser Gelegenheit das Recht zu noch rücksichtsloserer Verachtung. Auch wurde ihre Absicht durch sein Verhalten am Ende nicht durchkreuzt. Ob er ihr entgegenkam oder nicht, in jedem Falle war es ihr ermöglicht, den vertraulicheren Ton, den sie ihm gegenüber in Abwesenheit der jungen Leute eingeleitet, auch nach deren Rückkehr anzuschlagen.

Ihr Entschluß, den sie unter der treibenden Notwendigkeit, sich vor sich selbst zu retten, gefaßt, war alsbald zur fixen Idee geworden. Auch sagte ihr der Instinkt, welcher uns zuweilen eine Wahrheit über unsere innerste Seelenbeschaffenheit verrät, und welcher wohl kein anderer als der der Selbsterhaltung ist, daß diese Idee ganz so, wie sie sich ihr aufgedrängt, bestehen bleiben müsse. Jede Überlegung konnte nur Zweifel, Unsicherheit und somit die allergrößte Gefahr zur Folge haben. Sie vermied daher aufs sorgfältigste die einsamen Träumereien, die so lange ihre liebste, schmerzlich-süße Gewohnheit gewesen waren. Zur Lektüre, die ihr sonst stets den Eingang zu einem Reich geheimnisvoller Empfindungen geöffnet, in welchem sich ihre Träume verirrten, suchte sie jetzt nicht die gefährliche Muße. Dagegen nahm sie Beschäftigungen verschiedener Art, die sie lange vernachlässigt, wieder auf. Lange Zeit liegen gebliebene Korrespondenzen wurden nun plötzlich mit großer Hast erledigt. Auch begann die junge Frau in einer zufälligen Laune sich mit der seit Jahren nicht mehr geübten Musik zu beschäftigen. Sie besaß kein ausgesprochenes Talent und hatte sich auch früher niemals eine nennenswerte Übung erworben. Inzwischen waren ihre Finger für das Klavier ein wenig steif geworden, und um sie aufs neue einzuüben, war sie nun veranlaßt, sich halbe Tage und bis zu einer angenehmen Ermattung mit den einfachsten Exerzitien zu beschäftigen. Allmählich ging sie, ohne eine besondere Auswahl vorzunehmen, zu den schlichten Schubertschen Melodien über, die ihr unter ihren Noten gerade in die Hände fielen. In die tiefe und ganz vergeistigte Melancholie des Meisters intim einzudringen, war sie wohl nicht imstande, doch weckte dieselbe etwas wie einen physischen Widerhall in ihr. Bei irgendeinem schmerzlichen Mollakkord geschah es, daß sie zusammenschauerte, und Tränen in ihre Augen traten. Es überschlich sie dann ein ganz unbestimmtes, wesenloses, aber aufrichtig gefühltes Selbstbedauern und zugleich eine stille Ergebung in die Notwendigkeiten, unter denen sie lebte. Wenn sie sich nach solchen Stunden vom Flügel erhob, so fühlte sie sich im Innern ruhiger und ernster geworden und der Aufgabe, die sie sich gestellt, besser gewachsen.

Besonders in diesen Augenblicken liebte sie es, hauptsächlich um sich ihre still-pflichtbewußte Stimmung ausdrücklich zu bestätigen, die Geselligkeit ihres Gatten aufzusuchen. So ungelegen dem alten Herrn, den sie meist in seine Sammelmappen vertieft oder mit eigener Kunstübung beschäftigt traf, die Störung kommen mochte, war er doch zu sehr Kavalier, dies merken zu lassen. Er erklärte dann der ihm gegenüber Sitzenden einen oder den anderen seiner zeichnerischen Versuche und hörte mit vollendeter Aufmerksamkeit zu, wie sie von ihrer Musik sprach oder des Briefes irgendeines gemeinschaftlichen Bekannten Erwähnung tat, um den sich beide seit Jahr und Tag nicht gekümmert. Rein äußerlich schien es so, als sei das Verhältnis der Gatten von Grund aus umgestaltet, und als sei alles durch die Art dieses Verhältnisses etwa Vorbereitete unmöglich geworden, so ruhig-familiär war die Redeweise der Frau und so höflich besorgt diejenige des Mannes, der allerdings seinerseits derartige Unterredungen niemals herbeiführte und nach ihrer Beendigung ein Unbehagen wie nach einer unnütz verlorenen Stunde zu überwinden hatte.

Bei einer dieser Gelegenheiten hatte Dora ihm, im Anschluß an ihr Musikgespräch, nahegelegt, sie gelegentlich in die Oper zu führen. Auch dieser so außergewöhnliche Wunsch vermochte, neben ihrem auch sonst veränderten Betragen, Herrn v. Grubeck wohl zu überraschen, ohne ihn aber in Verwunderung zu setzen. Einerseits war ihm selbst, seit er die gewohnte Gesellschaft der Tochter entbehrte, das Haus verödet und sein eigenes Leben zuweilen unheimlich still erschienen; und im Zusammenhang damit kam ihm leicht der Gedanke, daß Dora, deren unerträgliches Verhältnis zu Anna ja auch ihn fortwährend bedrückt, jetzt, da sie ihn von dem Einflüsse der Rivalin frei sah, eine Annäherung an ihn suchte. Die männliche Eitelkeit, die auch in einem Verhältnis wie diesem nicht gänzlich außer Wirkung gesetzt war, machte ihm den Gedanken einleuchtend genug. Andererseits war er von jeher gewohnt gewesen, alle auffallenden Äußerungen der Frau auf ihre nervös-launische und, dessen war er zu seinem Unglück gewiß, unbefriedigte Natur zurückzuführen. Ohne ausdrücklich über den neuen Wunsch Doras nachzudenken, kam er ihm nach. Die paar klassischen, ihm aus seiner Jugend in der Erinnerung gebliebenen Opern, in die er sie führte, blieben nun zwar auf sie ohne Eindruck. Indes hatte gleich der erste Abend, den sie so außer Hause zugebracht, einen für sie selbst überraschenden Erfolg. Sie war als eine der Gesellschaft bisher fast unbekannte und ungewöhnliche Erscheinung in ihrer Loge viel beachtet worden. Sie hatte Gelegenheit, wieder die ihr ehemals so geläufige Augen- und Fächersprache zu reden und, wie dies in großer Gesellschaft der Fall ist, ohne besonderes Interesse an der einzelnen Person, das große Publikum auf sich wirken zu fühlen, ebenso wie sie den Eindruck verspürte, den sie selbst auf den Saal machte. So war sie nach Jahren einmal wieder zu dem ungestörten Selbstgenuß gekommen, dessen Frauen ihres Schlages sich nicht ungestraft dauernd berauben. Sie begriff nicht, wie sie dies so lange Zeit fast vollständig hatte tun können. Mit dem ersten Ausfluge, den sie gewagt, und den sie nun häufig zu wiederholen beschloß, war viel von dem innern Fieber verschwunden, das nur in der fortwährenden Einsamkeit des Hauses eine so beängstigende Höhe hatte erreichen können.

Nun aber schien alles so gut geregelt, daß sie selbst an dem Tage, als die jungen Eheleute ihre Rückkehr für den Abend anzeigten, eine fast heitere Ruhe bewahrte. Als sie Wellkamp endlich gegenübertrat, hatte sie wirklich die Genugtuung, ganz ungezwungen die Haltung zu finden, die sie beabsichtigt. Noch mehr hatte es sie befriedigt, die Wirkung davon auf den jungen Mann wahrzunehmen; wie er anfangs erstaunt war, um sich dann schnell und mit einer sichtlichen Beruhigung, in das veränderte Verhältnis zu finden, und wie es durch seine fernere Unterhaltung wie ein endgültiges Aufatmen ging. Dies alles zu fühlen, hatte ihr eine süß-melancholische, aber so sichere und zufriedene Stimmung gegeben. Warum mußte diese so schnell und so schrecklich gestört werden? Sie hatte in ihren hastigen, ganz von dem unwiderstehlichen Trieb zur Handlung bestimmten Berechnungen, welche sich ausschließlich mit dem Manne beschäftigten, die Frau überhaupt fehlen lassen. Dies war es, was jetzt das Verhängnis beschleunigte. In all den Wochen, in denen ihre fixe Idee ihr immer von neuem die Vision eines ersten Wiedersehens mit Wellkamp gezeigt, hatte sie sich Annas kaum ein- oder zweimal in unbedeutender Weise erinnert. So mächtig war die Voreingenommenheit, welche sie der neuen Situation entgegenbrachte, daß sie auch noch in jener halben Stunde vor dem Kamin, während sie jede unmerklichste Äußerung von Wellkamps Stimmung erhaschte, für die junge Frau, selbst wenn sie einige Worte mit ihr wechselte, ohne jede innere Aufmerksamkeit war. Um so schwerer war der Schlag, der sie wenige Augenblicke später traf, während sie ahnungslos dem jungen Manne entgegenschritt, dessen Absicht, ihr seinen Dank abzustatten, sie bemerkte. Als sie bei einer zufälligen Kopfwendung jenem beleidigenden Blick Annas begegnete, war es ihr tatsächlich, wie wenn sie einen heftigen Stoß vor die Stirn erhalten, der sie während einer Sekunde den Schritt anhalten ließ. Auch ihr Blut stockte einen Augenblick, um gleich darauf wie entfesselt seinen Kreislauf fortzusetzen. Sobald der Taumel, der sie ergriff, und in dem sie dennoch die Energie finden mußte, ihre ruhig-lächelnde Miene zu bewahren, niedergekämpft war, machte sie die Entdeckung, daß sie die letzten Wochen hindurch alles anders gesehen als es war, nun sie die grausame Wirklichkeit wiederfand. Mit völliger Klarheit des Gefühls, welches wenigstens in solchen entscheidenden Momenten keinen der sonst so häufig verwirrenden und trügerischen Sophismen zuläßt, erkannte sie die Bedeutung des tollen Hasses, der sich mit einer nie geahnten Zügellosigkeit in ihr gegen jene Frau, gegen die Besitzerin des Mannes bäumte, dem jeder ihrer armen gequälten Gedanken galt. Die heiße Wallung war sofort der eiskalten Entschlossenheit gewichen, nunmehr mit ganzer Rücksichtslosigkeit gegen alle und gegen alles ihre Macht zu brauchen. Denn nicht die Andere, sondern sie selbst war es, welche die Macht über den Mann besaß, welche sie in der ersten Minute des ersten Zusammenseins mit ihm in jedem ihrer Worte, in jeder Bewegung ihrer Stimme, in der ganzen Berührung ihres Wesens mit dem seinen verspürt hatte. Und nun ließ sie diese geheimnisvollen Kräfte spielen, um mit einer fast wilden Freude die Wirkung zu beobachten, die ihre äußerlich so unbedeutenden Worte auf ihn hervorbrachten. Das nervöse Spiel seiner Stirn, seines Mundes und die namenlose sinnliche Anspannung, mit der sie selbst jeder Bewegung seines geliebten, für sie so durchsichtigen Gesichtes folgte, brachten ihr einen letzten Beweis, wenn ein solcher hier noch von nöten war, daß alles entschieden sei.

Während sich die beiden Menschen nun an dem weihnachtlichen Familientisch gegenübersaßen, streifte inmitten der Unterhaltung, die trotz allem aufrecht erhalten werden mußte, zuweilen einer des anderen Blick, um sich nur aufs neue zu vergewissern, daß die müde Traurigkeit in diesem schuldigen Blick die gleiche sei, in die ihn selbst diese traurige Leidenschaft versenkt hatte.

Heinrich Mann - Sämtliche Romane

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