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VII
ОглавлениеAm nächsten Morgen hatte Dora sich zeitiger erhoben, als es seit Jahren ihre Gewohnheit war. Sobald sie Herrn v. Grubeck in seinem Zimmer wußte, war auch sie in ihr Boudoir hinübergegangen, und ihr Frühstück, bei dem sie sonst eine lange, träumerische Stunde verweilte, war beendet, als drunten die aufschlagenden Hufe ihr den Ausritt ihres Gatten und Annas ankündigten.
Das Zimmer, das sie nun sofort aufsuchte, pflegte sie bis vor kurzem wenig genug zu betreten, obwohl es bei der Einrichtung, die sie von Anfang an ganz dem Major überlassen, recht eigentlich für sie beabsichtigt worden. Herr v. Grubeck hatte, da Dora damals in ihrer Brautzeit noch zuweilen vor ihm musizierte, eben das Musikzimmer gewählt, um einen Raum besonders ganz nach dem Wesen und der Eigentümlichkeit der Bewohnerin abzustimmen. Dora, welche wenig von seinem rein künstlerischen Geschmack besaß, hatte das hübsche Ergebnis, das ihr Gatte hierin erzielt, kaum zu würdigen gewußt. Der feine Geschmack, der für sie mit der Lust am Gefallen ab- und zunahm, hatte in ihren Interessen erst dann wieder eine über das Gewöhnliche hinausgehende Rolle zu spielen begonnen, als das Erscheinen Wellkamps der Gleichgültigkeit und Müdigkeit ihres Daseins ein Ende gemacht. Mit dem Auftauchen des Zweckes hatte auch der kokette Schönheitssinn von neuem seine feinen Blüten getrieben. Die junge Frau lächelte, während sie sich langsam am Flügel niederließ, bei dem Gedanken an die vielen Morgenstunden, in denen, so flüchtig sie vielleicht den Geliebten gesehen, jedesmal ein neuer kleiner Kunstgriff in ihrer Toilette ein wenig dazu beigetragen haben mochte, sie dem jetzt erreichten Ziele naher zu bringen. Sie erinnerte sich, wie ihre frühere zeitweilige Neigung, durch Umgehung einer eigentlichen Morgentoilette das spätere lästige Umkleiden zu vermeiden, seit der ersten Begegnung mit Wellkamp sogleich verschwunden war. War sie nicht erst seitdem recht des Vorzuges inne geworden, den für ihre schlanke und diskrete Schönheit ein anspruchsloses, wenngleich überlegtes Negligé bedeutete? Für heute indes, für den Augenblick, da ihr Glück sich endlich erfüllt, hatte sie die Ausführung eines ganz neuen, eigenartigen Einfalles bestimmt. Schon seit sie in letzter Zeit ihre lange vernachlässigten musikalischen Übungen wieder aufgenommen, hatte sie bemerkt, wie harmonisch alles in diesem Räume sich gleichsam um sie her legte wie die Falten eines auf ihre Gestalt zugeschnittenen Gewandes. An diesem Morgen nun trug sie das Gewand, dessen Komposition ihr auf solche Weise eingegeben war. Gleich dem Gemache war es im Empire-Style ausgeführt, der mit seiner vornehmen Geradlinigkeit zur Umrahmung schlanker Glieder erdacht zu sein scheint. Dabei wurde eine etwaige Steifheit durch kleine, vom modernen Geschmack hinzugetane Extravaganzen sofort wieder aufgehoben, ebenso wie aus den feierlichen Formen ringsumher hier und da eine Rokoko-Spielerei hervorsprang in der Art einiger hübsch ausgeführten Fresken, musizierende Amoretten darstellend. Die Nuance des Kleides stimmte völlig mit der hell-lila Seide überein, in der alles, Wand- und Möbelbezüge wie Portièren und Teppiche, gleichmäßig gehalten war. Dora war, als sie sich umwendend ihr Bild in dem Pfeilerspiegel zwischen den Fenstern begrüßte, selbst erstaunt, wie unübertrefflich die matte und dabei helle Farbe mit ihrem durchsichtigen und doch auch im vollen Licht immer wie beschatteten Teint harmonierte. In ihrem halb unbewußten Bedürfnis nach Dämmerung schlug sie die Fenstervorhänge übereinander, so daß sie nur oben, wo sie auseinanderfielen, etwas volles Licht hindurchließen, das, vom Spiegel reflektiert, über den leichten Nackenflaum der am Flügel Sitzenden huschte. Sie hatte leise mit einer Hand zu präludieren begonnen, wobei ihre träumenden Sinne weniger den abgerissenen, wie zufälligen Tönen als den Bewegungen ihrer biegsamen Finger folgten. Während einiger Augenblicke blieb sie in die naive Bewunderung der eigenen Reize versunken, die auch wohl raffinierten Frauen nach der Erlangung eines Glückes, so groß, daß es fast unbegreiflich erscheint natürlich ist.
Von dem triumphierenden Glücksgefühl, mit welchem Dora heute Morgen nach ruhig durchschlafener Nacht erwacht war, und das diese ersten Stunden – auf wie lange? – ohne Verbitterung blieb, war in dem Liede, das sie dann nach den vor ihr stehenden Noten anschlug, kaum etwas zu spüren. Dora aber sang es mit jener Melancholie des Glücks, die, vermöge der seltsamen Macht des Gegensatzes, uns das Lustgefühl doppelt durchkosten läßt. Übrigens konnte allen ihren Dispositionen nichts besser angepaßt sein als diese, von einem jungen Komponisten, den sie bevorzugte, herrührende Komposition des Geibelschen »Die stille Wasserrose«. Sie war ganz geeignet, diese weniger in die Tiefe gehende und aufwühlende, als mit sicherem Geschmack eine komplizierte Empfindlichkeit berührende Musik zu verstehen. Das Charakteristische der Melodie war eine auch in augenblicklichen Steigerungen gleichsam resignierte Weichheit und die unmerklich fesselnde Monotonie ihrer wellenförmigen Gangart. Gleich den wechselnden und sich wieder erneuernden Klangfiguren, die in immer neuen Tönen stets den selben Gedanken ausdrückten, fluteten die eigenen Gedanken der Spielerin, in vagen Wellen, fort ins Unendliche, um stets zu dem einen festen Punkt zurückzukehren.
Während sie nach Beendigung des Liedes, die Lippen leicht geöffnet und die Hände lässig auf die Tasten gelehnt, die wachgerufene Bewegung in sich ausklingen ließ, meinte sie, mehr vielleicht durch sympathische Ahnung als durch eigentliche Sinneswahrnehmung, die äußere Tür des Zimmers hinter den davorgelegten Portièren sich öffnen zu hören. Unter einer süßen Spannung, abzuwarten, sich belauschen und überraschen zu lassen, begann sie wiederum, und es war abermals Melancholie, aber eine sozusagen wirklichere, mehr greifbare, die der Komponist in dem »Lied der Ghawâze« des Prinzen Schönaich-Carolath behandelt hatte. Statt der unsichern Traumstimmung, die im vorhergehenden Stücke geherrscht, fand sich hier das tiefe Aufschluchzen eines Menschenlebens ausgedrückt. Die Sängerin war selbst von der wunderlichen Situation mehr und mehr hingerissen, so daß die kurzen, abgerissenen Verse in ihrem Munde eine überraschende Wiedergabe erfuhren.
»… Falsch meine Liebe,
Echt nur mein Leid …«
Sie war selbst erstaunt, einen so ganz von der wahren Stimmung durchtränkten Ausdruck zu finden. Wirklich war während des Gesanges sogar ihre Stimme weicher geworden; sie schien ihre gewöhnliche Härte zugleich mit dem Zwange abgelegt zu haben, der ihr im alltäglichen Verkehr gewohnt war, und dessen sie in diesem Augenblicke und unter dem Deckmantel, den ihr die fremden Worte verliehen, nicht bedurfte.
Der Lauscher hinter dem Vorhange wurde von dem intimen Einblick, der ihm so unvermutet in die Seele der geliebten Frau eröffnet schien, seltsam und tief berührt. Er dachte nicht daran, zu unterscheiden, was in dieser Stimmung Wesentliches und Bedeutendes, was nur Augenblickliches und paradoxe Selbsttäuschung darin sein mochte. Er wurde vollends überwältigt durch ihre ausdrucksvolle und dabei so schlichte Klage
»Keiner hat lieb mich
Auf dieser Welt …«
dergestalt, daß er mit ziemlich heftiger Bewegung hervortrat und den fast schmerzlichen Vorwurf nicht zurückhielt:
»Wie magst Du das aussprechen!«
Er erstickte den kleinen Schrei, den sie bei seinem plötzlichen Erscheinen ausstieß, mit seinen Lippen. Da durch den leichten Schreck die eigentümliche Spannung der letzten Augenblicke gelöst war, gab Dora sich seinen Liebkosungen mit zärtlicher Zufriedenheit hin.
»Du hast mir mutwillig eine ganze Viertelstunde unseres kostbaren Zusammenseins geraubt, Du Horcher an der Tür«, sagte sie. »Was Du gehört hast, war nur Deine gerechte Strafe.«
Sie richtete sich, wie er über sie geneigt stand, an seinen Schultern auf, um lässig an ihn gelehnt den Raum zu durchschreiten. Dabei gab sie sich kaum die sonst stets gewohnte Mühe, das leichte Nachziehen ihres linken Fußes zu verbergen. Es war, als sollte in solchen ersten, seltenen Stunden ihrer Verbindung, recht im Gegensatz zu all ihrem früheren Leben, die Intimität ihrer Liebe keine Grenzen kennen.
Die Begrüßung war zärtlich und still gewesen; erst allmählich kam wieder die ungestüme Leidenschaft des vergangenen Abends über sie. Sie wiederholten sich die Liebesworte, die sie für einander gefunden, und belebten mit halben Worten die süßen, erst so frischen Erinnerungen. Ein weiter, vor den Kamin geschobener Sessel hatte sie Beide aufgenommen. Zu dem engen Beisammensein teilten sich ihre Körper die Wärme gegenseitig mit, die sie von dem zu ihren Füßen flackernden Feuer erhielten. Zugleich schien diese Flamme sie wecken und beleben zu wollen mit ihren über sie hinhuschenden, spielenden und lockenden Reflexen, die Wellkamp mit seinem Finger liebkosend auf den Händen der Geliebten verfolgte. Dann riß er sie wieder mit sich in einem jener plötzlichen, wilden Anfälle, die sie in seiner nervösen, springenden Natur vorausgeahnt, und die sie dennoch in dieser ersten Nacht so unbeschreiblich süß erschreckt hatten. Bevor sie sich jedoch seinem Drängen ganz überließ, fand sie einen Augenblick zu einer von dem leidenschaftlich Erregten kaum bemerkten, wunderlichen Bewegung. Sie hatte kurz das Haupt erhoben, den Blick nach oben gerichtet, und zwischen ihren wie inbrünstig halb geöffneten Lippen hervor drang ein kaum hörbarer Ausruf, ein »O Gott!«, das als ein Dankgebet und als ein Flehen um Verzeihung gedeutet werden konnte, und das vielleicht beides in einem war.
Als er sie endlich frei gelassen, entfuhr diesen selben Lippen ein seltsam klirrendes Lachen, wie wenn zwei Messer in schneller Wiederholung leise aufeinander stießen. Sie hatte solche überraschende Umschläge ihrer Stimmung, die vielleicht ihr Instinkt nach der seinigen zu richten wußte. Jedenfalls fand sie genau den rechten Ton und Ausdruck wie eben jetzt den, womit sie ihr Gesicht, das ein wenig Farbe bekommen, dem seinen ganz nahe brachte. So hatte sie die Genugtuung, den schlaffen Zug, der augenblicklich darin lag, und die kleinen, seine Augenlider zusammenziehenden Falten, welche den Blick plötzlich so nüchtern erscheinen ließen, sogleich wieder verschwinden zu sehen. Sie lachte noch einmal, und wie zuerst ihren Schreckensausruf, so nahmen jetzt seine Lippen dieses Lachen von den ihren fort. Er liebte an Dora diese Unberechenbarkeit der Stimmungen, die ihn nie von einem Zustand, in den sie ihn versetzt, sich völlig erholen, nie ganz zur Besinnung kommen ließ. Sein Durst nach wechselnden, flüchtigen und doch starken Eindrücken hatte im Verkehr mit ihr Nahrung erhalten, und es ließ ihn mit einer Art nachsichtigen Mitleids lächeln, als ihm jene Frage Annas, die sie während der ersten, vertrauten Aussprache an ihn richtete, einfiel, ob er denn eine Frau lieben könnte, die er nicht verstände? War doch eben das Fremde, Unbegreifliche in dieser Frau ein Bestandteil der großen Anziehungskraft, die sie auf ihn ausübte. Unter diesem Eindruck schien ihm der Grund, weshalb die Intimität mit seiner Gattin ihn auf die Dauer nicht befriedigt hatte, vorwiegend in der übergroßen Einfachheit ihrer Natur zu liegen. Es blieb in Annas Seele zu wenig Unausgesprochenes, nicht Offenkundiges zurück, und wenn es Verborgenes darin gab – und welche Frau hätte nicht den, vielleicht ihr selbst unbekannten Instinkt, von dem Reize des Rätselhaften auch für den vertrautesten Geliebten stets etwas zurückzuhalten! – So war es doch nicht der Art, seine Phantasie dauernd zu beschäftigen.
Jenes seltsame Mitleid, das sich hier zuerst deutlich geregt, überwog während der ersten Zeit seines neuen Glücks in Wellkamps Gefühlen für Anna. Es kam ordentlich warm über ihn, als er sie beim Frühstück so still ihres Hausfrauenamtes walten sah. Die Erinnerung, wie inbrünstig er gestern Abend jene andere Hand geküßt, die ihm den Tee gereicht, schien ihm etwas wie einen traurigen Schatten über die Gestalt der ernsten jungen Frau zu legen. Er hätte sie gern sein Glück teilen sehen: es war unbegreiflich, wie der Egoismus der glücklichen Liebe für jetzt jedes Schuldgefühl von ihm ausschloß. Dora, welche der Major wegen ihres frischen Aussehens belobte – »Du solltest noch viel fleißiger Musik treiben, nun Du weißt, wie gut sie Dir tut«, sagte er – triumphierte heimlich über die ahnungslose Feindin, in deren Täuschung ihr Geliebter, wie ihr schien, sehr viel Geschicklichkeit setzte. Doch war die Unterhaltung Wellkamps, welche sie so auslegte, durchaus aufrichtig. Auch sah Anna in den Aufmerksamkeiten, die ihr Gatte ihr seit langem nicht so in alter Weise gewidmet hatte, nicht anderes als das Bestreben, den unfreundlichen Vorfall des gestrigen Tages vergessen zu machen, das sie ihrerseits von Herzen erwiderte. Ihr Gespräch ward mehr und mehr vertraulich, zuweilen selbst von einer scherzenden Vertraulichkeit.
»Magst Du mich heute Nachmittag auf einem Ausgange begleiten?« fragte Anna.
Er nahm eifrig an.
»Es kommt mir sehr gelegen, feurige Kohlen auf Dein Haupt sammeln zu können, nachdem Du uns gestern Deine Begleitung in die Oper abgeschlagen hast. Aber es ist wahr, daß für meine ernsthafte Frau die Musik von gestern Abend nicht gemacht worden ist.«
Dora, die die letzten Worte für eine leichte, frivole Anspielung nahm, blickte unter einem kleinen boshaften Vergnügen errötend vor sich nieder, während Anna ruhig fortfuhr:
»Es handelt sich nämlich um die Gründung eines Mädchengymnasiums, nach Schweizer Muster, weißt Du. Eine ehemalige Bekannte hat mich zur ersten Zusammenkunft des Komitees aufgefordert, dem ihr Mann angehört. Es ist natürlich ein Privatunternehmen. Der Staat kümmert sich ja nicht um uns«, setzte sie mit naiver Geringschätzung hinzu. Wellkamp wurde dadurch belustigt.
»Das mag interessant genug werden«, sagte er, »euch Emanzipierte einmal unter euch zu sehen.«
Zur bestimmten Zeit stellte er sich bei ihr ein und fand sie mit der Beendigung ihrer Toilette beschäftigt. Er prüfte letztere, während er im Rücken der jungen Frau, auf dem Divan sitzend, seine Handschuhe glättete. Sie fragte über den Sitz des schlichten dunkeln Rockes um seinen Rat, und indes er seine Meinung aussprach, war ihm zu Mute, wie wenn er zu einer vertrauten Schwester redete, von der ihn kein Geheimnis trennte. Er mußte, als sie zusammen das Zimmer verließen, sich besinnen, um nicht von seinem Glücke zur ihr zu reden, so groß war die moralische Verwirrung seines neuen Zustandes. Der Traum seiner Liebe vereinigte alles ringsumher für ihn zu einem harmonischen Ganzen, in welchem Freundschaft und Vertrauen an seinem Glücke freundlich teilnahmen, und worin Täuschung, Mißtrauen und Schuld sich nicht fanden. Diese seine Gefühle sollten sich nur allzu schnell ändern. Man hätte sogar meinen sollen, es sei für den Stand seines Verhältnisses zu Dora bezeichnend, wie Wellkamp sich in seinem Benehmen und seinen Gesinnungen zu seiner Gattin verhalte. Sicherlich hätte daher die schnelle und traurige Entwicklung jenes Verhältnisses ihn noch ungleich mehr niedergeschlagen, wenn er bei der Art, wie er bald darauf Anna gegenüberstand, sich der Freundlichkeit erinnert hätte, die noch vor wenig Wochen zwischen ihnen geherrscht. Er gab frühzeitig der Neigung nach, die in den Beziehungen mit seiner Geliebten aufgetauchten Schatten dadurch auszugleichen, daß er sich in offenen Gegensatz zu ihrer Feindin stellte. In dem Maße, wie die Bande zwischen ihnen sich lockerten, suchten und fanden die beiden Schuldigen eine neue und vielleicht letzte Zusammengehörigkeit in der gemeinsamen Abneigung gegen die von ihnen betrogene Frau. Das beifällige Aufleuchten von Doras Blick machte Wellkamp Mut zu den Demütigungen und selbst Gehässigkeiten, zu denen sich seine üble Laune gegen Anna allmählich steigerte.
Einmal in eine solche Feindseligkeit eingelebt, wobei ihn seine gewohnten sophistischen Auslegungen nur zu wohl unterstützten, war es ihm ein Leichtes, sie auch auf den Vater seiner Gattin auszudehnen, der zugleich der Mann seiner Geliebten war. Die bisher in ihm niedergehaltene, wilde und paradoxe Eifersucht des Liebhabers auf den Gatten ward jetzt erregt, wie er sie auch immer vor sich selbst verleugnen mochte. Sie war da und blieb da mit der ganzen Unlogik einer Leidenschaft, und sie ward nicht dadurch erträglicher, daß er ihr bei den besonderen Umständen, die in der Ehe geherrscht, die Berechtigung bestritt. Indes war die Erklärung, die er seiner nunmehrigen Gegnerschaft mit dem Major gab, gleichfalls wohl einzusehen. Tatsächlich trat bei dem jetzigen Stande der Dinge der tiefe Gegensatz in den Naturen der beiden Männer, der ehemals durch günstigere Umstände so wenig wie möglich fühlbar gemacht war, in seiner ganzen Schärfe hervor. Was war aus der offenen Sympathie geworden, die in der guten Zeit ihres Verkehrs zwischen den Männern geherrscht, was aus der gefälligen Rücksichtnahme, die Wellkamp diesem bescheideneren Geiste gegenüber, der für ihn gleichwohl etwas von väterlicher Autorität besaß, immer beobachtet hatte. Nun war es eben die Einfachheit der Natur Herrn v. Grubecks, die den komplizierten, weniger durchsichtigen Menschen in Wellkamp abstieß, ja beleidigte. Die Rückhaltlosigkeit und innere Freiheit des Wesens, die trotz der seelischen Krisen, die auch sie zu überstehen gehabt, diese Soldatennatur nie ganz verloren hatte, kamen ihm wie ein schweigender Vorwurf für alles das vor, was von seinem eigenen Leben verborgen und schuldig war. Sehr bald begann er sich zu fragen, ob Herr v. Grubeck in Wahrheit so ahnungslos sei, wie es den Anschein habe, und seiner wachsenden Empfindlichkeit ward es nicht schwer, in den gleichgültigsten Gesprächen Anspielungen zu entdecken, die ihn zittern machten. In der Scham, die ihm diese Furcht verursachte, beschäftigte er sich ernstlich mit dem Gedanken an eine Explosion und eine Aussprache. Endlich gelangte er in Reizbarkeit und Trotz dahin, eine Gelegenheit hierzu zu suchen, wenn der Andere nicht den Mut besaß, sie herbeizuführen. Dennoch dauerte es eine geraume Weile, ehe der Wunsch, der unerträglichen Unsicherheit seiner Lage ein Ende zu machen, die Oberhand über den natürlichen Widerwillen gegen einen derartigen Schritt behielt. Noch dazu bedurfte es einer Gelegenheit, wo seine üble Laune rein zufällig die Sache auf die Spitze trieb, ohne daß er eigentlich beabsichtigt hätte, den entscheidenen Schlag zu führen. Der Anlaß war von jener Kleinlichkeit, bei der nur die Streitsucht in einer Familie nicht scheut, sich aufzuhalten. Es ist, als würde hier die Wichtigkeit, welche gerade die unscheinbarsten Bande und Einverständnisse für eine glückliche Vertraulichkeit besitzen, dadurch bewiesen, daß andererseits auch kleine Differenzen unter den nahe bei einander Lebenden von größerer Wirkung sind als unter Entfernteren.
Wellkamp fand eines Tages seinen Schwiegervater damit beschäftigt, eigenhändig den Vorhang herabzunehmen, welcher die Verbindungstür zwischen den beiden zu einem Haushalt vereinigten Wohnungen verdeckte. Die kleinen Sorgen um das Interieur seiner Kinder, welche der alte Herr von jeher zu seinen Beschäftigungen gezählt hatte, das Vertauschen einer Dekoration, das gelegentliche Umstellen einiger Möbel, hatten neuerdings ebenfalls Wellkamps Mißfallen erregt. Er trat ungeduldig hinzu.
»Darf man wissen, was Sie vorhaben?« fragte er.
Der Major, ganz vertieft, beachtete kaum den gereizten Ton, in dem die Frage gestellt war und an den er übrigens in letzter Zeit durch den jungen Mann gewöhnt war.
»Sehen Sie sich nur den Stoff an, dort auf dem Stuhle«, rief er von seiner Trittleiter herab. »Er hat den Vorzug, mit der Bekleidung der beiden Räume gleichmäßig zu harmonieren. Ich komme heute endlich dazu, ihn statt dieses häßlichen Fetzens anzubringen, der mir damals bei unsern Einkäufen auf dem Halse geblieben ist, und für den ich keine andere Verwendung hatte als diese.«
Der Andere wurde durch den ruhigen Ton der kleinen Auseinandersetzung noch mehr gereizt. »Gestatten Sie mir, Ihnen zu bemerken, daß ich erwartet hätte, Sie würden mir von Anschaffungen, die meinen Haushalt so gut betreffen wie Ihren eigenen, vorher Mitteilung machen.«
»Aber meine Tochter hat mich ja gerade erst darauf aufmerksam gemacht. Ich dachte, Sie wüßten …« Betroffen durch die unerklärliche Heftigkeit war Herr v. Grubeck die Stufen der Leiter herabgeklettert und wies auf Anna, die, durch die laute Stimme ihres Gatten aufmerksam gemacht, soeben eintrat.
»Ich bin nicht benachrichtigt«, fuhr Wellkamp von neuem auf, froh, seinen Unmut auf Anna ausdehnen zu können, »und ich bedauere die Übereilung meiner Frau. Ich meinerseits würde von der Ausgabe abgeraten haben.«
Herr v. Grubeck wechselte abermals einen erstaunten Blick mit seiner Tochter, die berechtigten Grund hatte, im allgemeinen sich selbst für den sparsameren und unnötige Ausgaben unterdrückenden Teil des Wellkampschen Haushaltes zu halten.
»Die Ausgabe ist ja minimal, und …«
Wellkamp unterbrach seinen Schwiegervater mit einer heftigen Bewegung und nahm, ohne nur die Unschicklichkeit und Lächerlichkeit seines Gebahrens zu fühlen, einen neuen Anlauf. Es war ihm plötzlich die Idee gekommen, die Situation für seinen längst gehegten Vorsatz auszunutzen. Er konnte jetzt endlich erfahren, ob dieser versteckte alte Mann etwas wußte oder nicht.
»Wenn die Ausgabe«, sagte er mit absichtlich beleidigendem Tone, »durchaus gemacht werden mußte, so konnte man vielleicht, statt den Vorhang anzubringen, noch summarischer gleich das Loch vermauern. Das Spionieren, das diese bequeme Verbindung mit sich zu bringen scheint, würde dann wohl vermieden werden.«
Seine Erregung war nur noch künstlich während dieser Worte, deren Wirkung er, innerlich ganz ernüchtert, beobachtete.
Indes schienen die Worte selbst ohne besonderen Eindruck zu bleiben. Es war mehr die Art, wie sie gesprochen, die den Major irritierte.
»Ich finde, daß Sie da einen Ton …«
Anna legte dem nun seinerseits sich erhitzenden alten Herrn von hinten sanft die Hand auf die Schulter und zog ihn bei Seite, während sie ihrem Gatten ein bittendes, wiewohl energisches Zeichen gab, den unerquicklichen Auftritt durch seine Entfernung zu beendigen.
Wellkamp fand es gut, dem Winke nachzugeben, worin er seiner, durch jene seltsame nervöse Anspannung in zugespitzten Situationen bewirkten Geistesgegenwart folgte. Mit wenigen raschen und lauten Schritten eilte er durch den ersten Raum seiner eigenen Wohnung, wie wenn er ihn durch den jenseitigen Ausgang sogleich wieder verließe, um dann plötzlich, mit höchster Vorsicht und alle Sinne angestrengt, an die nur angelehnte Tür zurückzuschleichen, hinter der er den Major leise reden hörte.
»Was mag er nur haben? Seine Stimmung wird immer unerträglicher.«
Anna suchte ihren noch ziemlich erregten Vater zu beruhigen.
»Er ist so nervös, weißt Du; man muß ihm einiges nachsehen«, sagte sie und setzte hastig, wie um den Alten nicht zu Worte kommen zu lassen, hinzu:
»Ich glaube nämlich schon seit einiger Zeit, daß er zu sehr an Aufenthaltsveränderungen gewöhnt ist, um ununterbrochen hier bleiben zu mögen. Die Aussicht, auf Jahre hinaus hier still zu liegen, macht ihn ungeduldig, und er scheut sich, besonders Deinetwegen, es einzugestehen. Du sollst einmal sehen, daß sich das ändern wird, wenn ich ihm gelegentlich eine längere Reise vorschlage; wir könnten sie vielleicht gleich mit Beginn der bessern Jahreszeit antreten. Bis dahin«, wiederholte sie in leise bittendem Tone, »müssen wir ihm schon noch einiges nachsehen.«
»Das tun wir seit langem« brummte der alte Herr, »aber sein Betragen sieht ja jetzt bald nach Verfolgungswahnsinn aus. Was meinte er von spionieren? Sprach er nicht davon?«
»Alter Narr!« dachte Wellkamp, während er die Beiden sich drüben entfernen hörte.
Das Erhorchte hatte natürlicherweise seiner Unruhe ein entschiedenes Ende gemacht. Die Gereiztheit der letzten Zeit war vorläufig an ihm gänzlich verschwunden. Statt dessen nahm er als Verkehrston mit seinem Schwiegervater eine überlegte, kühle Höflichkeit an, während er seine Gattin so viel wie möglich unbeachtet ließ, wie um ihr seine Unzufriedenheit zu bezeigen. Es ist wahr, daß ihm das teils Lächerliche, teils Empörende seines Verhaltens nicht völlig entging. Nur gelang es fürs erste noch, sich über seine innere Demütigung mit der selbstsüchtigen Kraft seiner Leidenschaft hinwegzusetzen. Wenn von einer glücklichen Folge jenes beschämenden Auftrittes geredet werden konnte, so war es die, daß wenigstens für eine geringe Frist der schmerzliche Verfall, dem Doras und Wellkamps Verhältnis entgegenging, aufgehalten ward. Während dieses Stillstandes schien äußerlich ihre erste Intimität unbeschränkt wiederhergestellt. Wodurch nur war sie zuerst angegriffen worden? Wenn schon der Keim der Auflösung, der unausrottbar allen diesen Verbindungen innewohnt, irgendwo zum Ausbruch kommen mußte, wo zeigten sich seine toten Blüten zuerst?
Dora war vielleicht nicht mehr jung genug und jedenfalls durch die Prüfungen und Krisen ihres Lebens zu sehr in ihrer so unglücklichen Eigenart befestigt, um selbst durch die große Leidenschaft noch von Grund aus umgestaltet werden zu können. Die Bildung, die das Unglück gibt, ist so grausam unverwischlich! Was sie ehemals, während ihre widerstrebende Natur und hindernde Umstände ihr jedes Glück verweigerten, als armseligen Ersatz zu nehmen gewöhnt war, nämlich im Verkehr mit jedem Manne, der sich ihr näherte, die Herrschaft zu führen und, solange er sich in ihrem Kreise befand, sein Schicksal zu sein – das war ihr zum Bedürfnisse geworden, das sie auch jetzt nicht verleugnen konnte. Hat sich einmal solch eine »zweite Natur« im Menschen gebildet, so pflegt sie stärker zu sein als jeder ursprüngliche Instinkt.
Kaum war daher der erste, glühende Rausch der Leidenschaft, in der endlich das so lange verleugnete und kasteite Weib in ihr sein Recht erhalten, verflogen, als sie bereits die Gewalt, die sie über den geliebten Mann besaß, zu prüfen und nachzufragen begann, ob sie in Wahrheit seine ganze Existenz uneingeschränkt leite und ausfülle. Einmal ihrem alten, mächtigen Bedürfnisse verfallen, ward es ihr nicht schwer, einen Vorwand für die Qualen zu finden, die sie von jeher nicht weniger sich selbst als dem Manne auferlegt hatte. An dem freundschaftlichen Verkehr Wellkamps mit seiner Gattin, den sie anfangs für ein Mittel, die Feindin irrezuleiten, gehalten hatte, begann sie nun Anstoß zu nehmen, indem sie sich sagte, daß das bewegliche und unberechenbare Naturell Wellkamps es ihm vielleicht möglich gemacht habe, sich Anna zu gleicher Zeit wieder zu nähern, wo er endlich ihr selbst anzugehören begann. Und gehörte er denn überhaupt ihr? Während ihr Leben sich ganz auf ihn zusammengezogen und gestützt hatte, mit allen ihren letzten Hoffnungen und Ansprüchen auf ein Glück, das sie so oft getäuscht, schien es ihr vielmehr, daß von dem seinen nur ein Teil auf sie käme, nur dasjenige, was die verhaßte Andere ihr übrig ließ. Das Schlimmste für sie war, daß in diesen eifersüchtigen Zweifeln eine Ahnung von den wirklichen Bedürfnissen ihres Geliebten lag, die, ganz verschiedener Art, so wenig durch sie wie durch ihre Rivalin ausschließlich befriedigt werden konnten.
Die Arme überließ sich ohne Widerstand ihrem immer schwieriger werdenden Zustande. Sie zögerte anfangs, zu Wellkamp von ihren Zweifeln zu reden, dann verlor sie die Lust dazu in dem Maße, wie sie ihre Qual und den ebenfalls wieder sie selbst peinigenden Haß gegen den, der sie ihr verursachte, lieb gewann. Es gibt unglückliche Naturen, für welche die Liebe gleichsam nur die Folie für den Haß ist, den sie alsbald unter irgendeinem Vorwande auf die geliebte Person werfen. Er wird dadurch bedeutender und gleichsam schmackhafter.
So wäre vielleicht, langsam und traurig, ohne ein lautes Wort und unter unüberwindlichen innern Kämpfen, wie sie es errungen, das seltsame Glück der beiden Menschen erstickt, wenn nicht Wellkamp selbst mit dem Instinkt seiner Leidenschaft das letzte Mittel ergriffen hätte, durch welches es noch ein kurze Zeit erleichtert und erhalten werden konnte. Nach jenem einerseits so verstimmenden Vorfall erlebte ihr Verhältnis eine der späten und gewaltsamen Erneuerungen und Wiederbelebungen, welche die Natur kennt, und auf die bald ein um so schnelleres, unerbittliches Verblühen und Erkalten zu folgen pflegt.
In der Tat zeigte es sich, daß während dieses scheinbaren Stillstandes der Zerstörungsprozeß, dem ihr Bund kraft seines innersten Wesens, wie der ihn erdrückenden Umstände unterworfen war, erschreckende Fortschritte gemacht hatte. Aus dem zweiten, noch kürzeren und vielleicht, unter der Angst vor dem Ende, noch heftigeren Rausche erwacht, fand sich Dora mehr als je allen den zerstörenden und selbstquälerischen Neigungen unterworfen, welche ihr Temperament zeitigte, und welche übrigens gewöhnlich durch die Tatsache selbst eines unerlaubten und erniedrigenden Verhältnisses dieser Art notwendig gemacht sind. Es war jenes Mißtrauen der gefallenen Frau, die sich kaum mehr darum kümmert, daß sie in dem gegenwärtigen Leben ihres Geliebten, ja seit dem Augenblick, wo sie auf ihn zu wirken begonnen, ohne gleichen und vielleicht unersetzlich dasteht. Was sie peinigt, ist der Zweifel, ob nicht Andere vor ihr ihm ganz das gleiche gewesen, sein Leben genau so ausgefüllt haben, wie sie es jetzt tut. Sie leidet unter dem »zu spät«, da sie dem Manne nicht früh genug begegnet, um ihm die Erste und Einzige zu sein. In dem Maße, wie dieses Ideal, »die Einzige zu sein«, welches allein das ungeheure Opfer, das sie gebracht, in ihren Augen rechtfertigen könnte, ihr zu verblassen scheint, nehmen Reue und Skrupel zu, die im natürlichen Gefolge ihrer Tat sind. Dora war zu lange eine anständige Frau gewesen, um nicht in ihrem jetzigen Zustande die volle Gewalt ihrer momentan von der Leidenschaft betäubten bürgerlichen und religiösen Instinkte empfinden zu müssen. Die besonderen Umstände, welche ihre Schuld erschweren konnten, kamen hinzu. Sie hatte nicht nur gesündigt wie eine Andere, sie hatte es im eigenen Hause getan und in der Familie. Ihre Schmach erschien ihr so ungeheuerlich, daß sie der Verachtung ihres Mitschuldigen gewiß war, über den es sie zu herrschen verlangte. Und wie es stets in diesen traurigen Verhältnissen zu gehen pflegt, beantwortete sie seine vorausgesetzte Verachtung mit ihrem Hasse. Alles mündete für sie in diesen schlimmen Haß aus, der mehr als das, dem er gilt, das Herz verwundet, von welchem er ausgeht, weil neben ihm noch immer die nie völlig besiegte Liebe darin schlägt.
Das nächste war, daß die überhand nehmenden Bedenken und Wirrungen ihres Gefühls sie nun wirklich die Sicherheit verlieren ließen, mit der sie den Geliebten bisher zu leiten, seine Instinkte zu treffen und zu herrschen verstanden. Dieses Gefühl hatte ihr bisher verraten, was so viele Frauen verkennen, daß es in der Liebe einen geheimen Ressort gibt, aus welchem sie ihre beste Nahrung zieht, und der verschiedener Art, aber stets unantastbar, unaussprechlich ist, weil er zu zart, vielleicht zu übersinnlich, um durch eine menschliche Geste, ein menschliches Wort unvergröbert oder unvernichtet zu bleiben. Jene Frauen wissen nicht, daß es Stellen in dem Drama, das zwei Liebende zusammen aufführen, gibt, an denen Schweigen die einzig gestattete Sprache ist. Dora wußte es nicht; sie hatte es nur gefühlt, und keine Spekulation vermag das einmal verlorene Gefühl zu ersetzen. Dies sollte sich gelegentlich eines äußerlich unscheinbaren Vorfalles zeigen, der beiden Beteiligten in schmerzlichster Weise die Erkenntnis der Veränderungen aufdrängte, denen ihre Verbindung während ihrer so kurzen Dauer ausgesetzt gewesen, indes sie Beide mit der Einseitigkeit der Leidenschaft den wahren und unwandelbaren Sinn ihres Daseins darin gefunden zu haben geglaubt.
Eines Morgens, als er zur gewohnten Zeit Dora in ihrem Boudoir aufsuchte, ward Wellkamp durch den Empfang überrascht, den er kaum noch so günstig zu finden gewohnt war. Sie hatten sich während der letzten Tage mehr als je in der ohne sichtbaren Grund gereizten Stimmung befunden, die sich dadurch maßlos verschlimmert hatte, daß Jeder von ihnen bemüht war, sie dem Anderen zu verheimlichen. So fand Wellkamp sich schwer in diese Herzlichkeit, welche an ihr allererstes Glück erinnerte und noch durch eine Weichheit und Hingebung verschönt ward, die er selbst damals selten genug an Dora wahrgenommen. Sie küßte ihm die Falten von der Stirne, während seine Schläfen das zärtliche Schmeicheln ihres weichen Haares empfanden. Warum konnte er dennoch ein Gefühl des Unbehagens, beinahe der ungewissen Furcht nicht unterdrücken? Er war versucht, sich ihrer Liebkosungen zu erwehren, doch wagte er es nicht, bis er sie plötzlich mit einer Stimme, die tiefer als gewöhnlich und zugleich wie bedeutend und geheimnisvoll klang, fragen hörte:
»Sag mir, hast Du das Stückchen Holz, das kleine bunte Götzenbild, das ich Dir damals gab, Du weißt, an Deinem Hochzeitstage – gut aufgehoben?«
Er besann sich einen Augenblick unter dem, er wußte nicht warum, peinlichen Eindruck, den ihre Worte auf ihn machten.
»Ja, gewiß – wie alles, was von Dir kommt, mein Kind«, sagte er endlich, um den ihm unerklärlichen Unwillen, den er nicht ganz verbergen konnte, vergessen zu machen.
»Das ist gut«, fuhr sie hastig fort, unter einer innern Erregung, die auf ihren blassen Wangen zwei rote Flecke hervortreten ließ.
»Es liegt mir so viel daran, weil – weil …« Sie wühlte in den Falten ihres Kleides, aus welchem sie ein grotesk bemaltes Stück Holz hervorzog, das Wellkamp ähnlich dem in seinem Besitz befindlichen erkannte. »– weil ich selbst ein ebensolches bewahre«, vollendete sie dann. »Es ist ein Talisman, der uns zusammenhält, so lange Jeder von uns sein Teil besitzt. Eine alte Negerin, drüben bei uns, hat ihn mir gegeben. Ach, Du glaubst nicht, wie kindisch abergläubisch ich bin.«
Auf diese letzten, in heftigem Flüstertone sich überstürzenden Worte folgte wieder jenes leis klirrende Lachen, das Wellkamp so gut kannte. Vielleicht erwartete sie, daß er ihr wie früher mit einem Kusse die Lippen schließen würde. Er aber vermochte plötzlich ihren Atem, welcher sein Gesicht, dem sie ihren Mund so nahe gebracht, umspielte, nicht mehr zu ertragen. Die Berührung ihrer fieberheißen Hände war ihm unleidlich. Unfähig, seinen Widerwillen zu verbergen, erhob er sich. Es gab zwischen ihnen ein langes Schweigen, während dessen ihr verwirrter Blick, in dem sich wie eine kleine Schlange ein feindliches Aufleuchten zeigte, nicht von seiner Gestalt wich. Er warf kaum noch einige gleichgültige Bemerkungen hin, die sie unbeantwortet ließ. Dann sah sie ihm, nun mit einem Ausdruck wahren, tiefen Schmerzes nach, bis der Türvorhang hinter ihm zusammenfiel.
Was sie auch von dem Unglück, das für den Mann wie für sie selbst das soeben Vorgefallene bedeutete, ahnen mochte, so stellte sie sich doch kaum vor, wie tief Wellkamp in Wirklichkeit davon berührt war. Es kann nur ein ausnahmsweise starker Eindruck sein, der Naturen wie die seine, wenig naiv und gewohnt, Erlebnisse und Gefühle unmittelbar zu zergliedern, in dem Grade betäubt, daß sie für Augenblicke ohne die gewohnte Rechenschaft von sich selbst bleiben. In der Tat war Wellkamp, ohne einen Gedanken zu fassen, in sein Zimmer gegangen, wo er zufällig vor den Spiegel getreten, zum ersten Mal sein mattes, von Zimmerluft, Mangel an körperlicher Bewegung, zu viel innerer Unruhe und Leidenschaft gebleichtes Gesicht aufmerksam betrachtete. Es fiel ihm ein, daß er seit Wochen kaum anders als zu den nötigsten Ausgängen den Fuß vors Haus gesetzt, und sogleich erfaßte ihn ein jäher Abscheu vor der eingeschlossenen, unfreien, von ungesunden und verbrecherischen Leidenschaften durchseuchten Existenz, die er schon so lange führte. Eine dieser plötzlichen Visionen, in denen unser Schicksal sich uns grausamerweise zumeist erst dann zu offenbaren pflegt, wenn wir bereits zu fest gekettet sind, um noch eine freie Bewegung zu haben, zeigte ihm mit aller Deutlichkeit die Einflüsse, die der enge Kreis, in welchem er sich bewegte, auf die Gestaltung seines Geschicks gewonnen, und die er bisher höchstens unklar geahnt. In diesem Augenblicke schrieb er ohne Bedenken den vier Wänden, in die er mit den drei, immer den drei selben Menschen zusammen eingeschlossen gewesen, die Verantwortung für alles Geschehene zu. Er hatte eine bestimmte Idee davon, daß das Problematische, das Unsichere und Zerstörende seiner Natur, das ehemals auf seinem flüchtigen Wanderleben nur hier und da zerstreute Spuren zurückgelassen hatte, in der nunmehrigen engen und unvergänglichen Begrenzung seiner Existenz ganz andere, furchtbare Wirkungen hatte hervorbringen müssen. Der Zerstreuungen und Ablenkungen seiner früheren weiten und wechselnden Beziehungen beraubt, hatte seine Natur, ohne Ausweg aus dem geschlossenen Kreise einer Familie, gleich Sprengstoff zu wirken begonnen. Nun stand er vor der Katastrophe.
Diese Vorstellung vollendete es, ihm den Aufenthalt in den verhaßten vier Wänden unerträglich zu machen. In seiner Lage schien es ihm, als ob freie Luft und Bewegung da draußen ein Heilmittel für alles sein müßten. Vor der Türe stand er eine Zeitlang, ohne den Pelz zu schließen, um den frischen Wind besser gegen seine so lange nur mit eingeschlossener Luft gespeiste Brust wehen zu lassen. Die Straße hinab in die innere Stadt zu gehen, scheute er sich. Es sollte recht weit, recht frei um ihn her sein, damit in der Größe und Allgemeinheit der Natur sein Einzelleid und seine Einzelschuld unbemerkt untergehen konnten. So schlug er den Weg ein, der ihn von der Stadt entfernte und bald auf die Straße nach Räcknitz führte. Erst hier mäßigte er seinen Schritt. Auf der hochgelegenen Straße, von der er einen offenen Überblick über die Stadt auf die dahinter sich entlang ziehenden Höhen gewann, fand er die Luft freier. Der Schnee, der ringsumher in der ruhig heitern Wintersonne erglänzte, war seinem so lange an Halbdunkel gewöhnten Auge Offenbarung und Erlösung. Die Flocken, welche in der windstillen Luft langsam und weich gegen sein Gesicht fielen, bereiteten ihm Liebkosungen, die er angenehmer fand als jene Schuldigen, denen er sich soeben entzogen. Und die Kälte, die seine Haut leise und erfrischend brannte, ließ eine leichte Röte in sein Gesicht steigen, die er fühlte, und die ihm eine Idee von Gesundheit gab. Wirklich besserte sich hier sein Zustand; er ward ruhiger, und statt jener halb fieberhaften Vision zeigten ihm jetzt ordentlich einander folgende Überlegungen seine Lage.
Der Fatalismus, den er, wie die schwachen Naturen in ihren innern Krisen pflegen, noch soeben als Stütze gebraucht, hätte ein Schuldgefühl ausschließen müssen. Es ließ sich dennoch nur gewaltsam unterdrücken und drang umso tiefer in das unterhalb des Bewußtseins liegende, geheimnisvolle Reich ein, um von hier aus die Bewegungen seiner Seele zu leiten. Durch die Sympathie eben dieses Gefühles blickte er nunmehr klarer in Doras Zustand, der während der vergangenen Wochen für sie Beide so tief unglücklich gewesen war. Er sagte sich nun, daß sie durch ihre Erziehung, wie durch die vom Geschick erhaltene Bildung, besonders aber durch die trostlosen, gleichsam toten Verhältnisse, in denen ihr Leben endigen zu wollen schien, zu sehr auf völlige Ruhe und Gesetzmäßigkeit angewiesen war, daß sie weniger als irgendeine Andere imstande sein konnte, die Aufregungen, die Verantwortung, die Furcht, die Gefahr, die ein außergewöhnlicher Schritt mit sich brachte, zu ertragen. Aber wenn sie nun gar eine Verantwortung unter den besonderen Umständen, wie sie es in Wirklichkeit getan, auf sich nahm: mußte sie nicht unter der Größe der Last zu Boden gedrückt und vernichtet werden? Indem Wellkamp der Schauer von Furcht, Abscheu und Scham gedachte, die ihn selbst noch soeben bei dem Gedanken an die geschändete Häuslichkeit, an die zerstörte und nur noch auf der Grundlage von Schuld und Täuschung fortlebende Familie geschüttelt, konnte er nichts anderes als das tiefste, rein sympathische Mitleid für seine unglückliche Geliebte fühlen. War sie nicht, von der Schwierigkeit ihrer Natur abgesehen, schon als Weib weniger als er den Anforderungen gewachsen, die auf diese Weise an ihre Willensstärke gestellt wurden? Trotz jener tiefen und rätselhaften Feindlichkeit, welche die Grundlage aller ihrer Beziehungen zu sein schien, welche bei der ersten Begrüßung vorhanden, in letzter Zeit mehr als je zu spüren und höchstens durch den Rausch der Leidenschaft eine Zeitlang unwirksam gemacht worden war, trotz jener Feindlichkeit kleidete sich in diesem Augenblick, wo er sich den Trümmern ihres gemeinsamen Glücks zuwandte, sein Gedanke an Dora in kein anderes Wort als das »Arme Frau! Arme Frau!«, das er bald leise, bald lauter vor sich hin sprach. Was dabei aus ihm redete, war ohne Zweifel der Instinkt der Ritterlichkeit, in einer schwachen und lenksamen Natur wie der seinen vielleicht der einzige, letzte Zug der Überlegenheit des Mannes über die Frauen, deren Einfluß er unterliegt. Wie würde Dora ihn selbst für diesen Zug gehaßt haben, sie, die nicht sein Mitleid, sondern seine Unterwerfung begehrte!
Er war, von diesem Gedanken festgehalten und ganz darin verloren, fortgeschritten, ohne darauf zu achten, daß der immer tiefer liegende Schnee ihm das Gehen mehr und mehr erschwerte. Erst der dichtere Flockenwirbel, der sein Gesicht durchnäßte und ihm allmählich die Aussicht benahm, bewog ihn, umzukehren. Mit seinem Blick ward sodann auch seine Überlegung wieder frei.
»Ja, aber für all dies Elend, diese unfreie Heimlichkeit und diese Gewissensangst sollte doch ihre Liebe reichen Ersatz bieten, sie, deretwegen sie Beide das alles auf sich genommen, und die einzig durch das, was sie gab, wettzumachen vermochte, was sie an Opfern erforderte!«
Da schrie es in ihm auf bei der so erneuten Vorstellung von dem Vorfall, der ihn heute morgen von der Geliebten fortgetrieben, und der ein so verzweifeltes Anzeichen für ihre unaufhaltsame, gänzliche Entfernung war. Es war, als ob der Schmerz, der ihn durchzuckte, die letzten Schleier von seinem Bewußtsein risse, das nunmehr die so lange nur gefühlte Bedeutung des Geschehenen ausdrücklich zu erfassen begann. Heute war es zuerst, daß der Zerstörungsprozeß, der, seit er und Dora ihre schuldigen Beziehungen geknüpft, ihre ganze Existenz bedrohte, einen toten Punkt an ihrer Liebe, an ihrer so teuer erkauften Liebe selbst gezeitigt hatte. Alles, was sie bisher bestürmt, war dem gegenüber nichts: das angstvolle, gejagte Dasein, das sie geführt, alle die Umstände, die mit ihrem feindlichen Drängen sie nur noch enger verbunden, und selbst der Haß, unter dem sie ihr beiderseitiges Schuldgefühl verborgen, war noch nichts; gibt es doch eine Liebe, von der der Haß unzertrennlich ist. Wellkamp faßte kaum den Zusammenhang zwischen diesen früheren Leidensstationen ihres Verhältnisses und der heute erreichten; er wußte nur, daß seit heute ihre Intimität, so wie sie bisher bestanden, vernichtet und unmöglich gemacht war. Und nun, da er sie zerstört wußte, stand es ihm klar vor Augen, worin sie bestanden und was es gewesen war, wodurch ihre Liebe über eine bloß sinnliche Leidenschaft hinausgehoben war.
Was ihn, unwiderstehlicher als irgendein körperlicher Reiz oder Begehren, zu Dora gezogen, war etwas wie der Kultus einer heimlichen Schönheit gewesen, die etwas im Alltagsleben Verbotenes ist, auch wenn dieses sich in so gütiger und lieber Gestalt zeigt, wie Anna ihm trotz allem im Innern stets erschienen war. In Dora hatte er etwas wie das Innewerden seines eigenen tiefsten Wesens gesucht und zugleich über sich selbst hinauszugreifen gedacht in das übersinnliche Leben. Das übersinnliche Bedürfnis, das in seinem Gefühl eine Art Neugierde nach den tiefsten Schauern, den letzten Geheimnissen und den intimsten Grausamkeiten des Lebens war, hatte von Anfang an gleichsam die Saite gebildet, die aus ihrer Seele in die seine hinübergeleitet hatte. Er erinnerte sich nach der Reihe aller Anlässe, bei denen sie berührt worden war und sein ganzes Innere erzittern gemacht hatte; so an jenem Tage, als von dem in der Austeilung gesehenen, wunderbaren Gemälde die Rede gewesen, oder während jenes »Tannhäuser«-Abends. Immer aber waren sie den Schauern, die das Vibrieren der Saite in ihnen weckte, schweigend unterworfen gewesen. Nichts schien ihm jetzt so bedeutend als dieses Schweigen, das in allen sehr erhobenen wie in den sehr versunkenen Augenblicken ihrer Intimität zwischen ihnen geherrscht. Es war so recht eine stumme Liebe gewesen, die sie verbunden hatte! Darum war auch mit dem Schweigen zugleich der Zauber gebrochen. Bei der Erinnerung an die ungeschickte Urheberin der Zerstörung ergriff ihn nun plötzlich heller Zorn. »So war dasjenige, womit sie in Wirklichkeit seinem so unbestimmbar zarten und heimlichen Verlangen begegnet war, nichts als ein gemeiner, plumper Aberglaube gewesen, den sie bei der ersten Gelegenheit, wo sie sich von ihm für ihren sinnlichen Kitzel Vorteil versprochen, verraten hatte.«
Er fällte dies ungerechte, einseitige Urteil in gutem Glauben, mit der unbewußten, innerlichen Pose des nervösen, verweichlichten Mannes, der sich an seelischer Kompliziertheit und Empfindlichkeit gerade den Frauen überlegen finden möchte. Ohne weiteres warf er nun der Frau, die doch, eine wie kurze Zeit auch immer, der Wunsch und das Glück seines Lebens gewesen, vor, ihn von Anfang an über sich selbst getäuscht zu haben. Sie hatte ihn mit treuloser Benutzung seiner seelischen Bedürfnisse, denen sie innerlich fern stand und in Wahrheit nichts entgegenzubringen hatte, überlistet und gefangen. Und er – dies verfehlte er nicht, dieser für ihn selbst nicht schmeichelhaften Behauptung hinzuzufügen – er hatte sie benutzt als das »banale Instrument unter seinem siegreichen Bogen«, wie ein von ihm bevorzugter Dichter es ausgedrückt.
»Und wie ein Lufthauch, der auf dem hohlen Holze einer Guitarre den Klang weckt, so hab ich meinen Traum auf Deinem leeren Herzen singen lassen.«
Es fehlte nicht viel, daß er kraft dieser Überlegung die ganze Sache auf die leichte Achsel nahm. Er hatte eine Enttäuschung mehr zu verzeichnen: was war da weiter zu bedenken? Seine Überhebung war begreiflich in dieser Stunde, wo sich, von seinem Stolze unterstützt, seine ganze Natur aufbäumte gegen das in mehr als einer Hinsicht unglückliche Joch dieser Leidenschaft. Wahrhaftig, unter dem Einflüsse der reinen Winterluft, die seinen Körper erfrischt, seine Sinne abgekühlt hatte, war es wie der Rausch einer neuen Kraft über ihn gekommen, die ihn stark genug machen sollte, alles Vergangene zu verleugnen und abzuschütteln und unmittelbar von vorn zu beginnen.
Ach! Dieser mutige Rausch war sogleich verflogen, als er das Haus wieder betrat, das sein ganzes Drama enthielt, und dessen gleichmäßig laue Luft ihm schwerer auf der Brust lastete, als wenn sie eine Mitwisserin und Verräterin seiner schuldigen Geheimnisse gewesen wäre. Es war nicht der Schritt eines Siegers, mit welchem er die Stufen hinanschlich, so langsam wie an jenem Abend, der plötzlich vor seiner Erinnerung stand, als sie Beide, zum ersten Male ganz einander gehörig, sich auf der dunkeln Treppe aneinander drängten. Es ward nicht besser, als er oben die Räume durchschritt, die alle unauslöschlich durchtränkt schienen mit dem Atem seiner Leidenschaft. Wo war ein Winkel, in welchem er nicht einen verbotenen Gedanken gedacht, einen schuldigen Blick, eine geheime Liebkosung ausgetauscht. Alles ringsumher war lange, so lange zum Zeugen und zum bösen Gewissen geworden; es war zu spät, in diesem Kreise, der sich so erstickend fest um ihn geschlossen, vergessen und erneuern zu wollen.
Von Anna, welche in ihrem gemeinsamen Salon vor dem Kaminfeuer in einem der beiden Sessel saß, von denen der andere, sein eigener, ihn zu erwarten schien, drang ein Blick, so mitleidig-still und beruhigend durch den Nebel von Trostlosigkeit, der ihn umgab, hindurch, daß seine Seele, wie ein tiefes Aufschluchzen, einen Augenblick den heißen Wunsch fand:
»Wenn es sein könnte!«
Aber er ging vorüber, denn er wußte, »es konnte nicht sein«.
Auf den soeben erlebten jähen Willensaufschwung war unmittelbar die tiefste Niedergeschlagenheit und Ergebung gefolgt. Er wagte von der Zukunft nichts mehr zu hoffen und suchte einen verzweifelten Trost darin, alles gehen zu lassen, wie es mochte. Als er sich am Abend von Dora verabschiedete, tat er es, ohne selbst zu wissen, warum, mit dem Blicke; in dem ihr gewohntes Einverständnis ausgesprochen war: »Auf morgen!«
Beim Fortgehen aus der Zusammenkunft am nächsten Morgen faßte er dennoch den Vorsatz, nicht dahin zurückzukehren; bis zu dem Grade hatte ihn der Zustand, in den das Verhältnis jetzt eingetreten, mit Widerstreben und Abscheu erfüllt. Er ahnte nicht, daß sich Dora zur gleichen Zeit dasselbe Versprechen gab. Aber tags darauf fanden sie sich wieder einander gegenüber.
Was war aber auch aus ihrer Liebe geworden! Die Hoffnung und sogar jeder Anspruch auf ein seelisches Einverständnis, die kostbare Illusion, welche ihre Vereinigung über das niedere Gebiet der Sinne hinauszuheben vermocht, einmal ausgeschieden, blieb nichts als die rein körperliche Anziehung. Der Fall war so jäh und so tief, daß sie ihn zu Zeiten noch immer nicht begriffen. Doch bestand der Vorgang am Ende bloß in einer ziemlich gewöhnlichen Enttäuschung. Beide litten sie unter dem exaltierten Bedürfnisse, zu lieben, während es Einem wie dem Anderen an der Fähigkeit dazu gebrach; ebenso wie Jeder von ihnen Fragmente von religiösem Gefühl in sich trug, ohne die stete Innigkeit des Glaubens zu besitzen. Da sie sich also nicht zu ergänzen vermochten, hatten sie sich zu zerstören begonnen.
Zuweilen unterbrachen sie sich Beide zugleich in einem der wortlos knirschenden Ausbrüche ihrer Begierde, und ihre Blicke, die sich suchten, befragten sich gegenseitig mit einer langen, übermäßig traurigen Frage, worauf die Antwort: Nichts, immer nichts. Von der schrecklichen Furcht vor dem Leeren rasend gemacht, ließen sie sich dann von neuem wie in einem Wirbel von ihrer Begierde fortreißen, die, je mehr sie sie zu befriedigen suchten, nur desto unersättlicher wurde. Es dauerte nicht lange, bis sie zu ihrer Stillung zu jenen Mitteln griffen, welche eine fleischliche Liebe bis zum Äußersten erniedrigen. Wellkamp mußte in die wildeste Zeit seiner unruhigen Existenz zurückdenken, um ihresgleichen zu finden für die Sprache der unkeuschen Gesten und der verderbten Liebkosungen, in der sich jetzt diese Leidenschaft ausdrückte, die sie Beide einst – wie lange war es doch her? – als das unverdiente Glück, als den endlichen Inhalt ihres Lebens begrüßt hatten.
Und da in diesen unwürdigen Verhältnissen, in dem Grade, wie die gegenseitige Achtung sich verliert, alles der Brutalität und der Maßlosigkeit verfällt, so war es bald auch der Haß, der sich zu erschreckenden Ausschweifungen steigerte. Sie trachteten danach, sich gegenseitig wehe zu tun, mit Worten, wie körperlich; sie schienen von der Gier beherrscht zu sein, als solle keine Stelle an ihrem Leibe und an ihrer Seele unverletzt bleiben. Das Schlimmste war vielleicht, daß diese Überanstrengung ihrer Leidenschaften sie nahezu unfähig machte, sie in Gegenwart der Anderen zurückzuhalten. Sie waren manchmal nahe daran, jede Verstellung aufzugeben, ja, sich letztere gegenseitig als Verbrechen anzurechnen. Es kam vor, daß Eines von ihnen, während es an der Familientafel ein gleichgültiges Wort mit Anna oder Herrn v. Grubeck wechselte, einen Blick des Anderen auffing, in dem mit aller Deutlichkeit einer verzweifelten Wut ausgesprochen lag:
»Du kannst heucheln? Bist Du es nicht, der mich mißhandelt und zerstört hat?«
Wellkamp kämpfte bei solcher Gelegenheit mit dem Bedürfnisse, ihr irgendeine unflätige Beleidigung ins Gesicht zu schleudern, die sie vor aller Welt bloßstellen sollte, diese »Dirne«. Er nannte sie nicht mehr anders, laut ihr ins Gesicht, wie leise bei sich selbst. Und in den Stunden der Selbstbetrachtung, welche trotz allem nicht ausblieben, mußte er sich gestehen, daß er selbst dieser »Dirnenliebe« würdig sei.
Sie waren die allergrausamsten, diese Stunden der nüchternen Besinnung, weil sie ihn zwangen, das Ergebnis, das er im Taumel des Augenblicks nur zu gern vergaß, zu ziehen aus dem, was seine Seele ausgefüllt und sein Leben ausgemacht seit langer, langer Zeit, wie es ihm vorkam: in Wirklichkeit aber seit kaum einem halben Jahre.
In der Einsamkeit seines Zimmers strich er sich in solchen Gedanken mit der Hand über die Stirn, mit einer Bewegung, als fürchtete er, verrückt zu werden.
»Wie hatte es sein können? Wie war das alles in der Schnelligkeit über ihn gekommen?«
Er kam dann wieder auf die unheimliche, dumpfe Ahnung zurück, die ihn wirr und erschreckt die Wände ringsumher anstarren machte. Es war das Haus, der geschlossene Kreis der Familie, in dem, wie in einem Treibhause, alles unnatürlich früh reif geworden war, schneller als unter anderen Umständen, und ehe er zur Besinnung zu gelangen vermochte. Das Ergebnis, das er nun hielt, war jener Kampf, der immer die äußerste Entwickelung eines Verhältnisses dieser Art bezeichnet, ein Vernichtungskampf voll Haß und Verachtung, der den beiden Unglücklichen jede Entschädigung im Genuß versagte; in dem es nicht einmal die endliche Erschöpfung zu geben schien, und noch weniger das, was jedem Kampfe Schönheit und Größe verleihen kann, einen Sieger.
Trotz der Schrecklichkeit dieser Vorstellung hielt er sie fest, klammerte er sich an sie, da sie immer noch leidlicher war als das Zurückgehen in die erste Zeit seiner Annäherung an Dora. Was war es denn im Grunde gewesen, was dem jetzigen tollen Kampfe vorausgegangen war und mit ihm zusammen die ganze Dauer dieser »Liebe« ausgefüllt hatte, so daß einige arme Stunden eines nur der Täuschung verdankten Glückes dazwischen verschwanden, erdrückt wurden. Er war in seiner wütenden Scham über die so unverhoffte und vollständige Enttäuschung seines idealen Verlangens dahin gelangt, die ursprünglichen höheren und edleren Motive seiner Liebe zu Dora ganz zu leugnen. Was war’s gewesen? Die zweieinhalb Monate seines Verlobtenstandes hatte er bereits so gut wie völlig im Kreise der Familie verbracht. Die ständige Gesellschaft seiner Braut hatte ihn in Flammen versetzt. Aber vor der natürlichen, keuschen Strenge des jungen Mädchens zurückweichend, hatte er sein Feuer dorthin getragen, wo er fühlte, daß es einen bessern Empfang finden werde.
Diese brutale und grausame Erklärung hatte das Gute, ein Gefühl zum Ausbruch zu treiben, das er bislang meistens nur zu gut von allen seinen Selbstbetrachtungen ausgeschlossen. Hatte er so seine Handlungsweise noch unendlich erniedrigt und jede Entschuldigung vor sich selbst unmöglich gemacht, so war endlich der Weg für das Schuldgefühl frei.
Die jähe Regung desselben warf ihn auf die Ottomane nieder. Seine Züge zogen sich zusammen unter der furchtbaren Anstrengung, welche sein gequältes Hirn machte, diesen unerträglichen Gedanken zu bezwingen. In seiner Geistesabwesenheit hatte er ein wiederholtes Klopfen an der Tür überhört, auch den Eintritt Annas nicht bemerkt und ward ihre Gegenwart erst gewahr, als die junge Frau dicht herangetreten war. Er fühlte einen innern Stoß, als müsse er aufspringen. Da stand sie vor ihm, unerwartet und wie eine Mahnerin, die Frau, der er alles schuldete, die er betrogen, so lange er sie kannte! Es war, als sähe er sie mit völlig veränderten Augen: wie hatte er jemals in ihrer Gegenwart ruhig bleiben können! In der letzten Zeit hatte er sie, seinen wirren Stimmungen folgend, bald als Feindin angesehen, bald sich bei dem Gedanken an ihre getäuschte Ahnungslosigkeit erweicht und war selbst zärtlich geworden, als er zum Beispiel ihrer Güte und Nachsicht während jener unleidlichen Szene gedachte, die er ihrem Vater gemacht, und der liebreichen Erklärung, die er sie damals für sein Betragen hatte geben hören. – In diesem Augenblicke nun zeigte ein plötzlicher Eindruck sie ihm als Richterin, und wie in einer Stunde des Urteils steigerte sein erwachtes Gewissen alle seine Sinne, welche wie in fortwährenden Blitzen diesen Augenblick mit allem Geschehenen in Zusammenhang brachten, alles das, wovon seine Erinnerung voll war, auf ihn bezogen.
Anna hinderte ihn, als sie seine Bewegung bemerkte, am Aufstehen, indem sie leise ihre Hand auf seine heiße Stirn legte. Er hätte ihr zurufen mögen: »Nimm sie weg!«, eine so beängstigende Vorstellung hatte er sogleich davon, daß seine Stirn, wie sein ganzer Leib durch so viele verbrecherische Zärtlichkeiten entweiht und unwürdig gemacht sei, die keusche Liebkosung dieser Hand zu empfangen, die so kühl wie die eines jungen Mädchens war.
»Du bist noch blässer, als Du in letzter Zeit warst«, sagte sie mit ihrer ruhigen Stimme. »Was fehlt Dir?«
Er zuckte zusammen. Noch blässer als sonst, noch blässer als ihn seine Schuld und die Ausschweifungen seiner Leidenschaft gemacht hatten! Er blieb wie geschlagen vor Scham und Abscheu.
»Was fehlt Dir? Sag es mir!« wiederholte sie, wie wenn sie in ein krankes Kind drängte.
Und es fand sich, daß dies der rechte Ton war. Wie sie sich tiefer über ihn neigte, empfand er eine große Abspannung, als ob sich seine Glieder lösten.
»Jetzt nichts mehr«, sagte er, »nun Du bei mir bist«.
Er verbarg das Zucken seines Gesichtes in ihrer Hand, die er mit seinen Tränen benetzte.
Seine Hingebung war in diesem Augenblick vollkommen. Es gab für ihn schon kein Hindernis mehr zwischen ihm und Anna; es gab kaum noch ein Geheimnis. Mußte sie nicht bereits alles wissen? Wie es ihn damals ihr von seinem Glück wie zu einer Vertrauten zu sprechen drängte, so konnte ihr jetzt sein tiefstes Unglück unmöglich verborgen sein. Sie war seine natürliche Trösterin, sein Halt; vielleicht war dies das bedeutendste Band, das ihn für alle Zeit an sie fesselte.
Er küßte die Hand, die sie nicht zurückgezogen, und war im Begriffe, ihr sein ganzes Herz zu öffnen. Indes hatte sie die Exaltation seiner Hingebung beschäftigt. Diese Nervenkrisis ließ ihr seinen Zustand schlimmer erscheinen, als sie ihn sich vorgestellt. Sie suchte nach einer Beruhigung und sagte mit einem plötzlichen Einfall:
»Das Leben hier ist nichts mehr für Dich. Warte, es wird besser werden, wenn wir reisen. Wann willst Du? Ich dächte, wir brächen auf, sobald es Frühling wird. Wir finden einen schönen Fleck in der Schweiz oder in Ober-Italien, wo ich Dich pflege, mein Lieber.«
Er blickte auf, erst verwundert, dann mit jähem Begreifen. Es war, als höbe sich eine Wolke auf, die über sie Beide gefallen, und er sah nun wieder, daß zwischen ihnen etwas lag, das er einen Augenblick lang vergessen: sein schuldiges Geheimnis. Aber zugleich öffneten ihre Worte einen unverhofften Ausweg für seine, sofort mit der Besinnung zurückgekehrte, feige Unentschlossenheit.
Wenn sie reisten, so änderte sich alles. Dies aber sollte ihn kein Eingreifen kosten, dessen er in seinem Zustande nicht fähig gewesen wäre, sondern sie selbst war es, die alle Hindernisse aus dem Wege räumte. Einmal fort aus dem erstickenden Kreise, konnten aus der Ferne die Beziehungen leicht vollständig abgebrochen werden. Selbst wenn man sich später einmal wiedersehen müßte – die Zeit und das Vergessen würden dazwischen kommen. So konnte er dieser geliebten, gütigen Frau den Schmerz seines Geständnisses ersparen.
Er sagte sich dies mit aufrichtiger Zärtlichkeit, indem er nach seiner gewöhnlichen Art die Sophismen seines Verstandes mit der Ehrlichkeit seines Gefühls für ihn selbst unentwirrbar verkettete.
Noch einen Kuß auf ihre Hand drückend, sprach er einfach: »Ich danke Dir«, während er innerlich aufatmete:
»So kann dennoch alles gut werden.«