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Indirekt geschah letzteres dennoch einmal schon während der Tage, die sich die Leiche noch im Hause befand. Da Herr v. Grubeck sich tief niedergeschlagen und keiner der an ihn herantretenden Aufgaben gewachsen zeigte, hatte seine Tochter ihm insbesondere die schwierigste abgenommen, die Anzeige des traurigen Ereignisses an Doras Vater abzufassen. Wellkamp, dem sie den fertigen Brief unterbreitete, wurde tief berührt von dem wahren, bewegenden Ton, den er selbst, wie es ihm schien, nie so hervorgebracht hätte, auch wenn er ruhiger und weniger unter dem unmittelbaren Eindruck des Erlebten gewesen wäre. Er fühlte wohl, daß ebenso sehr wie das ausgezeichnete Herz seiner Gattin hier jener weibliche Zusammengehörigkeitssinn sprach, der Frauen unter einander ihr Leid so gut begreifen läßt, wie sehr sie auch oft im Glücke sich hart und hinderlich sein mögen. Zuweilen aber drang durch die diskrete, sich mehr an Doras, durch ihr unglückliches Naturell bedingte Lage als an das eigentlich Geschehene haltende Darstellung jene eigentümliche, mehr nervöse Erregung hindurch, die das Zeichen ist, daß man sich anders als nur danebenstehend und mitleidend, daß man sich in gewisser Weise tätig beteiligt glaubt. Es war zweifellos nur Wellkamp möglich, diese eigentümliche Ahnung einer Schuld wahrzunehmen, die für ein zartes Gewissen fast beruhigender sein kann, als eine völlige Gewißheit der Verantwortlichkeit. Er aber war um so sicherer, diese Skrupel zu verstehen, und als er Anna das Schreiben zurückgab, vermied er ihren Blick, der gleichzeitig dem seinen auswich.

Erst auf der Rückfahrt von der Beerdigung, die, stets für die Trauernden, ohne daß sie selbst es ahnen, etwas Befreiendes hat, da nun, vielleicht wider ihren eigenen Willen, das Leben endgültig wieder in seine Rechte tritt, fanden sie die Stimmung zu einer gegenseitigen Beichte. Anna hüllte mit einem zärtlich besorgten Blick ihren Vater ein, der stark gealtert erschien, und dessen von so vielen ungewohnten Aufregungen schwere Augenlieder gleich nach dem Besteigen des Wagens zugefallen waren. Seltsamer Weise war hierdurch die gleiche Situation hergestellt wie damals, als die Verlobten auf der Herreise von Kreuth ihre erste vertraute Unterredung hielten, deren Gegenstand genau wie heute Dora war. War nicht auch dieses Zusammentreffen bezeichnend dafür, daß sich hier einer der Ringe an der Kette ihres Lebens, und ein wie bedeutender, für immer schloß?

»Es hätte ja nicht immer so bleiben können« sagte Wellkamp unvermittelt, und es fand sich, daß Beide denselben Gedanken gehabt.

»Sie mußte früher oder später unsere Rückkehr erfahren« fuhr Anna fort »und wir hätten uns irgendwie zu einander stellen und wenn keinen Verkehr, so doch ein Verhältnis schaffen müssen.«

Beide fühlten seit langem, daß das Fernhalten Doras etwas Vorläufiges gewesen, daß sie Unrecht gehabt, selbst noch nach ihrer Wiederansiedelung in Dresden fortdauern zu lassen, das jedoch der Egoismus ihres Glückes sie zu unterbrechen gehindert hatte.

»Ich weiß wohl«, nahm Anna nach einem Schweigen das Gespräch wieder auf, »daß Du mich vor unserer Herkunft an die Schwierigkeit unserer Lage erinnert hast. Vielmehr als Du hab ich zum Aufbruch gedrängt, weil ich so unwiderstehlich gern ein Nest bauen wollte, das endlich einmal ganz uns gehören sollte, und dann des armen Vaters wegen. An sie, mit ihrem viel schwereren Unglück, mochte ich nicht einmal denken. Da liegt meine Schuld, die ich mir nicht vergebe.«

Wellkamp machte eine abwehrende Bewegung.

»Du hast es zu leicht gehabt mich zu überreden. Und dann, wer in Vergessenheit und Leichtsinn Wunden geschlagen hat, ist selbst der Allernächste dazu, sie zu verbinden – wenn er nicht eintretenden Falles Mörder heißen will.«

Die letzten, hart und grausam gesprochenen Worte machten die junge Frau zusammenfahren, die sich dichter an den Mann schmiegte, als drängte sie ihn ängstlich, diese Selbstanklage zurückzunehmen. Als er sich aber zu ihr wandte, schlug sie dennoch den Blick nieder und bot ihm so die Hand zu einem Druck voll Verständnis und Zärtlichkeit.

So war die anfängliche Stimmung, die alsbald der Bearbeitung des Lebens unterworfen wurde. Dieses aber verfährt so seltsam eigenmächtig mit allen unsern Eindrücken und Erlebnissen, von denen es die kleinsten in der Erinnerung wachsen und an Reiz oder Schrecken gewinnen lassen kann, während es den großen stets etwas von ihrer Macht nimmt und sie zuweilen fast unwirksam macht. Unter der fortwährenden Reibung des Alltagslebens zog sich die Erinnerung der Schuld aus den Gedanken und dem täglichen Bewußtsein zurück, um auf dem Seelengrunde liegen zu bleiben, von dem sie endlich selbst nur noch einen Teil ausmachte. Und da es kein Glück ohne Reue geben kann, so diente dieser leise, leise Zusatz von Bitternis dazu, ihre Liebe vor dem faden Geschmack der Gewohnheit zu bewahren, sie zu befestigen: Doras Opfer war nicht unfruchtbar geblieben.

Der Sommer ist voll raschen, vollen Lebens verstrichen. Auf häufigen Ausflügen, aufs Land und in den Wald, am liebsten auf Ruderfahrten, haben die Glücklichen jedem Element, jeder Landschaft die eigentümliche Stimmung abgelauscht, welche sie für Liebende bereit halten, froh, der ganzen Natur ihre Liebe mitzuteilen und das Echo von ihr zurückzuerhalten. Nun sitzen sie gern an schönen Herbstabenden auf der Terrasse ihres Hauses, wenn beim Untergange der Sonne, die von dem Wasser drunten am Abhange des Gartens mit einem bezaubernden Glanz von vergoldetem Violett Abschied nimmt, tausend Blumen dem Licht und der Wärme, die sie belebt haben, duftende Grüße nachsenden. Dann und wann ein leises Rauschen in den Zweigen, von denen sich ein paar gebräunte Blätter lösen, um langsam zu Boden zu rascheln, macht die Luft nur noch stiller, den Abend friedlicher. Die beiden Menschen lieben mehr als je diesen Frieden, da sie seit wenigen Tagen wissen, daß sie nicht mehr allein sind in ihrem Bunde. Es ist, als habe dieser erst jetzt, da er gereinigt und erneuert ist, gesegnet werden sollen. Wenn sie es wagen, die große Stille zu unterbrechen, so tun sie es, um von ihrem Kinde zu sprechen, »von unserm Jungen«, denn sie wünschen Beide, Anna fast inniger als ihr Gatte, daß es ein Knabe sein möge. Mit dem zuversichtlichen Blick auf die Zukunft, der außer Verliebten nur jungen Eltern eignet, setzen sie sich bereits über ihre Erziehungsgrundsätze auseinander.

»Ich überlasse ihn ganz Dir« sagt Wellkamp. »An dem, was Du aus ihm machst, werde ich mich auf alle Fälle erfreuen können. Das wird der beste Dienst sein, den ich unserm Jungen erweisen kann.«

»Du willst ihn zum Muttersöhnchen machen?« wendet Anna lächelnd ein.

»Du brauchst es nicht eben so zu nennen. Der weibliche Einfluß, der mir gefehlt hat, ist ganz allein imstande, in der ersten Jugend das Gewissen zarter, die Ehrfurcht größer, den Geschmack feiner zu machen. Ich meine, daß gegen solche Wirkungen alle etwaigen Nachteile unbedeutend erscheinen müssen.«

»Weißt Du, was ich einleuchtend fände? Wenn es Dir gleicht, so habe ich seine hauptsächliche Leitung zu übernehmen; ist er dagegen mir ähnlich, so liefere ich ihn ohne Umstände Dir aus. So erreichen wir vielleicht eine natürliche Ergänzung seiner Anlagen.«

Wellkamp hat indes seinen Gedanken festgehalten.

»Hältst Du es für möglich« fragte er nachdenklich, »daß nach uns eine Generation von Männern käme, die wieder einfacher, lebensfreudiger und in einem Glauben besser gegründet wären als wir heutigen?«

Anna nickte ihm zu.

»Du sagst mir, daß ihr Alle die Sehnsucht nach dem Glauben kennt. Das ist augenscheinlich die letzte Spur von dem, was schon eure Großväter zu verlieren begannen. Aber sollte es nicht zugleich die beste Vorbereitung sein, daß eure Söhne und Enkel es wiederfinden? Denn die geistige Bewegung ist eine Wiederholung ohne Ende. So wie wir’s erleben, hat es sich unzähligemal zugetragen. Im geistigen und moralischen Leben gibt es nur darum ein ›Hinab‹, damit sofort ein ›Hinauf‹ darauf folgen kann.«

»Und Du glaubst, daß wir an dem ›Hinauf‹ angelangt sind?« fragt Wellkamp fast freudig und erwidert Annas zustimmendes Lächeln.

Sie haben Beide die Hoffnung, weil sie die Liebe haben.

Dann geht die junge Frau ihrem Vater entgegen, der auf die Terrasse heraustretend die Tochter auf die Stirne küßt, um dann dem Schwiegersohne kräftig die Hand zu schütteln. Die Verheerungen, welche die grausamen Erfahrungen des letzten Winters an ihm angerichtet, sind so vollständig wie möglich geheilt. Anfangs hat auch er sich gesträubt, vom Schicksal die Lösung anzunehmen, welche es durch den Tod seiner Gattin allen Schwierigkeiten seiner Familienverhältnisse erfunden. Er hat Doras Opfer mit derselben Notwendigkeit wie Wellkamp als, wenn nicht für ihn, so doch zu seinen Gunsten gebracht, ansehen müssen. Indes hat er das weit drückendere Vermächtnis zu übernehmen gehabt, das seine Lebensführung in der Abhängigkeit der Toten beließ, wie sie solange aus der Hand der Lebenden unterhalten war. Und um sein Alter in der Nähe der geliebten Tochter zubringen zu können, hat er seinen Widerwillen und seinen Stolz gegenüber dem Manne, den seine Gattin geliebt, zum Schweigen bringen müssen. Sein Verhältnis zu seinem Schwiegersohn ist in letzter Zeit selbst herzlicher geworden als es je früher gewesen. Mit Hilfe des ihn immer leichter gefügig machenden Alters hat er bald in jedem Punkte die Waffen gestreckt. Wann täten dies die Menschen nicht, die von Hause aus Ansprüche an das Leben zu stellen gelernt haben, denen dieses in der Folge nur gegen tausend Demütigungen und Opfer an ihrem Gewissen gerecht wird. Vergessen sie doch am Ende, daß sie diesen Preis tagtäglich zahlen. An Herrn v. Grubeck verrät nichts, daß er ein vom Leben Gedemütigter ist. Er fühlt sich behaglich im Hause seiner Kinder, in dessen oberem Stockwerk ihm die schönsten Zimmer hergerichtet sind. Den Verkehr im Klub, der ihm liebgeworden ist, hat er beibehalten. Während er eine dort gehörte Anekdote erzählt oder die Einladung einer der Familien überbringt, mit denen man seit kurzem den lange Zeit unterbrochenen Verkehr wieder angeknüpft, hat er sein gutes, lautes Lachen von ehemals. Jede seiner Bewegungen, sein ganzes, schon etwas großväterliches Gehabe spricht aus, wie zufrieden der alte Herr ist, noch einmal wieder gefunden zu haben, was er seit seiner Kindheit verloren: Das echte, stetig geordnete, einträchtige und in seinem unscheinbaren Frieden so inhaltsreiche Leben in einer Familie.

In Augenblicken des Schweigens sehen die drei Menschen, nun alle in jene »Hafenruhe« eingelaufen, von der Wellkamp von jeher unter dem Blick von Annas Augen geträumt, in den Garten hinaus, wo schon dichte Schatten über der Stelle liegen, an welcher Dora gestorben, und über welche die Blicke bereits ohne eine unausgesetzte Erinnerung hinweggleiten. Der nun regelmäßiger durch die Wege streifende Abendwind treibt die im Dunkeln geheimnisvoll raschelnden Blätter vor sich her. Sie flattern, eines ums andere, langsam und still, aber nicht eben traurig, wenn man es nicht mit traurigen Augen ansieht, die Terrassenstufen hinab, und von der letzten ins Wasser, auf dessen mondbeglänzter Fläche sie kurze Zeit aufleuchten, um dann stromabwärts in den Schatten zu verschwinden, gleichwie unsere Jahre, eines ums andere, von uns fort in die Unendlichkeit treiben, oder wie uns das Andenken einer Toten entgleitet.

Heinrich Mann - Sämtliche Romane

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