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IV

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Wie oft Wellkamp sich in den nächsten Tagen wiederholte, daß er an jenem Abend durch die Art, wie er die Szene mit Dora beendigt, völlig korrekt gehandelt habe, daß ihre beiderseitigen Empfindungen während jener seltsamen Minuten in sich selbst versunken und ohne wechselweisen Zusammenhang gewesen – so war er doch ohnmächtig gegenüber dem rätselhaften Bewußtsein, das eine seit jener Stunde zwischen ihm und der jungen Frau eingetretene Annäherung feststellte. Er ertappte sich darüber, daß er sie in seinen Gedanken, die sich jetzt häufiger um eine Vergleichung von Wesensäußerungen seiner Braut und Frau v. Grubecks zu drehen begannen, mit ihrem Vornamen nannte. Blieben diese seine Gedanken zuweilen an einem Punkte stehen, über den er in Träumereien versank, so bemerkte er später, daß sie, mit der er sich auf diese Weise unbewußt beschäftigt, Dora gewesen.

Noch mehr. Einmal unerwartet ins Zimmer getreten, hatte er seine Braut mit Frau v. Grubeck beim Austausch der halb unterdrückten Feindseligkeiten überrascht, die den Verkehr der beiden Frauen bezeichneten, und von Anna ein ungeduldiges Wort aufgefangen. Er konnte sich in diesem Augenblick nicht entschließen, sie anzureden, aus Furcht, unfreundlich zu sein.

»Warum ist sie so ungerecht? Welch alberne Eifersucht in diesen häuslichen Dingen, über die sie doch sonst hinwegzublicken den Anschein hat!« So dachte er im Vorübergehen.

Er bemerkte nachher selbst, daß seine erste Regung ohne weiteres Anna Unrecht gegen ihre Gegnerin gegeben hatte.

Seine Stellung zu Dora war dadurch eine schwierigere geworden, die ihm Rätsel aufgab und zuweilen sein Benehmen verwirren konnte. In ihrer Gegenwart, welche jedesmal, wie bei ihrer ersten Begegnung, so viele Gegensätze, so viel seine Sympathien Verletzendes zu Tage förderte, war es ihm unbegreiflich, wie dennoch seither eine engere Beziehung zwischen ihnen hergestellt sein konnte. Denn es kam, als neues Rätsel, die Bemerkung hinzu, daß sie dieses Bewußtsein mit ihm teilte. Er mochte sich bei einer Gelegenheit, die ihm dies deutlich machte, ungeduldig und zornig fragen, was sie dazu berechtigte – ohne doch zu wagen, ihr Unrecht zu geben.

Unter ihren nächsten Gesprächen war eines, welches darum besonderen Eindruck auf ihn machte, weil er darin den Unterschied ihres Verhältnisses jetzt und früher angedeutet fand. Dora hatte, worauf sie die Unterhaltung mit Vorliebe hinausführte, wieder ihre eigene Lebensweise zur Sprache gebracht, die Zweck- und Freudlosigkeit ihrer Tage.

»Zuweilen«, sagte sie, »wenn ich meine Toilette mache, was für uns Frauen, wie Sie wissen, die eigentliche Arbeit des Tages ist, möchte ich alles beiseite schieben, so zwecklos kommt es mir vor. Denn Zweck verleiht uns überhaupt erst die Gesellschaft.«

Und auf eine Bewegung des jungen Mannes:

»O, seien Sie nicht gekränkt! Aber Sie sind Bräutigam und zählen nicht mit.«

»Es hängt doch ganz von Ihnen selbst ab«, schob Wellkamp ein, der ihre letzte Bemerkung zu überhören schien.

»Glauben Sie? – Ich finde, daß ich etwas von einem Geizhals habe, der mit all seinem Reichtum in seinem einzigen Zimmer wohnen bleibt. Meinen Sie, daß er sich nicht doch zuweilen nach dem Palaste sehnt, den er bewohnen könnte? Das sind widerstreitende Bedürfnisse; die stärkeren halten uns fest.«

Mochten ihre Äußerungen zur Hälfte kokett sein, so war doch wohl auch viel von wirklichem Selbstmitleiden darin enthalten, ihrer Natur eine vertraute Empfindung, in deren besonderen und starken Schauern sie bisweilen augenblickliche nervöse Befriedigung fand. Dem entsprach auch der Ton ihrer Rede, welcher weniger sentimental als spöttisch und ein wenig bitter war. Vielleicht hätte jeder nicht Voreingenommene, der ihr in diesem Augenblick gegenüber gesessen, eine gewisse Rührung verspürt. Es wäre für einen solchen Beschauer ein Bild von Blässe und Wehmut gewesen, die junge Frau in den tiefen, gegen das Licht geschobenen Sessel geschmiegt zu sehen, in ihrer Morgenrobe, deren Farbe hell und matt war wie die der bewegungslos in ihrem Schoße ruhenden Hände; wie ihr Gesicht, dessen Züge ein wenig verwischt erschienen in der geringen Beleuchtung, die aus den halbgeschlossenen Fenstervorhängen darüber zu gelangen vermochte, und wie ihr weiches Haar, dessen aufgenommene Frisur von ein paar leise spielenden Sonnenlichtern gekrönt wurde.

Wellkamp war am allerwenigsten gegen den Zauber einer solchen pastellartigen Erscheinung unempfindlich, aber er fühlte mit einer Art von trotziger Genugtuung, wie es ihm gelang, den Eindruck, den sie auf ihn machte, niederzukämpfen. Seine abwehrende Regung steigerte sich bis zu wirklichem Widerwillen, als Dora nun in Verbindung mit ihren halb ironischen Klagen über ihre eigene Ziel- und Tatlosigkeit Herrn v. Grubecks Erwähnung tat.

»Er hat wenigstens noch das Porzellan bis zu Ihrer Hochzeit auszumalen, lebt also doch zu einem bestimmten Zweck«, sagte sie und gab dadurch seiner lauernden Antipathie Gelegenheit, jene erste Situation, in welcher sie sein Gefühl durch eine spöttische und leicht verächtlich machende Bemerkung auf Kosten ihres Gatten beleidigt hatte, mit der jetzigen zu vergleichen. Damals war der stumme Widerstand, den er der aus ihren Worten herausgefühlten Intimität entgegensetzte, berechtigt, aber war er es heute noch? Er vermochte hierauf nur auf die eigentümliche Weise zu antworten, daß er sich das Recht, jenen Widerstand nach wie vor leisten zu dürfen, zusprach – ohne doch davon Gebrauch machen zu können. So offenbarten mehrere durcheinander redende Stimmen die Unklarheit seines Innern und die Schwierigkeit des Charakters, in dem er mittlerweile dieser Frau gegenüberstand.

Das Gespräch fand in der Morgenstunde statt, in welcher Anna mit ihrem Vater ihre Promenade zu machen pflegte, und in der Wellkamp seit der ersten Begegnung mit Frau v. Grubeck nie mehr das Haus betreten hatte. Aber unter den peinigenden Erwägungen, die sich in ihm nach dem Auftritt mit Dora, der jener Unterredung mit seiner Braut gefolgt war, gekreuzt hatten, war auch die Frage aufgetreten, warum er sich jedem vorherzusehenden Alleinsein mit der jungen Frau seither entzogen hatte. Er beargwöhnte sich selbst bereits so sehr, daß er in dieser Zurückhaltung sofort Furcht oder sogar etwas dem Schuldgefühl Ähnliches erblickte. In dem Trotze, sich selbst seine völlige Unbefangenheit beweisen zu wollen, hatte er sodann den Morgenbesuch erneuert.

Er fuhr dennoch unmerklich zusammen, als er nun aus dem Nebenzimmer Annas Stimme kommen hörte. Und es half nichts, daß er sich sogleich aufs neue ausforschte:

»Warum erschrecke ich, da ich mir nichts vorzuwerfen habe?«

Dora begrüßte indessen die Eintretende.

»Da Du Deinen Bräutigam den ganzen Morgen vernachlässigst«, sagte sie, »ist er so liebenswürdig gewesen, mir ein wenig Gesellschaft zu leisten.«

Während Anna, ohne ihren Vater erschienen, antwortete, gehörte schon ein sehr scharfsichtiger Beobachter dazu, um die leise Verdüsterung ihres beim Eintritt so klaren Auges zu gewahren, die Doras Worte hervorriefen. Wellkamp hatte in dieser Minute den außerordentlich klaren Überblick über die Situation mit allen in ihr liegenden Möglichkeiten, welche gleicherweise dem Feldherrn eignet, der eine Entscheidung nahen sieht, und dem armen Sünder, der seine Aburteilung erwartet. So hörte er aus Frau v. Grubecks Anrede diejenige Deutung seines Besuches heraus, welche der von ihm beabsichtigten genau entgegengesetzt war, die Auffassung desselben als eine Annäherung. Zugleich konnte er sich die Bewegung seiner Braut, mit wie schmerzlichem Widerstreben er es auch tat, nicht anders denn als das Symptom eines aufgetauchten Verdachtes erklären. Er verstand noch so wenig die vornehme Reinheit ihrer Natur, welche sie zu den heftigsten inneren Kämpfen gezwungen haben würde, bevor sie einen Verdacht auf den Mann, der ihr Verlobter war, werfen konnte. Andererseits wußte er auch nicht, daß das junge Mädchen trotz ihrer großen Seelenrechtlichkeit dazu neigte, hier wie überall ihrer gehaßten Feindin für jede Bewegung wie für jedes Wort, ja für jede kleinste Äußerung ihres Wesens die unedelsten Beweggründe unterzulegen. Was auch Wellkamp, wenn er die ganze Schärfe des Verhältnisses der beiden Frauen geahnt hätte, daraus zu schließen versucht gewesen wäre, so bildete es doch nur eine natürliche Ergänzung der übrigen Charakteräußerungen des jungen Mädchens. Gerade weil sie als jugendliche Ideologin in ihrer geträumten Welt alle Menschen schlicht und ohne bösen Willen erblickte, mußte ihr die erste, ihr selbst ganz und ausschließlich unsympathische Persönlichkeit, welcher sie im wirklichen Leben begegnete, als eine unwahrscheinlich krasse Ausnahme von der Regel erscheinen, der gegenüber sie außerstande war, ihrem Widerwillen irgendeinen Zügel anzulegen.

Die scharfen, wenn auch in falscher Richtung abgelenkten Beobachtungen, welche Wellkamp in jener kritischen Sekunde gemacht, gaben ihm ein gewisses Mitleid mit seiner Braut ein. Es war jenes Mitleid mit den Opfern unserer eigenen Fehler, das zumeist wenig Reue, aber gewöhnlich mehrere Gran Pharisäertum enthält. Die unausgesprochene Logik dieses Gefühls geht dahin, daß uns unmöglich eine Schuld an dem Unglück, zu dem wir der Anlaß gewesen sind, treffen könne, da eine böse Absicht unsererseits mit eben dem Mitleid, das wir nun doch mit dem Betroffenen empfinden, im Widerspruch stehen müßte. Die Unehrlichkeit dieses Gefühls wird am besten dadurch bewiesen, daß unsere nächsten Handlungen meist dennoch durch das geleugnete Schuldgefühl diktiert sind.

So gab sich Wellkamp in der folgenden Zeit dem Bemühen hin, seiner Braut mehr als vorher bemerkbar zu machen, in welchem Grade ihn der Verkehr mit ihr von der Pflege anderweitigen Umgangs abhielt. Vor allem schränkte er die mit Dora zu wechselnden Worte auf das notwendigste ein und vermied jedes Alleinsein mit der jungen Frau. Zugleich beruhigte es ihn, daß seine unvermittelt eingetretene Entfremdung von ihrer Seite so gut wie unbeachtet blieb. Er sagte sich, daß, wenn sie ihn in seinem Rückzug nicht störe, keine Ansprüche geltend mache, dadurch alles, was er sich von falschem Benehmen ihr gegenüber vorgeworfen habe, widerlegt sei.

In den nun häufiger als vordem herbeigeführten Unterhaltungen mit Anna verflossen ihm halbe Nachmittage in der friedlichen, hellen Stimmung des kleinen Mädchenzimmers. Das erste Mal, daß er es wieder betrat, vertiefte sich plötzlich das zum Teil hypokritische Gefühl, das ihn zunächst zum engeren Anschluß an Anna bestimmt, zu einem echten, warmen und überwallenden Mitleid, darin nun volle Reue enthalten war über das Viele, das er ihr in den vergangenen Wochen schuldig geblieben, und dessen er sich selbst beraubt.

In der Not, die er seine Bewegung zu verbergen hatte, nahm er den kleinen Kopf der Geliebten in seine beiden Hände, um ihre Stirn zu küssen. Sie ergriff eine seiner Hände und streichelte sie mit den ihrigen. Unter dieser schlichten Liebkosung nahm sie unbefangen jene Plaudereien wieder auf, die das erste Mal für Wellkamp einen so verhängnisvollen Abschluß gefunden hatten. Nun befand er sich sogleich wieder unter dem Zauber ihrer Vertraulichkeit, in der, ihr selbst sicherlich unbewußt, immer diese vage aber unbestreitbare Überlegenheit schlummerte, die den jungen Mann in seiner jetzigen Gemütsverfassung von neuem so unsäglich heimlich und erwärmend berührte. Alle voraufgegangenen Störungen dieser einzigen Stimmung waren ihm so gut wie entfallen. In diesen Stunden des schweigenden, wunschlosen, vergessenden Glückes meinte er die Vergangenheit unwiederherstellbar abgeschlossen zu fühlen. Und stand nicht dieser Abschluß auch tatsächlich und sichtbar in nächster Nähe? Die Glücklichen begannen die Tage bis zur Hochzeit zu zählen.

»Es sind noch sechs«, sagte Anna, »wenn wir den heutigen mitrechnen. Das brauchen wir aber nicht mehr; also nur noch fünf.«

Wellkamp hatte einen anderen Einfall.

»Weißt Du, was ich mir an unserer Reise am schönsten vorstelle? – Die Heimkehr.«

»O«, fuhr er fort, »natürlich werden wir prachtvoll zusammen reisen – bedenke doch, wie mir, der ich immer allein herumgefahren bin, das vorkommen wird – aber ich finde, man macht sich doch dort draußen nur müde, um sich nachher zu Hause recht behaglich ins eigene Nest zu setzen. Das ist am Ende der Zweck.«

Anna lachte, und ihr Lachen versicherte, daß sie an keine Müdigkeit denke.

»Aber einen Plan, wohin wir gehen, hast Du Dir unterdessen wohl zurechtgelegt?«

»Ich habe keine Ahnung.«

»Und Du hast recht«, sagte das junge Mädchen. »Es ist besser, in der letzten Stunde irgendeine passende Richtung einzuschlagen und sich dann vom Zufall weiterführen zu lassen. An Plan und Einteilung liegt nichts und erst recht nichts an dem Ziel. Nicht wahr? Die Ziele gehören in den Alltag, aber das Glück ist planlos.«

Wellkamp sah sie an, voll der zärtlichen Bewunderung, die wir immer aufs neue für die Liebe besitzen, die wieder einmal genau dasjenige ausgesprochen, was wir selbst gefühlt – oder doch nun gefühlt zu haben meinen.

So vergingen den Verlobten die nächsten Tage halb in träumerischem Erwarten und halb in gegenseitiger Mitteilung kleiner praktischer Bemerkungen und Wünsche, hinter deren unscheinbarem Wortlaut so viel von der Seele hervorblickte, mit ihren Lebensbedürfnissen, ihren Sympathien und ihrer Sehnsucht. Sie waren in ihren Phantasien von »künftig« gleich den Kindern, welche vor Weihnacht über die Geschenke bestimmen, die sie erwarten.

Betreffs der Vermählungsfeierlichkeit hatte der Major den Vorschlag gemacht, völlig unter sich zu bleiben, und er war mit der stillen Zustimmung aufgenommen worden, mit der in dieser kleinen Gesellschaft jeder den Neigungen und Eigentümlichkeiten des Andern begegnete. Während dieser Zug bei Anna einer natürlichen Diskretion der Seele entsprang – wie überhaupt das junge Mädchen ungeachtet ihrer Ahnung einer geistigen Überlegenheit gesellschaftlich stets bereit war, sich den Altern unterzuordnen – mochte bei den übrigen drei eine solche Schonung der Eigenheiten Anderer zum Teil aus dem Bewußtsein hervorgehen, selbst genug und übergenug zu verbergen zu haben. Es stellen sich in jedem Familienkreise, dessen einzelne Mitglieder aus irgendwelchen Gründen die volle Intimität, welcher alles Geschehende selbstverständlich ist, noch nicht oder – nicht mehr besitzen, Momente ein, über die man am klügsten unter Schweigen und mit einem verbindlichen Lächeln hinweggeht. In dieser Weise hatte unter anderem Herr v. Grubeck, der nach der ersten ausweichenden Antwort, die Wellkamp auf die Frage nach seinen Familienbeziehungen gegeben, den Gegenstand ruhen gelassen, die Mitteilung aufgenommen, die der junge Mann kurz vor der Hochzeit ihm nun dennoch über das Verhältnis zu seinem Vater machen zu müssen meinte.

Dann standen die Verlobten, an dem entscheidenden Tage, in Erwartung der feierlichen Handlung neben einander, er etwas nervös, sie völlig ruhig, und nur unmerklich blässer das Gesicht, dessen matter, wie vergoldeter Glanz sich überraschend und reizend von dem schlichten weißen Kleide abhob, welches ebenso wie ihr duffes schwarzes Haar ganz mit duftigen Orangenblüten übersäet war.

Der Major hielt sich, fortwährend bemüht, seine Bewegung unter straffer gesellschaftlicher Haltung zu verbergen, zur Seite seiner Gattin, die ihren gewohnten Platz eingenommen hatte. Die junge Frau zeigte ihre eigentümliche Halbdunkel-Schönheit in einer überlegen geschmackvollen Toilette von grauer Seide.

Der Geistliche trat ein, ein älterer Mann, dessen Gesicht, unter seiner stillen Würde, nichts mehr von der halben Verlegenheit verriet, der jüngere Leute seines Standes in solchen Augenblicken unterliegen können, wo sie in eine kleine, feierlich vorbereitete Gesellschaft fremd eintreten, um sogleich eine Handlung vorzunehmen, welche wie keine andere in das Leben dieser Menschen bestimmend eingreifen soll.

Hinter ihm erschien der Hauswirt, Herr Bright, welcher neben Herrn v. Grubeck als Trauzeuge zu fungieren gebeten war.

Während des religiösen Aktes war Anna, ohne Bewegung, in ein stilles, halb nachdenkliches Träumen versunken. War es ihr doch durch ihre seelische Reife mehr als wohl andern an diesem Punkte ermöglicht, durch die Äußerlichkeiten hindurch in die Tiefe dieser Wandlung ihres Lebens zu sehen. Was sie an Möglichkeiten in diesen Minuten erblickte? Ach, es waren für sie – gleichviel ob sie darum bedauerns- oder beneidenswert sein mochte – lauter Gewißheiten, glückliche Gewißheiten.

Wellkamp, für den jede Feierlichkeit an sich etwas schwer Erträgliches bedeutete, verfiel nach der nervösen Erwartung jetzt stellenweise in eine Art von Betäubung, aus der er alsdann mit irgendeinem absonderlichen Einfall wieder auffuhr. Einmal erinnerte er sich unvermittelt einer unbedeutenden Einzelheit an Doras Toilette und spürte zugleich das unbezwingliche Verlangen, seine Augen so weit nach links zu richten, um seine Vermutung bestätigt sehen zu können. Dann wieder glaubte er ihren beobachtenden Blick auf sich gerichtet zu fühlen, ja er meinte zu unterscheiden, wie derselbe zwischen ihm und seiner Braut hin und her wanderte. Dadurch ward plötzlich ein beißender, giftiger Haß gegen Frau v. Grubeck in ihm erregt, der kaum einem Moment anhielt; gleich darauf horchte er mit einer ebenso unvermittelten Rührung auf die Schlußworte des Redners.

Das unruhige Spiel seiner Einfälle und Stimmungen beschränkte sich auf wenige Augenblicke. Der Geistliche besaß die Diskretion, seine Rede abzukürzen.

Unter den Hochzeitsgaben Herrn und Frau v. Grubecks, welche von dem Major mit künstlerischem Geschmack geordnet, nun besichtigt wurden, stach ein kleines hölzernes, einer menschlichen Karikatur ähnliches Götzenbild seltsam hervor, das Dora für Wellkamp bestimmt, und das, wie sie ihm mit ihrem unter der leichten Ironie so manches Rätsel bergenden Lächeln sagte, ein Andenken aus ihrer Heimat, das Geschenk einer alten Negerin war. Während Wellkamp das alberne kleine Monstrum in der Hand hielt, fühlte er von neuem jenes jähe, tieffeindliche Gefühl in sich aufsteigen, das ihn noch soeben während der Trauung berührt. Er empfand in diesem Geschenk wieder etwas Außergewöhnliches und, in irgendwelcher Weise, etwas Lästiges. Als er jedoch, dicht davor, das Stückchen Holz heftig aus der Hand zu legen, sich auf die nötigste Höflichkeit besann, schlug seine Stimmung wiederum unvermittelt um. Dora erschien ihm plötzlich so bemitleidenswert, daß ihn der Gedanke wie ein Schauer berührte. Er sah sie auf einmal von der Höhe seines Glückes an; denn er hatte wie nie zuvor das Bewußtsein, sich dort zu befinden und alles Vergangene endgültig unter sich gelassen zu haben. Wozu sollte er also noch Groll hegen, welcher ihm vergangene Kämpfe und Leiden immer aufs neue ins Gedächtnis rufen mußte. Er fühlte das Bedürfnis, auf jeder Seite in gutem Einvernehmen und ohne irgendwo einen gewaltsamen Bruch zu hinterlassen, abzuschließen, bevor er mit seiner jungen Frau die Hochzeitsreise antrat. Diese friedliche und halb wehmütige Stimmung ergriff ihn soweit, daß es eine ausgesucht verbindliche Bewegung wurde, mit der er Frau v. Grubecks Hand ergriff, um sie zu küssen.

Das Mahl verlief sehr schweigsam, und nur zum Schluß war ein leises Aneinanderklingen der Gläser ein diskreter Ausdruck all des Unausgesprochenen, das jeder in sich trug an Empfindungen oder Gedanken, an Wünschen oder Besorgnissen. Wenn zwei Gläser zusammenklingen, kann es schwieriger sein als man glauben mag, herauszuhören, was jedes von ihnen sagen will.

Der Wagen stand vor der Türe, und der Major mahnte zum Aufbruch. Er geleitete seine beiden Kinder zur Bahn.

Dora blickte dem eleganten Gefährt nach, das lautlos über eine ganz leichte, allererste Schneedecke rollte. Sie stand, das Spitzentuch in ihrer blassen Hand ein wenig zusammengedrückt, am Fenster.

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