Читать книгу Heinrich Mann - Gesammelte Werke - Heinrich Mann - Страница 11

Оглавление

Selbstbetrug sei.

Für Wellkamp stellte sich nach dem Vorgefallenen die Gewissenspflicht mit völliger Klarheit so dar, daß er sofort mit seiner jungen Frau Haus und Stadt zu verlassen hatte, um in absehbarer Zeit nicht dorthin zurückzukehren. Es war dies ganz offenbar das einzige Mittel, um die tatsächliche Vollendung dessen, was an jenem verhängnisvollen Abend innerlich entschieden war, unmöglich zu machen. Im Vergleich mit dieser Aussicht erschien alles andere als Nebensache und mußte demgemäß kurz behandelt werden. Wie er Anna gegenüber, wie er ihrem Vater seinen schnellen Entschluß begründen sollte, mußte sich finden, wenn es der Zweck einmal so wollte.

»Ob aber der Zweck der Abreise wirklich erreicht werden würde?« fragte er sich, und er fand leicht eine seinen Wünschen dienende Antwort, wobei in diesem Falle seine vielseitige Betrachtungsweise durch eine nicht unbeträchtliche Belesenheit unterstützt ward. So kam ihm im Augenblick fast wörtlich eine Stelle eines seiner Lieblingsbücher, der Wahlverwandtschaften, ins Gedächtnis.

»Wenn Dein Entschluß«, so wiederholte er innerlich, »so fest und unveränderlich ist, so hüte Dich nur vor der Gefahr des Wiedersehens. In der Entfernung von dem geliebten Gegenstande scheinen wir, je lebhafter unsere Neigung ist, desto mehr Herr von uns selbst zu werden, indem wir die ganze Gewalt der Leidenschaft, wie sie sich nach außen erstreckte, nach innen wenden. Aber wie bald, wie geschwind sind wir aus diesem Irrtum gerissen, wenn dasjenige, was wir entbehren zu können glaubten, auf einmal wieder als unentbehrlich vor unsern Augen steht!«

Es wäre also, folgerte Wellkamp, vor allem eine unwiderrufliche Trennung nötig, die ohne starke Auffälligkeit und vielleicht Verdacht nicht zu erreichen war. Und wäre sie möglich, welches Mittel gab es sodann gegen die Leidenschaft, die nicht anders können würde als wachsen, in demselben Maße wie in der Entfernung ihr Gegenstand von seiner Phantasie gereinigt und idealer werden würde. Wie mußte die Leidenschaft, deren ganze Gewalt sich »nach innen« wenden würde, sein Verhältnis zu Anna gestalten? Es würde langsam und nie ausgesprochen, aber unvermeidlich in gänzlicher Entfremdung enden. Dies Schlimmste aber ließ sich vielleicht, ja sicher, abwenden, wenn er den Dingen ihren notwendigen Lauf ließ. Es würde dann so oder so zu einer befreienden Aussprache zwischen seiner Gattin und ihm kommen. Damit würde zugleich gewonnen sein, daß Anna einen tieferen Einblick in seine Natur erhielte, eine Bedingung, deren Fehlen ja ihm selbst ehedem als ein Hindernis für eine dauernde Befestigung ihres Verhältnisses erschienen war.

Wie leicht wir eine solche Scheinlogik erfinden in Lagen, wo unsere Leidenschaft bereits vorweg die Entscheidung gesprochen hat! Wellkamp hatte niemals das Bewußtsein, diesem seinem Gedankengange, darin er eine Aussprache mit Anna als wünschenswert bezeichnete, geradewegs entgegenzuhandeln, wenn er zu gleicher Zeit begann, seiner Gattin gegenüber weit ängstlicher als früher seine Bewegungen zu überwachen, seine Miene wie seine Worte zu überlegen, und vor allem in seinem ganzen Benehmen auch den leisesten Zusammenhang mit Frau v. Grubeck gleichsam schweigend abzuleugnen. Gleichwohl war auch diese Wendung, die er ihrem Verkehr gab, nur zu natürlich. Wie regelmäßig in der Entwickelung von Verhältnissen dieser Art, wuchs in dem Maße, wie der innere Entscheidungskampf jedes einzelnen der beiden Schuldigen ermattete, die Heftigkeit desjenigen, den sie gemeinsam gegen die Gegner in der Außenwelt zu führen hatten, gegen die Gläubiger, die sie schädigen, denen sie sich selbst entziehen mußten, um sich einander darzubringen.

Die Gereiztheit, in welcher Wellkamp in diesen, wie ihm schien, unruhigsten Wochen seines Daseins lebte, wurde vor allem auch dadurch hervorgerufen, daß es für ihn galt, eine Gelegenheit zu dem Schritte abzuwarten, zu dem alles in ihm als zu einer Lebensnotwendigkeit drängte. Denn ihn zu beschleunigen, war er immer noch nicht imstande, ebensowohl von der allgemeinen Unentschlossenheit seiner Natur zurückgehalten, wie von einer tief in seinen Instinkten begründeten Mutlosigkeit gegenüber den erschwerenden familiären Verhältnissen, wie sie hier vorlagen. Da gleichwohl die Begierde, mit der geliebten Frau auf irgendwelche Weise in Berührung zu kommen, überhandnahm, geschah es nunmehr zuweilen, daß er in ihrer Abwesenheit und möglichst unbeobachtet ihr Boudoir aufsuchte, um lange, lange an dem Orte sich ganz seinen Wünschen zu überlassen, wo er sie einst verwirklicht zu sehen hoffte. Aus der Luft dieses Raumes, den er hin und her durchmaß, wehte ihm gleichsam ihr Wesen entgegen, an jedem der Gegenstände ringsumher haftete etwas davon. Er konnte dann etwa das Buch öffnen, in dem sie, wie er vermutete, zuletzt gelesen, und die Seiten durchfliegen, die sie noch kürzlich in sich aufgenommen haben mußte, um so Geist von ihrem Geiste einzusaugen. Dann wieder blieb er in der Mitte des Gemaches stehen, um mit ängstlich pochendem Puls, ob niemand ihn belauschte, nach dem Sessel, in dem sie zu ruhen pflegte, den Namen der Geliebten hinüberzuflüstern:

»Dora …«

Als das wilder werdende Spiel seiner Phantasie ihn wieder einmal so sich selbst vergessen ließ, sank er vor jenem Sessel nieder und preßte seinen Kopf in die Kissen, in denen er den Duft ihres Kleides, ihres Haares spürte. Dabei hatte er beängstigend deutlich ihre Antwort im Ohr, er hörte ihre geheimnisvolle Stimme »Erich!« rufen, und es klang wie ein Schicksalsruf. Als er in vollständiger Verwirrung lauschte, ob es nicht Wirklichkeit sei, vernahm er seinen Namen von einer anderen Stimme ausgesprochen, und er hatte kaum noch Zeit, aufzuspringen, gehabt, als Anna bereits die Portière zurückgeschlagen hatte.

»Nun?!« rief er ihr sofort entgegen, und seine Stimme war, um seine Überraschung zu verbergen, unwillkürlich überlaut und heftig geworden. »Man bleibt nicht einen Augenblick allein. Ich habe Kopfschmerzen.«

»Dann solltest Du Dich nicht dem einnehmenden Parfüm aussetzen, das hier im Zimmer liegt. – Ich habe Dich von Papa zu fragen, ob Du uns statt seiner heute Abend in den ›Tannhäuser‹ begleiten willst. Das heißt, ich bleibe für meinen Teil auch gern zu Hause. Du weißt, ich bin nicht für Wagner.«

»Laß Dich nicht abhalten«, sagte er rauh und während der Ärger in ihm aufstieg, welcher ihn jetzt öfter bei der Berührung mit Anna erfaßte, die er innerlich bereits als Hindernis für seine Wünsche anzusehen gewöhnt war.

»Also Du sagst zu?« fragte sie, während sie den Blick, der ein stilles Erstaunen bei seiner Heftigkeit ausdrückte, auf ihn geheftet hielt.

Natürlich reizte ihn ihre Ruhe noch mehr.

»Jedenfalls. Man hockt hier ohnehin zu viel beieinander. Das macht languid auf die Dauer.«

»Du langweilst Dich, lieber Junge«, sagte sie begütigend. »Ich glaube, Du solltest Dir eine Beschäftigung wählen.«

Sie sah den Grund seiner häufiger auftretenden Launen einzig in seiner Beschäftigungslosigkeit, wobei es wahrscheinlich war, daß sie im letzten Grunde Recht behielt. Ihm konnte ihre einmal fixierte Auffassung, die ihre Aufmerksamkeit ablenkte, für seine augenblicklichen Zwecke nur vorteilhaft sein. Doch ward er jetzt bloß erbittert durch dasjenige, was er als »Schulmeisterei« an ihr empfand.

Er wandte sich mit einer so deutlich beleidigenden Bewegung ab, daß sie es bemerken mußte. Anna war besonnen genug, ihn ohne weitere Entgegnung zu verlassen. Sie sah solche kleinen Szenen, die in letzter Zeit nicht selten waren, ruhig an. Es würde ihr morgen ein leichtes sein, dachte sie, alles wieder zu ordnen, wenn er nicht von selbst käme. Er ergab sich leicht genug, wenn ihm Zeit gelassen wurde; auch schien er wirklich etwas gelangweilt, und die Oper würde ihn anregen, sie kannte seine Empfänglichkeit für Musik. Indessen pflegte sie auch ihre eigene Würde in solchem Falle in ihrem Verhalten abzumessen. Nach dem Vorgefallenen mit Wellkamp in die Oper zu gehen, erschien ihr nicht tunlich. So überbrachte sie Herrn v. Grubeck ihre eigene Entschuldigung und die Zusage ihres Gatten.

Der Hauptgrund, weshalb Anna dem Besuch des »Tannhäuser« von vornherein abgeneigt gewesen, lag darin, daß er von Frau v. Grubeck angeregt und ihr zu Gefallen beschlossen war. Dora hatte die Kleinlichkeit in Bezug auf ihre eigene Person, welche die junge Frau niemals verleugnen konnte, richtig berechnet, als sie die Verantwortlichkeit des ersten Schrittes, vor welchem der Mann zurückscheute, auf sich nahm. Sie konnte, während sie ihn tat, das Gefühl triumphierender Rache durchkosten bei dem Gedanken an die Frau, die für den Besitz des Mannes von ihr so beleidigend wenig fürchtete. Doch war dies Gefühl nicht die eigentliche Triebfeder ihres Entschlusses gewesen, noch war ihr dieser leicht geworden. Sie hatte all diese Zeit umsomehr gelitten, als sie die Erfüllung ihres Schicksals nunmehr völlig in der Hand des Mannes glauben mußte. Je länger sie ihn unentschlossen sah, desto fieberhafter ward der Zustand, der sie zugleich zu einer erschöpfenden Aufmerksamkeit gegen ihren Gatten verdammte. Denn mit welcher Heftigkeit nach der Entbehrung ihres ganzen Lebens der Trotz gegen alles, Personen und Verhältnisse, die sie umgaben, in ihr zum Ausbruch gelangt war, blieb sie doch immer unfähig, sich ihrer Leidenschaft rücksichtslos und ohne Besinnung hinzugeben. Sie hatte sich ängstlich gehütet, die Besuche im Arbeitskabinett Herrn v. Grubecks, welche sie seit der Abwesenheit des jungen Paares zu machen begonnen, seltener werden zu lassen, und es war ihr gelungen, den freundschaftlichen Ton im Verkehr mit ihrem Gatten zu erhalten und zu befestigen. Heute nun, da sie ihn stark beschäftigt gefunden und von ihm gehört, daß er den ganzen Tag reichlich zu tun haben werde, hatte sie die Gelegenheit genützt, seine Begleitung in die Oper zu erbitten. Er hatte gefürchtet, sich tagsüber allzusehr zu ermüden, und ihr angeboten, sich von Wellkamp begleiten zu lassen. Der Ablehnung Annas war sie hinreichend sicher gewesen.

Das Ganze hatte sich zufällig und wie absichtslos gemacht; doch hätte sie, falls sich nicht jene Gelegenheit geboten, an diesem Tage irgendeine andere gesucht und gefunden. Es gibt in dieser Weise einen Steigerungsgrad in jedem lange ausgehaltenen und dabei außerordentlichen seelischen Zustande, wo eine plötzliche Abspannung notwendig wird. Sie tritt häufig in einer, bei großer geistiger Ermattung besonders mächtigen Stimmung auf, die uns späterhin als Ursache vieles Geschehenen erscheinen kann. Gleichwohl ist sie meist nicht an sich bedeutend oder verhängnisvoll und hat ihre Bestimmung nur als Ruhepunkt, der zur Vorbereitung auf künftige Stürme notwendig ist. Denn das Fahrwasser, welches wir einschlagen, braucht nicht ruhiger zu sein, als das, welches wir verlassen, nur wissen wir sicher, daß es ein anderes sein muß. Dora erhielt mit jenem Augenblick die Gewißheit, daß die Zeit der Erwartung für sie zu Ende sei.

Der Ruhemoment wurde in diesem Falle geradezu durch körperliche Abspannung herbeigeführt. Frau v. Grubeck hatte die Nacht, ebenso wie manche der voraufgegangenen, fast ganz schlaflos verbracht. Aus einem vor Übermüdung unruhigen Schlummer war sie nach Mitternacht unter Schluchzen aufgefahren. Es hatte sich wieder der Weinkrampf eingestellt, dem sie in letzter Zeit öfter unterlag. Die fieberhafte Sehnsucht, welche in solchen Stunden bis zur Unerträglichkeit wuchs, wurde durch den bittern Trotz verschlimmert, der die gequälte Frau bei dem Gedanken erfaßte, daß dieser unmenschliche Zustand recht eigentlich die Folge und das Ergebnis ihres bisherigen Lebens sei. Darum hatte sie so lange die Widersprüche ihrer Natur gewaltsam unterdrückt, sich in Abgeschlossenheit und künstlicher Ruhe erhalten, um am Ende dennoch die unbezwinglichen Grundtriebe hervorbrechen zu sehen. Sie hatte bis zu ihrem neunundzwanzigsten Jahre jenes Dasein geführt, um nun die Arme krampfhaft nach dem Leben auszustrecken, von dem sie bisher nichts anzunehmen gewagt. – Dazu war, wie eine ausdrückliche Erinnerung an ihr verflossenes Dasein, durch ihr Ankleidezimmer, das die beiden Schlafgemächer verband, das Geräusch, welches ihr Gatte im Schlafe verursachte, zu ihr herübergedrungen.

An diesem Morgen nun hatten sich die Folgen all der seelischen Anstrengungen endlich in einer halben Bewußtlosigkeit geltend gemacht. Dora saß, das kaum berührte Frühstück noch neben sich, fröstelnd am Kamin, in dem ein starkes und schnelles Tannenholzfeuer brannte. Es kam der jungen Frau darauf an, möglichst viel Wärme auf einmal zu erhalten; sie bog sich zuweilen ungeduldig gegen die Glut vor, wenn die kalten Hände, die sie im Schoße ruhen ließ, sich immer noch nicht erwärmen wollten. Dabei schoben sich die weiten Ärmel des Nerz-Jaquets, das sie über dem hellen Morgenkleide trug, zurück und ließen den Feuerschein über ihre feinen, wiewohl etwas zu knochigen Arme, sowie über das Gesicht gleiten, das mit starren Augen und festgeschlossenem Munde in die Glut sah. Dann saß sie aufs neue bewegungslos, die Füße in den schmalen Lackschuhen, an die der schwarzseidene Strumpf über dem Knöchel elegant ansetzte, gegen das Kamingitter gestützt. Ihr Haar, bereits vollständig geordnet, vermochte nicht so wie die meisten Schattierungen des Blond, im Feuerschein Funken zu sprühen. Es bewahrte seinen matten Glanz, gleich der Hautfarbe, die unter der hin und her huschenden Beleuchtung weiß hervorblickte. Das Zimmer erhielt sein Licht nur von dem flackernden Feuer, da die grelle Sonne des Wintermorgens durch doppelte Fenstervorhänge fast vollständig abgewehrt war.

In der tiefen Dämmerung des übrigen Raumes, die sie noch mehr in ihre wohltuende Betäubung einlullte, vermochten die Vorstellungen ihres ermüdeten Geistes kaum an etwas anderes anzuknüpfen als an die Flamme, die sie vor ihren Augen abwechselnd heller leuchten, rauchen, zusammenfallen, wieder aufflackern sah. Und auch dies würde sie ohne Anregung gelassen haben, wenn es nicht Tatsache wäre, daß wir jede vor uns sich abspielende Erscheinung, zumeist unbewußt, mit bestimmten Vorstellungen und Ideen begleiten, die in dem Vorrate unserer früheren, ähnlichen Eindrücke und Erfahrungen bereit lagen und ihrer Anwendung warteten. Jene, uns häufig genug irgendwie von außen eingegebenen Ideenfragmente sind es ihrerseits erst, die die eigentlichen, uns als solche bewußten Empfindungen in uns hervorrufen. Mögen diese uns später den Vorgang als ein starkes Seelenerlebnis erscheinen lassen, wie wenig naiver und ursprünglicher Art sind sie dennoch nur zu häufig gewesen! Sie lassen den uns lieben Anspruch, unser eigenstes Leben zu leben, unberechtigt genug erscheinen.

Wie oft mochte dieser Frau der Vergleich des sich aufbäumenden, spielenden, kämpfenden und ersterbenden Feuers mit den analogen Vorgängen im menschlichen Leben begegnet sein, ehe ihr innerer unbewußter Sinn ihn hier auf die Leidenschaften anwenden konnte, die sie selbst durchlebte. Wie oft hatte sie ihn in sich aufgenommen als Gesprächsphrase, als Scherz, vielleicht als Dichtung. In ihrer Träumerei fanden sich Bruchstücke von Versen zusammen, die ihr in ihrer New Yorker Zeit ein junger Mann, der eine Weile in ihrem engeren Kreise gelebt, in einer Gesellschaft, auf ein Zettelchen geschrieben zugesteckt hatte. Der junge Dichter spielte darin mit einer Stimmung, die so, wie er sie ausdrückte, niemals zwischen ihnen bestanden. Da sie jedoch nicht ungeschickt wiedergegeben war, hatte Dora sich, ihrerseits mit dem Dichter spielend, gern in sie hineingeträumt. Sie hatte das Gedicht damals häufig genug gelesen, um es auch jetzt noch, ohne sich des Wortlauts bewußt zu werden, gleichsam mit der Seele zu überschauen.

»Du aber streutest die welken Zweige

Gedankenlos lässig in den Kamin …

Der warme Winter ging zur Neige,

Ein kühler Frühling ließ weiter mich ziehn.

Wir saßen einander genüber am Feuer,

Wie oftmals, in unsere Sessel geschmiegt;

Nur daß es zuletzt war, es wärmt uns kein neuer

Glutwirbel nach dem, der dort verfliegt.

Ich dachte, indes wir Beide verstummten,

Wie hoffnungslos so in Asche sank,

Was die Flammen – wie oft! – ins Ohr uns summten

Das Glück ein ganzes Leben lang.

Ich dachte, es wäre wieder zu bringen

Nicht mehr von dem Leben, das hier entschwand,

Als von dem der welken, zu frühen Syringen,

Die zerknickt Deine schmale, blasse Hand.

Du aber streutest die welken Zweige

Gedankenlos lässig in den Kamin –

Und es war, wie wenn aus der Asche steige,

Was für uns Beide gestorben schien.

Wir sahen uns an und wußten, die Flammen,

Die Sträuße, die ihre sinkende Nacht

Noch einmal erhellten, sie hatten zusammen

Uns Beiden den nämlichen Wunsch entfacht.

Sie hießen uns, unsere Abschiedswehen

Vereint zu letztem Glück zu weihn;

Es sollte das Auseinandergehen

Eine letzte Liebeserfüllung sein.«

So vage und unausgesprochen dies alles blieb, so verdichtete sich doch die dadurch genährte, scheinbar gegenstandslose Stimmung so weit, bis am Ende eine ganz bestimmte Tendenz sich in der seelischen Verfassung der jungen Frau klargestellt hatte. Sicher würden wir erschrecken, wenn unser Bewußtsein nach Beendigung eines solchen inneren Vorganges noch die unsicheren, wenig bedeutenden Elemente festzustellen vermöchte, die häufig den Grund bilden, aus welchem unsere wichtigsten, verhängnisvollen Schlüsse hervorwachsen. Wahrscheinlich würden wir uns nur noch inniger an den Glauben klammern, daß es eine Schicksalsmacht ist, die mit zufälligen oder doch für uns nicht zu unterscheidenden Mitteln uns hier wie überall zu dem von ihr vorherbestimmten Ziele leitet.

Tatsächlich war der Entschluß, der Dora, als sie endlich aus ihren Träumereien aufgestört wurde, als Ergebnis derselben vor Augen stand, und den sie noch am selben Tage zur Ausführung brachte, ähnlich bedeutend dem, in welchen jenes Gedicht ausklang.

Da der Beginn der Oper in die tägliche Dinerstunde fiel, so pflegte man an Theaterabenden frühzeitig etwas zu sich zu nehmen und die Mahlzeit nach der Vorstellung durch einen Imbiß zu vervollständigen. Indes hatte heute nur Wellkamp auf seinem Zimmer flüchtig gespeist. Dora fühlte sich trotz der großen Schlaffheit, die ihr noch immer die Glieder lähmte und den Kopf einnahm, nicht imstande, auch nur das Glas mit rotem Wein zu leeren, das sie auf den niedrigen Spiegeltisch ihres Toilettezimmers hatte setzen lassen. Sie hatte früher als gewöhnlich und ohne Hilfe der Jungfer begonnen, sich anzukleiden. Es war dies die einzige Beschäftigung, die sie ablenken und voll in Anspruch nehmen konnte. Dieser Raum, in dem sie sich zwischen Spiegeln und Tischen von verschiedenen Formen bewegte, welch letztere mit den zahllosen unscheinbaren und notwendigen Toilettegeräten bedeckt waren, besaß für sie etwas von der ruhigen Abgeschlossenheit und der Fähigkeit anzuregen eines Arbeitskabinetts. Sie verwandte heute auf jede Einzelheit eine so ängstliche Aufmerksamkeit, daß es sie, wenn sie es gelegentlich wahrnahm, selbst unwillig machte. Dann warf sie sich wohl auf das breite, bequeme Ruhepolster, welches eine Seite des kleinen Gemaches einnahm, um Beunruhigung zu suchen, bis hinter ihren geschlossenen Lidern von neuem die Vision des dicht Bevorstehenden, Unvermeidlichen auftauchte, auf das sie geradeswegs zuging, und das sie dennoch bis zum letzten Augenblicke nicht zu sehen wagte. Sie sprang auf und setzte ihre Toilette fort. Endlich war nur mehr eine weiße Rose als einziger Schmuck in dem mit kunstvoller Schlichtheit geordneten Haare zu befestigen. Hatte sie die Blume ungeschickt berührt? Aus der Knospe, die kaum begonnen, sich zu öffnen, hatte sich bereits eines der zarten Blätter gelöst und flatterte langsam zuerst auf die Schulter der jungen Frau, dann zu Boden. Es mußte eine von den Rosen sein, die sich unnatürlich lange nicht zu erschließen vermögen, um endlich, ohne ein äußeres Verdorren, in voller Schönheit und noch als halbe Knospe alle ihre Blätter zu verlieren. Dora wollte nach einer anderen Blume greifen, doch sie ließ es; ihre Geduld war erschöpft, und es wurde Zeit, bereit zu sein. Zwischen den hohen Spiegeln, die schräg einander gegenüberstanden, musterte sie sich noch einmal von Kopf bis Fuß. Über die fast durchsichtig lichtgraue Robe legte sich harmonisch der weiße Atlas der Sortie mit seinem leise wogenden Schwanenfederbesatz. Als Frau v. Grubeck mit Hilfe des Handspiegels noch einmal aufmerksam ihr Gesicht betrachtete, das sie bisher genauer zu prüfen vermieden, erstaunte sie selbst über den fast fieberhaften Glanz ihrer Augen, der dem sonst matten Ausdruck ihrer Züge widersprach. Ein schlaffer Zug um die Nasenflügel schien ihr allzu scharf ausgeprägt, die bläulichen Adern unter den Augen allzu deutlich sichtbar. Sie hielt bereits den Puderquast in der Hand, legte ihn aber wieder beiseite. Wozu die Wirklichkeit jetzt noch verleugnen? Mochte er sehen, was sie um ihn gelitten. In der Stunde, bevor sie sich auf Gnade und Ungnade ergeben sollte, ward sie von der eigentlichen weiblichen Weichheit und Passivität ergriffen. Sie fühlte sich zu müde und abgehetzt, um noch zu trotzen und sich gegen irgendetwas oder irgendjemand zu empören. Und was das Schuldgefühl betrifft, so gibt es Augenblicke, wo es notwendig tödlich wirken müßte, wenn es Einfluß gewänne.

Sie betrat mit Wellkamp, der ihr, ohne sie anzusehen, die Tür öffnete, zusammen das Speisezimmer, um sich von ihrem Gatten zu verabschieden, der mit Anna bei der Mahlzeit saß. Noch an ihren langen Handschuhen nestelnd, war sie mit ihrem Begleiter mehrere Schritte vor dem breiten Speisetisch stehen geblieben. Auf Herrn v. Grubecks Anordnung, der tagsüber seine Augen angestrengt, war die Beleuchtung auf eine kleine japanische Lampe beschränkt, die ausschließlich dem Tische ihr Licht gab. Die beiden hohen Figuren, die Dame ganz hell gekleidet, der Mann in schwarzem Gesellschaftsanzug, konnten, wie sie dort im Schatten neben einander standen, so daß für die Anderen, im Licht Sitzenden die Konturen ihrer modernen Toiletten verschwammen, den Eindruck machen, als seien sie aus einem alten Gemälde hervorgetreten. Die dunkle Holztäfelung des Speisesaales bildete den charakteristischen Hintergrund. Der Major machte eine dahingehende Bemerkung.

»Findest Du es nicht auch?« fragte er seine Tochter.

Anna stimmte schweigend zu. Sie hatte beim Anblick der Beiden eine blitzschnelle Regung wie von Angst und Abneigung zugleich gehabt. Es zitterte noch in ihr nach, ohne daß sie ahnte, was es sei. Wie viel später und nach wie vielem das sich inzwischen ereignet, sollte ihr die Vermutung kommen, daß dies die Eifersucht gewesen. Das unwürdige Gefühl hatte ihre vornehme Natur dieses einzige Mal, wie mit einem gehässigen Biß, angefallen. Die junge Frau glaubte nicht anders, als infolge der heutigen Szene mit ihrem Gatten nachträglich von einer unedlen Regung überrascht worden zu sein. Die im Zimmer herrschende Dämmerung begann ihr unheimlich zu werden. Unwillkürlich erhob sie sich und entzündete mit einer Handbewegung den elektrischen Draht in der Krone über dem Tische.

»Wie bleich Du bist«, sagte ihr Vater, als ihr Gesicht unter dem aufblitzenden Lichte erschien.

»Es ist gut«, fügte er hinzu, »daß Du Dich rechtzeitig entschlossen hast, zu Hause zu bleiben.«

»Du gehst hoffentlich früh zur Ruhe«, riet Wellkamp, der es gut fand, noch den leicht verletzten und verletzenden Ton von heute morgen beizubehalten.

»Bleib nur nicht auf, uns zu erwarten. Es könnte zu spät werden.«

Dora schauerte zusammen. Sie meinte in seinen Worten eine Absicht zu bemerken, die sie zu verdecken suchte.

»Wir werden wohl vor Schluß nach Hause kommen«, sagte sie. »Ich bin ziemlich müde.«

Selbst dieses kurze Lebewohl hatte sie nur durch eine äußerste Anstrengung ermöglicht. Einen Augenblick glaubte sie sich von ihren Kräften verlassen, die erst während der Fahrt langsam zurückkehrten. Sie fühlte sich freier, je mehr sie sich vom Hause und von den dort Zurückgebliebenen entfernte, deren sie bedrückende Existenz sie wenigstens für diesen Abend vergessen wollte an der Seite des Mannes, auf den zur Zeit ihr ganzes Leben gestellt war. Wie durch die Wagenfenster nur ein dichter Abendnebel zu ihnen hereinblickte, so hatte ihr Gefühl um sie her etwas wie einen Dunstkreis gelegt, durch den alles Fremde nur verschleiert und wesenlos bis zu ihnen Beiden zu dringen vermochte. Auch ward die Einsamkeit, die sie umgab, nur noch empfindlicher, als sie von der dunkeln Loge auf die Menschenmenge hinunterblickte, aus der keiner sie kannte, niemand etwas von ihr wußte, noch sie beobachtete, während die Vorgänge auf der Bühne, die bereits begonnen, nur den Eindruck von etwas Traumhaftem, weit Herüberkommenden auf sie machten. Es waren nichts als wirre Begleiterscheinungen einer Musik, welche sie nach und nach in einen Rausch versetzte, der vielleicht der erste und letzte ihres Lebens war. Die Augenblicke, in denen sich ein Leben wie das dieser Frau einmal zu solcher Hohe und Rücksichtslosigkeit des Gefühls erheben darf, sind durch Bedrückungen und Tiefen, die ihnen vorausgingen und nachfolgen, durch Kämpfe und Leiden kostbar gemacht. Vielleicht, daß jemand, der ihr Entstehen und ihren Verlauf zu überblicken vermöchte, sich der Wehmut bei diesem traurigen Glück nicht enthalten könnte.

Wellkamp empfand unbestimmt etwas ähnliches, wenn sie, die seinen Hauch an ihren Nacken wehen gefühlt, sich wendete und die Bemerkung, die er ihr zuzuflüstern hatte, von seinem Munde mit Augen absah, deren Größe und Glanz ihm fieberhaft erschien. Sie lächelte ihm zu mit einem Ausdruck, als verstehe sie nichts, als er sagte: »Es ist fast zu viel.« Tatsächlich brachte die Musik auf ihn eine förmlich entnervende Wirkung hervor. In der Begleitung der Venusbergszene mit den aus dem Brausen des Orchesters sich losringenden, tollen Violinwirbeln, die durch einfallende Trompetenmotive immer maßloser gesteigert wurden, erreichte am Ende die Leidenschaft einen Grad, wo sie für ihn in seltsamer Weise unerträglich wurde. Er mußte sich in dem Augenblicke, wo er selbst im Begriffe stand, ein neues Glück an sich zu reißen, machtlos fühlen vor der Gewalt der Empfindung und der ungeheuren Lebensenergie, die hier auf ihn eindrang. Er kam sich dem gegenüber fast alt und jedenfalls zu wenig naiv vor, um sich noch immer mit solch voller Überzeugung einer Leidenschaft hinzugeben. Es war das erste Mal, daß er eine neue Verbindung gleichsam mit der leisen Bitterkeit auf der Zunge einging, die der Vorgeschmack des Endes ist. Und wer ein Ende absieht, ist nicht mehr jung. Wie wenig das ehemals seine Art gewesen war! Er hatte in jeder neuen Liebe zugleich einen Halt, eine Gewißheit und etwas Dauerndes erblickt, stets wieder enttäuscht und aufs neue vertrauend. Jetzt erschien es ihm in tieferem Sinne kaum noch die Mühe lohnend, zu beginnen, so unmöglich er andererseits einen Rückzug gefunden hätte. Alles in ihm drängte und rief danach, die geliebte Gestalt dort vor ihm an sich zu reißen und festzuhalten – aber er fand es nutzlos und nahezu albern, als ihm einmal der Einfall kam, auch nur mit seinem Finger ihre feine, biegsame Taille zu berühren, die von der herabgeglittenen Sortie anmutig umrahmt wurde.

Es war dies genau die Wirkung, welche die Musik auf ihn übte: das höchste Glücksverlangen verband sich mit der Entmutigung, die der Anblick einer solchen unerreichbaren Erfüllung, wie des hier Dargestellten, in ihm hervorrief. Dies machte zusammen eine ungeduldige, unfruchtbar gereizte Stimmung aus. Es drückte ihn wie eine geheime Ratlosigkeit, die erst aufgehoben wurde, als nach des Tannhäusers erlösendem Schrei mit dem Szenenwechsel der Charakter der Musik von der empörtesten, dämonischen Leidenschaft sich in die keusche Lieblichkeit des Hirtenliedes verwandelte. Wie sich dieses mit dem langsam näher tönenden Pilgerchor untermischte, berührte diese Verbindung den noch soeben unter dem heftigsten Widerstreit der Gefühle Leidenden wie ein Balsam von heiliger Einfalt, dergestalt, daß er sich nur mit Mühe der Tränen zu enthalten vermochte. Die sanfte Romantik, die damit in ihm erwacht war, zog ihn nun wieder auf besondere Weise zu Dora. Wie schon früher, fühlte er jetzt von neuem, wie die mystische Empfänglichkeit als ein wechselseitig empfundenes Band zwischen ihnen Beiden bestand. Er war sicher, daß die Schauer, die ihn in diesem Augenblick berührten, auch durch ihr Blut gingen. Mit gleich instinktiver Sicherheit aber verschwiegen sie sich Beide diese Gewißheit, da sie ahnten, daß sie nur unausgesprochen den gemeinsamen Wert haben konnte, ihr Gefühl zu befruchten.

So saßen sie auch nach Beendigung des Aktes im dunkeln Hintergrund der Loge, von niemand beobachtet, schweigend bei einander. Er hatte sich, einen Arm aufs Knie gestützt, auf ihre Hand niedergebeugt, die er wieder und wieder küßte, nicht stürmisch, sondern mit leichter Selbstverständlichkeit oder mit träumerischer Ruhe. Es war dies bei dem stillen Einverständnisse, das von Anfang geheim und jetzt mit ihrem vollen Bewußtsein und rücksichtslosen Willen zwischen ihnen bestand, die einzige Erklärung, welche Zweck und Bedeutung besaß. Dora nahm sie ohne eine Antwort entgegen, den schlanken Körper steif, wie um sich Haltung zu geben, in dem geradlehnigen Sessel emporgereckt, während die Augen, gleich unsichern Sternen in dem ganz beschatteten Gesicht, mit Mühe einen Punkt des Vorhangs fixierten, und die Muskeln ihres Gesichtes sich gewaltsam zur Ruhe zwingen mußten unter dem fast unwiderstehlichen Drängen der im Leben dieser Frau so lange unbekannten großen Leidenschaft.

Der zweite Akt gab ihnen nicht den vorhergegangenen gleichwertige Anregungen, doch vermochte sich Wellkamp bei seinem gerade jetzt wieder belebten romantischen Hange mit starker Empfindung in die Schönheiten der mittelalterlichen Welt zu versenken, aus welcher der Empfang auf der Wartburg einen so reizend anmutenden Ausschnitt gab. Er genoß den Anblick jener feinen und stolzen Kultur mit ihren vornehmen und freien Rangabstufungen, wie sie sich in den verständnisvoll inszenierten Einzelheiten dieses Empfanges zeigte, in mehr oder weniger bewußtem Gegensatze zu Geist und Formen der modernen Zeit. Gehörte er doch zu der wachsenden Zahl derer, die ihr verletztes und unbefriedigtes Gefühl in der heutigen Welt ihren Platz einzunehmen, unlustig oder auch wohl untauglich macht. Dieses Gefühl leitete am Ende ebenso wohl seine künstlerische Empfindung und sein religiöses Bedürfnis, wie es andererseits seine Lebensauffassung, ja seine politische Parteinahme bestimmte. Bei desinteressierten Existenzen, deren geistige Persönlichkeit, so wenig wie dies überhaupt möglich ist, von zwangsweise geduldeten Schranken und Einflüssen durchkreuzt und behindert wird, läßt sich dieselbe tatsächlich zuweilen mit allen ihren Äußerungen auf eine solche Grundtendenz zurückführen.

Indes ward die Aufmerksamkeit des jungen Mannes abgelenkt, als er Dora sich wiederholt ermüdet zurücklehnen sah. Die Musik habe sie doch noch stärker angegriffen als sie gemeint, sagte sie. Er zog die Uhr. »Es ist kaum zehn.« Ihr Blicke trafen sich, sie schlug den ihren nieder. Jedes hatte den Gedanken des Anderen verstanden, daß man nicht heimkehren dürfte, bevor man nicht sicher wäre, die Zurückgelassenen nicht mehr vorzufinden. Dann wandten sie wieder eine scheinbare Aufmerksamkeit den Vorgängen auf der Bühne zu.

Sie verweilten auch noch in der Pause, während welcher sie mit gezwungener, zuweilen leicht zitternder Stimme gleichgültige Bemerkungen über die Vorstellung austauschten, und den größten Teil des letzten Aufzuges. Gegen elf und kurz vor der abermaligen Verwandlung zur Venusbergszene, die Beide in diesem Augenblick scheuten, brachen sie auf. Die Bewegung, mit der Wellkamp die Geliebte in den Wagen hob und sich an ihrer Seite niederließ, war die erste, durch welche er gleichsam von ihr Besitz ergriff, durch welche er sie und sich selbst fühlen ließ, daß sie voll und ohne Störung zu einander gehörten.

In der Dunkelheit des Wagens glaubte er einmal einen tiefen Atemzug zu hören, der in ein leises, leises Schluchzen ausklang. Er ergriff mit zärtlicher Bewegung ihre beiden Hände, welche ängstlich kalt waren und bei seiner Berührung erzitterten.

»Du hast Furcht?« fragte er, und keines von ihnen beachtete dieses erste Du.

»Warum?«

»Weil ich Dich lieb habe.«

Ihre Stimmung ward erst wieder heimlicher, als sie, in den Flur des Hauses eintretend, alles bereits dunkel fanden. Wellkamp geleitete die junge Frau, die dennoch, obschon nur aus körperlicher Müdigkeit, zuweilen den Schritt verzögerte, mit zärtlicher Sorgfalt die Treppe hinan. Auch droben waren, außer einer weit heruntergeschrobenen, alle Flammen ausgelöscht. Er machte Licht, sodann war er Dora behilflich, ihre Toilette zu ordnen. Sie waren zusammen vor den Pfeilerspiegel der Vorhalle getreten, in dem ihre Blicke einander suchten. Er sah ihr mit einem leise fragenden Lächeln in die Augen, in denen jener traurige Fieberglanz einer leichten zärtlichen Koketterie Platz zu machen begann. Dankbar streifte er mit seinen Lippen ihre Schulter. Dann tasteten sie sich zusammen durch das ganz düstere Speisezimmer, in welchem sie aus einem Winkel von einer winzigen blauen Flamme her das Summen des Teekessels begrüßte. Als Wellkamp hier sowie nebenan in Doras Boudoir das Licht entzündet hatte, setzte er sich still auf seinen Platz am Speisetisch, um der Geliebten zuzusehen, die den Tee herrichtete. Den Kopf in die Hand gestützt, folgte er ihren Bewegungen, wie sie ging und kam. Als sie endlich mit seiner Tasse auf der silbernen Platte vor ihm stand, griff er nicht sogleich zu. Er sah zu ihr auf; ihr Gesicht hatte durch die langen Wimpern, welche über ihre zu ihm gesenkten Augen hingen, einen Ausdruck wie das einer Schlafwandelnden erhalten. Als er ihren Blick gefunden, sagte er ihr, daß sich ihr Haar, wohl beim Hutabnehmen, ein wenig gelöst habe. Er war entzückt, einen wie reizend intimen Ausdruck es so ihrer Gestalt gäbe. Sie wollte es wieder ordnen, dabei erfaßte sie die Rose, die nur noch locker darin hing, und nun vor ihn hin auf das Tischtuch fiel. Sie hatte noch mehr Blätter verloren; er bog die, welche sie noch besaß, auseinander und küßte sie einzeln. Dann nahm er auf gleiche Weise Doras schlanke Finger in seine Hand, um jeden zu küssen, wie wenn er nochmals eine Rose entblätterte. Sie bat ihn, sie loszulassen; sie fürchtete, das Teegeschirr fallen zu lassen, das sie noch immer mit einer Hand hielt. Als er ihr nicht gleich willfahrte, berührte sie schnell, mit reizender, halb mädchenhafter Bewegung, mit den Lippen seine Stirn. Darauf gab er sie frei.

Sie saßen lange, während der Mahlzeit und nachher, einander gegenüber. Allmählich begann er ihr von seinem früheren Leben zu erzählen, harmlose Kleinigkeiten, denen sie mit stiller Aufmerksamkeit zuhörte. Zuweilen anknüpfend, teilte auch sie ihm Erlebnisse und Eindrücke aus ihrer Heimat und aus vergangenen Tagen mit. Keines von ihnen gedachte der jetzigen Verhältnisse; es war, als hätten sie alles vergessen, was sie trennte, und seien sich nur dessen bewußt, was sie zusammenhielt, ihrer Liebe.

Viel später sollte Wellkamp, und niemals ohne Herzklopfen, sich dieser friedlichen Augenblicke als des einzigen, wehmütigen Glückes erinnern, das ihm diese traurige Verbindung geschenkt. Er fragte sich dann wohl, ob jene Liebe nicht doch von der Art gewesen sein müsse, die ein, wenn noch so winziges Korn des Heiligen in sich trägt; nur daß dieses, unter der unfreundlichen Hand des Schicksals, nicht hatte sprießen dürfen. Er hätte es sonst als ein Rätsel empfunden, wie aus dem Untergrunde von Schuld und Leiden, auf dem jene Verbindung ruhte, ein Idyll, wie dieses, hatte erblühen können.

Heinrich Mann - Gesammelte Werke

Подняться наверх