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führt, das Gott für sie geschaffen; sie fanden alles fertig vor, und alles war für sie.

Auch waren sie damit einverstanden, als Herr v. Grubeck ihnen eines Tages einen Besuch der Gemäldeausstellung – es war eine soeben eröffnete Aquarell- und Pastellausstellung – vorschlug, da doch die Auswahl einiger Bilder unumgänglich nötig sei. Dann war es wie immer, so auch hier staunenswert, wie rasch und mühelos sich das Auge eines jeden in der Menge der ausgestellten Kunstwerke zurechtfand, um nach flüchtigem Vorbeigleiten an dem meisten eben auf dem haften zu bleiben, was den eigentümlichen Bedürfnissen der Seele entsprach. So war nach einem kurzen Rundgang durch die verschiedenen Räume Wellkamp an den Eingang des Hauptsaales zurückgekehrt, wo er sich in ein Gemälde Gabriel Max’ vertiefte, dessen vergeistigte und doch so sinnlich wirksame Art in der blassen und zarten Ausführung des Pastells in erhöhtem Maße zur Geltung gelangte.

Inzwischen verweilte Anna vor einigen italienischen Aquarellen, Szenerien vom Canalo grande oder vom genuesischen Golfe. Über den bunten und heiteren Farben schien die geheime Melancholie des bloß vegetierenden Lebens zu liegen, indes nur wie ein ungewisser Duft und jedenfalls mehr gefühlt als gesehen. Dann wurden beide junge Leute von dem Major an den Platz geholt, den er eingenommen hatte, »um seine Studien zu machen«, wie er sagte. Es waren die Dessins von Illustrationen der »Fliegenden Blätter«, und auch die beiden anderen mußten die feine und anmutige Koketterie dieser Tusch- und Federzeichnungen bewundern. Der Major behauptete, nirgends für seine eigene Kunstübung so viel lernen zu können, wie an diesen scheinbar leicht hingeworfenen Skizzen, die für ihn technische Offenbarungen enthielten. Wellkamp und Anna gingen lebhaft interessiert auf die Bemerkungen des alten Herrn ein, auch erwähnten sie sodann die Stücke der Ausstellung, welche sie selbst besonders gefesselt. Aber weder er noch sie ließen sich näher über die Art des Genusses, den sie ihnen gewährt, aus. Anna mochte wohl zu der Zahl der feiner gebildeten Beschauer gehören, denen es widerstrebt, ihre Empfindungen vor einem Kunstwerke in die dem großen Publikum geläufigen Urteile und Ausrufe zu kleiden, während ihnen zugleich der echte und persönliche Ausdruck dafür versagt ist. Wellkamp seinerseits hätte sich niemals entschließen können, die tiefen seelischen Erregungen, welche ihm zuweilen ein Kunstgenuß verschaffte, durch eine Aussprache, zumal in den Augenblicken wo er sie empfing, preiszugeben. Er hätte dies als eine Entweihung angesehen, so sehr hatte er sich, trotz seines abnutzenden äußeren und inneren Entwicklungsganges – oder aber gerade wegen desselben – in dieser Hinsicht eine empfindliche seelische Keuschheit bewahrt.

Man mußte schließlich, da die Zeit des Diners gekommen war, aufbrechen. Während der Major von seinen Lieblingen Abschied nahm, hatte Wellkamp, der sich bereits zum gehen gewandt, unweit jener Skizzen, die ihn bisher von dem übrigen Inhalt des Saales abgehalten, ein Bild entdeckt, das im gleichen Augenblicke seine volle Aufmerksamkeit in Anspruch nahm. Dies geschah sogar in der Weise, daß er mit unwillkürlich weiter geöffneten Augen und mit einer seltsamen Spannung seines Empfindens, welche sich nach und nach zu einem förmlichen Grauen steigerte, an das Gemälde herantrat. Diese Wirkung konnte wohl durch den absonderlichen Stoff, welcher hier behandelt war, hervorgebracht werden, sie war es aber sicherlich noch weit mehr durch die das in jenem vorhandene Unheimliche noch steigernde Auffassung des Künstlers. Vor einer elenden Bauernkate, deren schmutzig braune Umrisse kaum durch den dichten, alles einhüllenden Nebel hindurchdrangen, stand ein Weib, das mit einer Miene namenlosen Entsetzens vor sich in die dicke graubraune Luft hineinstarrte. In derselben zeigte ihr »das zweite Gesicht« die Gestalt eines Mannes in bäurischer Tracht, jedenfalls ihres Gatten – vielleicht als eine Mahnung des Verstorbenen, vielleicht als Todesahnung. Die Figur hob sich nicht eigentlich in der Art einer Geistererscheinung von dem Nebel ab, sie schien vielmehr ein Gebilde dieser Luft selbst und nicht aus ihr herauszulösen. Es wurde hierdurch beim Beschauer der Eindruck bewirkt, die Luft, sowie die ganze Natur, welche sie ausfüllte, und das ganze Leben in dieser Natur vergespenstigt zu sehen. Das Ganze erschien spirituell und unkörperlich, und es mußte fast unbegreiflich dünken, wie dies mit den sinnenfälligen Mitteln der Malerei hatte erreicht werden können: auch dies mochte zu jener ersten starken Wirkung, die das Gemälde auf Wellkamp gemacht, beigetragen haben.

Letzterem blieben zur Betrachtung nur wenige Minuten, aber die seltsame Eindringlichkeit des Geschauten hatte ihn für den Heimweg schweigsam und nachdenklich gemacht. Während man im Boudoir Frau v. Grubecks die Meldung, daß angerichtet sei, erwartete, berichtete der Major seiner Gattin von der Ausstellung. Seine Stimme bekam, wenn er von der von ihm bevorzugten Kunst sprach, jedesmal eine wärmere und fast jugendliche Klangfarbe. Er redete sich auch diesmal so in Feuer, daß er schließlich Dora zu einem Besuch der Ausstellung aufforderte, wiewohl er wissen konnte, wie vergeblich es war, sie zu einer Wanderung durch sechs oder acht Säle veranlassen zu wollen. Der Major liebte die Malerei mit einer scheinbar ganz aus seinen übrigen seelischen Dispositionen herausfallenden Inbrunst, mit der alternde und unter der Erkaltung ihres Lebens leidende Menschen sich an die Heiterkeit, die Wärme und Fülle der Kunst klammern können, die ihnen ein neues und letztes Sinnbild gewährt.

Eben als sie in das Speisezimmer – ein dunkel getäfeltes Gemach, in dem ein einfallendes Licht den darunter stehenden Tisch zweckmäßig beleuchtete – hinübergingen, fragte der alte Herr seinen Schwiegersohn nach dem, was diesen in seinen Gedanken noch immer beschäftigte.

»Was war denn das eigentlich, wovor Sie ganz zuletzt stehen geblieben waren, es schien Sie sehr zu interessieren. Ich bin nicht mehr dazu gekommen, es mir anzusehen. – Übrigens müssen wir ja ohnedies noch einmal hin, wenn wir bei unserem Vorsatz bleiben, uns etwas zum Ankauf auszusuchen.«

Während man sich zu Tische niederließ, hatte der Angeredete die Absicht, seine Antwort in der augenblicklichen Gesprächspause verschwinden zu lassen und auf einen anderen Gegenstand überzuleiten. Doch verspürte er plötzlich die Lust, zu sehen, welchen Eindruck die Beschreibung jenes eigenartigen Bildes auf Andere hervorbringen würde. Er meinte dabei besonders an Anna zu denken – dennoch glitt sein Blick, wie er nun mit Worten, die ihm durch eine lebendige, greifbare Vorstellung eingegeben wurden, die Schilderung jenes »Zweiten Gesichtes« gab, unvermerkt zu Dora hinüber. Und während er noch sprach, konnte er, mit einer seltsam neugierigen und widerwillig freudigen Empfindung, die unendlich nervöse Wirkung, welche er dem Gegenstande seiner Schilderung zuschrieb, auf dem Gesichte der jungen Frau wahrnehmen. Wie noch vor wenig mehr als einer halben Stunde die seinigen, so öffneten sich nun, unvermutet rasch, wie vor einer das ganze Wesen eines Menschen tiefinnerlich berührenden Überraschung, ihre Augen und ließen Wellkamp zum ersten Male eine eigentümlich wasserhelle Iris sehen, unter welcher in diesem Augenblicke aus einer rätselhaften dunkeln Tiefe des Auges hervor winzige goldglänzende Funken zu sprühen schienen. Es war eine Wahrnehmung von wenigen Sekunden, dann sanken die breiten Augenlider wieder herab, und zugleich mußte Wellkamp sich der anderen Seite zuwenden, da Anna ihn, zum ersten Male seit ihrer Rückkehr von der Ausstellung, anredete.

»Es mag sehr gut gemacht sein«, sagte das junge Mädchen in auffällig kurzem und entschiedenen Tone, »aber ich meine, daß die Kunst besser daran täte, sich nicht mit der Pflege derartig romantischer Empfindungen abzugeben, die für unsere Zeit nicht nur überfällig, sondern hinderlich sind.«

»Aber ich denke«, erwiderte Wellkamp, der in der Überraschung bei der energischen Stellungnahme seiner Braut seine eigene, sonst beobachtete Vorsicht in der Äußerung Widerspruch erregender Meinungen vergaß – »aber ich denke, daß die Kunst, wenn sie nämlich überhaupt irgendetwas ›soll‹, es sich zur allerersten Aufgabe machen muß, die übersinnlichen Vorstellungen, die für das Kulturleben unentbehrlich sind und bleiben, zu unterhalten.«

Mochte Anna dadurch, daß sie in jenem kurzen Augenblick die Wirkung der von ihr kritisierten Vorstellungen, durch die Erzählung ihres Verlobten hervorgerufen, in dem Auge der ihr verhaßten Frau gesehen, erregt sein: der Klang ihrer Stimme war in ihrer neuen Antwort noch härter als vorher, und es mischte sich sogar etwas wie Spott hinein.

»Ach! Du bist also Reaktionär?«

»Wenn’s nur gut gemalt ist!« Der Major versuchte, durch eine Wiederholung dieses Lenbachschen Wortes das Gespräch, welches in gefährliche Bahnen zu laufen schien, zurückzulenken. Die beiden jungen Leute drohten auf eine unheimliche Weise, politisch zu werden, was Herr v. Grubeck immer für unnütze Aufregung gehalten hatte. Er selbst war immer pflichtgemäßer Christ und Monarchist gewesen, ohne vor einigen dem Liberalismus zu machenden Zugeständnissen, die er seiner Zeit schuldig zu sein glaubte, zurückzuschrecken.

Wellkamp seinerseits war in der Tat »Reaktionär«, und zwar in der besonderen Weise, wie diese Richtung der Gesinnungen neuerdings Leute, welche die mehr verborgenen Zeitströmungen zu fühlen, seelische Organe besitzen, nach sich zieht. Die Reaktionäre dieser Art werden häufiger, je mehr in neuer Zeit der Liberalismus seinen ehemaligen Ruf, die Partei der Gebildeten zu sein, verliert. Vor dem Niedergange des Liberalismus nun, seiner Auflösung in die Pöbelherrschaft des Geldes, schrecken jene feiner organisierten und meist auch ästhetisierenden Menschen ebenso heftig zurück, als vor dem Hereinbrechen der ihre Instinkte nicht weniger verletzenden reellen, handgreiflichen Pöbelherrschaft. Dabei trifft sie, mit ihren Sympathien für eine vornehme, größer gesinnte Zeit, der Fluch der seltsamen Ironie, daß ihre aus eben dem Liberalismus, den sie bekämpfen, hervorgewachsene Bildung ihnen nicht gestattet, an die Möglichkeit zu glauben, als würde sich die Welt heute, mit einer willkürlichen Unterbrechung ihres unvermeidlichen Entwicklungsganges, auf einen einmal überwundenen Kulturstand zurückführen lassen. So sind sie nichts weniger als ursprüngliche, geborene Konservative. Ihr Verhältnis zu diesen letzteren wird vielmehr dadurch bezeichnet, daß sie nicht »noch«, sondern »aufs neue« konservativ sind.

Unter einem ähnlichen inneren Widerspruche leidet ihr Verhältnis zur Religion, da sie, ohne selbst durchaus gläubig zu sein, es für ihre Forderung erklären, daß »dem Volke die Religion erhalten bleibe«. Wenn sie in letzterer allerdings eine erste und am letzten Ende vielleicht die einzige Stütze der bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse erblicken, so würden sie es doch andererseits mit Recht leugnen, aus bloßen Nützlichkeitsrücksichten dem Volke eine seelische Nahrung bewahren zu wollen, von der ihnen selbst bekannt wäre, daß sie verfälscht sei. Wohl werden sie, ihrem Bildungsgange entsprechend, mehr oder weniger wissenschaftlich unterrichtet und überzeugt sein; aber eben die Wissenschaft muß sie, je ernster sie ihr Bewußtsein ergriffen hat, desto eindringlicher daran erinnern, daß ihr selbst die letzten, entscheidenden Fragen immer unlösbar bleiben werden. Und unter den Vermutungen, mit welchen diese einzig beantwortet werden können, ist die religiöse, zu welcher sie auf solche Weise zurückkehren, eine so schöne und für die Mehrzahl der Menschen befriedigende. Vielleicht auch, daß viele von ihnen es zuerst an sich selbst erfahren, wie sehr das von der Zeit niemals abgeschwächte Bedürfnis der Seele nach den Vorstellungen und Hoffnungen verlangt, welche die Religion verleiht.

Wellkamp hatte sich über alles dies niemals ausdrücklich Rechenschaft abgelegt. Er hatte selbst keine Ahnung, wie stark er innerlich an den von Anna berührten Gegenständen interessiert war, und so mußte ihn der Eifer, mit dem er auf ihre herausfordernden Bemerkungen einging, selbst überraschen. Doch vermochte er das junge Mädchen durch ein Andeuten seiner Absichten jetzt nicht zu einer weiteren Darlegung der ihrigen zu veranlassen. Es schien ihm, daß sie ihm eine Erläuterung in Abwesenheit von Zeugen zu geben wünschte. Mit ihren Gedanken beschäftigt, ließen die beiden jungen Leute während des Restes der Tafel den Major fast allein das Gespräch unterhalten. Während er und seine Gattin sich nach Beendigung der Mahlzeit in ihre Zimmer zurückzogen, begaben sich Anna und Wellkamp in stillem Einverständnisse gemeinsam in den, Doras Boudoir gegenüber, auf der anderen Seite des Speisezimmers gelegenen kleinen Salon, Annas gewöhnlichen Aufenthalt, wo sie sich ungestört über ihr Verhältnis zu den angeregten Fragen verständigen konnten. Der Major kam noch einmal herüber, um sich zu erkundigen, ob man nicht eine Tasse Tee nähme. Als diese abgelehnt ward, entfernte sich der alte Herr, dem es schließlich bei dem Charakter seiner Tochter unumgänglich dünken mochte, gelegentlich die Geister aufeinanderplatzen zu sehen.

Der Vater besaß, wie in den meisten ähnlichen Fällen, mehr Verständnis für die Art seines Kindes, als dieses selbst ihm zuschrieb. Er ahnte wohl, daß die Ruhe und Abgeschlossenheit, welche das Wesen der Tochter trotz ihrer großen Jugend kennzeichnete, mit den außerordentlich festen Meinungen, die sie sich über gewisse Dinge gebildet, verknüpft war. Wovon er dagegen nicht wußte, waren die schweren, stillen Kämpfe, unter denen jene Ruhe erworben war.

Anna war damals zur Welt gekommen, als die junge Frau, welche ihr Gatte schon jetzt zu vernachlässigen begonnen hatte, still und bitter die ersten Leiden ihrer immer freudloser werdenden Ehe durchlebte. Es war, als sei von jener Stimmung der Mutter etwas in das Wesen des Kindes übergegangen. Es suchte später in dem heranwachsenden Mädchen, das die Krankheit der Mutter sich steigern und steigern sah, ein dumpfes Gefühl nach seinem Ausdruck, welches den Vater beschuldigte – wessen doch? Wenn sich dann das Herz, das den gütigen und frohen Vater liebte, gegen solche Pietätlosigkeit empörte, so ergaben sich aus diesem ersten Widerspruch ihrer Natur die ersten Kämpfe. Dann starb die blasse Frau, an deren Lager Anna fast ein Jahr lang den größten Teil ihrer Tage zugebracht, und zu dem Schmerz über diesen trotz der langsamen Vorbereitung ungeahnt und unbegreiflich schrecklichen Verlust gesellte sich der für die Zurückgebliebene nicht weniger empfindliche, die innige religiöse Überzeugung, welche das teuerste Erbteil von der Verstorbenen bildete, den jetzigen Prüfungen nicht standhalten zu fühlen.

Letztere hatten, mit dem schmerzlichen Nachdenken, das sie erregten, zweifellos in hervorragendem Maße auch die seelische Entwickelung des jungen Mädchens begünstigt, welches jetzt kaum erst achtzehn Jahre zahlte. Es war ihr, ohne daß der Vater, den eine Art Scham davon zurückhielt, ihr darüber Erklärungen gegeben hätte, deutlich, daß die schwierigen häuslichen Verhältnisse ihr künftig eigene Arbeit notwendig machen würden, und sie begann sich alsbald auf eine geeignete Tätigkeit in aller Stille vorzubereiten. Ihr Vater ließ sie, erfreut über ihre verständige Schickung in die unvorhergesehene Lage, den Weg betreten, welcher sie schnell weiter und weiter von den Grundbedingungen seiner eigenen Anschauungen entfernen sollte. Von der pädagogischen und philosophischen Literatur, welche sie anfänglich zu ihrer wissenschaftlichen Ausbildung gewählt, geriet sie, infolge textlicher Hinweise, welche sie darauf aufmerksam machten, und durch eine seltsame, ahnungsvolle Neugierde geleitet, an die Lektüre volkswissenschaftlicher, sozialistischer Schriften. Ganz natürlich stießen die Auffassungen, welche sie dort antraf, und welche, mit der Begeisterungsfähigkeit und idealistischen Gerechtigkeitsliebe eines jugendlichen Geistes kennen gelernt, ohne weiteres bereits so viel Verführerisches in sich schließen, in dem Gemüte des jungen Mädchens auf einen besonders günstig vorbereiteten Boden. Gleich unzähligen Mühseligen und Beladenen von heute nahm sie mit allem Vermögen ihres Geistes und ihrer Empfindung die neue, weltliche Religion in sich auf.

Es waren nun zwei Jahre, daß auf solche Weise der seelische Zwiespalt jener Zeit in ihr ausgeglichen war, die sie jetzt selbst als Übergangsjahre ansah, und das junge Mädchen schrieb sich seither in ihrem ganzen Wesen die Abgeschlossenheit zu, die ein unverrückbares inneres Ziel verleiht, dem nachzugehen ein volles Leben befriedigen kann. Je mehr sich dies Ziel in ihr befestigt, desto mehr mußte ihr jetzt daran gelegen sein, es mit der unerwarteten neuen Wendung, die ihr Weg genommen, zu vereinigen, sich mit dem Manne, ohne den sie ihre Zukunft nicht mehr dachte, über einen so wichtigen Bestandteil ihres Denkens und Empfindens zu verständigen.

So hatte sich Anna allerdings auf die nun bevorstehende, für sie so wichtige Unterredung vorbereitet, und die innere Ruhe, die sie ihr entgegenbrachte, war so vollständig, daß sie die kleine Störung, welche ihr die Erwähnung des fatalen Bildes verursacht, jetzt bereits überwunden hatte.

Wellkamp verstand wohl schon so viel in ihrem Gesichte zu lesen, um die Festigkeit, welche daraus sprach, zu erkennen und zu fühlen, wie sie über alles, womit das junge Mädchen in Berührung kam, eine eigentümliche Macht gewann.

Dies erschien ihm auch in der Einrichtung des stillen, von den übrigen, untereinander verbundenen Räumen der Wohnung abgeschlossenen Zimmerchens ausgedrückt zu liegen, in dem sie einander gegenüber saßen, sie auf einem altmodischen geschweiften Sofa, er in einem weiten, mit einer verblichenen Tapisserie bekleideten Korbstuhl. Überall waren zwischen das ursprüngliche moderne Ameublement des Raumes solche ältere Stücke gestellt, welche von der Mutter des jungen Mädchens und aus deren Mädchenzeit stammen mochten, so eine große, mit Perlenstickerei gefertigte Landschaft, die als Schirm vor dem Kamin stand, und das Klavier von einer längst außer Anwendung gekommenen Form. Die hier und da angebrachten Photographien und Stiche wiesen einen besonderen, ein wenig strengen Geschmack auf. Alles dies stimmte gut zu der Erscheinung der jungen Bewohnerin des Raumes. Auch in der schlichten Art, wie sie ihr volles dunkles Haar trug, auch in dem einfachen, wiewohl tatsächlich nicht merklich von der Mode abweichenden Schnitt ihres Kleides schien etwas Fremdes, in gewisser Weise Altmodisches zu liegen, und in ihrem Gesichte prägte sich bei aller frischen Jugendlichkeit ein seltsam ernster, strenger Grundzug aus. Es war der in dieser Umgebung überraschende Typus eines russischen Steppengesichtes mit der nicht breiten, doch reinen, vornehmen Stirn, der feinen und dabei energischen Nasenwurzel, den vollen Lippen des schöngeformten, nicht kleinen Mundes und der aus dem allen redenden Anlage zum Befehlen und der Willensstärke, welche unter Umständen bis zur einseitigen Beschränktheit gehen kann.

Den Eindruck einer eigenen, geschlossenen Persönlichkeit, dem er immer aufs neue im Verkehr mit seiner Braut unterlag, empfand Wellkamp in diesen ersten Augenblicken der schweigenden Beobachtung stark und bis zu einer förmlichen Entmutigung, seine Meinungen jetzt noch den ihrigen entgegenzusetzen. Er hörte ihren Auseinandersetzungen, die sie in ruhiger, gar nicht aufdringlicher und vielleicht darum jeden Widerspruch nahezu ausschließender Weise gab, in der träumerischen, behaglichen Stimmung zu, in die nervöse und nicht willensstarke Menschen in der Gesellschaft ruhiger und überlegener Persönlichkeiten verfallen können.

Gelegentlich nur ward er aus seiner schweigsamen Hingabe herausgerissen durch eine ihrer Fragen, eine der naiven Fragen, die einem weniger beeinflußten, ruhigen Zuhörer ohne weiteres die vollständige Jugendlichkeit der Denkweise der Fragestellerin verraten hätten; denn für sie bedeutete die von ihr besessene Wahrheit und der Irrtum der Andersgläubigen die schroffsten Gegensätze, die sie nicht in der Idee zusammenfaßte. Sie vermochte nicht vermittelnd zu denken und kannte keine Vielheit der Gesichtspunkte.

Einmal wenigstens, als sie ihm seine Beweise für das Dasein eines Gottes, an welches zu glauben er vorgäbe, abverlangte, vermochte er eine abgerundete, gelegentlich einmal zu eigenem Tröste zurückgelegte Antwort vorzubringen.

»Siehst Du«, sagte er, »Du kannst alles, was in unserm Empfinden und in unseren Schicksalen für das Dasein eines persönlichen Gottes zu sprechen scheint, trügerisch nennen. Auch ich empfinde es im Grunde als einen Trug, aber es scheint mir einer in der Art etwa der Fata Morgana zu sein. Hinter der phantastisch schonen Luftspiegelung, welche sie uns vorzaubert, gibt es doch immer, in weiter Ferne, etwas das gespiegelt wird und ohne das keine Spiegelung möglich wäre.«

»Nur daß eben dies Dahinterliegende Dir den Gegenbeweis an die Hand gibt: es ist immer etwas sehr Irdisches und häufig sogar etwas ganz Unansehnliches, was in der Luft – oder in Deinem Empfinden – gespiegelt so große Wirkungen hervorbringt.«

Wie Wellkamp nach diesem leicht und wie selbstverständlich ausgesprochenen Einwände in die vorige passive Stimmung zurücksank, tauchte unvermutet mit seltsamer Deutlichkeit ein Bild vor seinem Geiste auf, worin er sich selbst in einer Situation erblickte, die in eigentümlicher Weise den Vergleich mit der augenblicklichen herausforderte.

Er sah sich als zehn- oder elfjährigen Knaben im Hause seiner alten Großmutter, in dem sogenannten Sommerzimmer, welches weniger nach seiner Aussicht auf den schattigen alten Garten so benannt war, als nach den die Wände zierenden altmodischen Tapeten, auf denen die wechselnden Szenen des sommerlichen Landlebens dargestellt waren. Der kleine Erich, der auf einem erhöhten Schemel an dem ungeheuer breiten und soliden Tische saß, richtete seine Blicke von dem violetten Abendhimmel nach dem Muster des Claude Lorrain, der in der Reihe der Landschaften immer wiederkehrte, auf die alte Frau ihm gegenüber. Zu ihrem graugestreiften Seidenkleide und der Spitzenhaube, unter der ihr welkes, gütiges Gesicht hervorblickte, saß sie, ohne sich anzulehnen, gerade aufgerichtet in dem steiflehnigen Sofa von rotem Damast und kannte keine Ungeduld bei der Menge von Fragen, die der Enkel ihr mit dem Anspruch auf alsbaldige Lösung vorlegte. In einer Pause gewissenhaften Nachdenkens strich sie wohl mit ihrer knochigen und auch wie Knochen weißen Hand über die gleich dem Sofa rotdamastene Tischdecke hin und her, um dann aufs neue den Wissensdurst des Kindes zu befriedigen.

»Wie die Welt einmal untergehen wird, mein Kind«, hörte Wellkamp sie sagen, »das wissen wir sicher, denn die Schrift sagt es uns: es wird durch Feuer vom Himmel geschehen.«

Dann legte sie ihre weiße Hand auf die vor ihr aufgeschlagene dicke, messingverzierte Familienbibel, während ihre ruhigen, niemals fragenden Augen noch zuversichtlicher blickten als vorher. Der Knabe pflegte in den seelischen Nöten eines ersten kindlichen Skeptizismus sich an die alte Frau zu wenden, und wenn die Krankheit dieses frühen Unglaubens trotz ihrer Heilungsversuche in ihm fortwuchs, so kannte er doch in diesen Augenblicken, wenn in der nun eintretenden Stille nur das leise, klingende Ticken der Stutzuhr auf dem Schreibtische der Großmutter hörbar war, schon damals das weiche, süß einschmeichelnde und schläfernde Gefühl der Sicherheit und des Beruhigtseins, das heute den Mann, der so viele Anschauungen und Überzeugungen nacheinander angenommen und als ungenügend wieder von sich abgetan, bei dem Klange der festen, durch keinen Zweifel getrübten Stimme seiner Braut mit seinen Schauern berührte.

Das plötzliche Auftauchen jener seit langen Jahren kaum mehr belebten Erinnerung zeigte, ob er sich nun ausdrücklich darüber klar ward oder nicht, zur Genüge, wie innig seine Empfindung die beiden Situationen, die jetzige und die von damals, mit einander verband. Hier wie dort war er, der auf offener See von widerstreitenden Winden Umhergetriebene, zur Rast in einen stillen Hafen eingelaufen, wie ihn Seelen wie die in beiden Fällen mit ihm in Berührung gekommenen zu bilden schienen. Die fremden Wellen, welche in das keineswegs stagnierende Wasser hineinfließen, vermögen dennoch an seiner festabgegrenzten, tiefinneren Ruhe nichts zu ändern.

Zugleich aber knüpfte sich für ihn an die soeben wieder durchlebte Kindheitsszene die wie nie vorher sichere und ausgeprägte Erkenntnis der Mittel, mit denen eine solche »Hafenruhe« in einer Seele hergestellt wird. Daß das Leben eines Menschen zu seinem sinnlichen Glück geführt war – und es hatte eine Zeit gegeben, wo Wellkamp allein in dem Mangel eines solchen den Grund für die Disharmonie seines Daseins erblickt hatte – war nicht alles. Ebenso unerbittlich forderte jene unerklärliche Sehnsucht ihre Befriedigung, die man ehemals als die »übersinnliche« zu bezeichnen gewohnt war, und die, mit etwas verändertem Wortsinne, vielleicht tatsächlich etwas Übersinnliches, das heißt den denkbar feinsten und gleichsam über die Sinne hinaus verlangenden Ausdruck des sinnlichen Verlangens darstellte.

Diese Überlegung hatte indes die heimliche, hingegebene Stimmung aufgelöst, in der ihn die Nähe und das Gespräch seiner Braut bisher unterhalten. Der Zauber, den sie auf ihn ausübte, war zuletzt einfach auf ihre Gesundheit und Natürlichkeit zurückzuführen. Davon strömte mit jedem ihrer Worte eine Fülle zu ihm hinüber, der gleichsam in geistiger Krankenluft zu leben gewohnt war. War nicht dies der größte, entscheidende Vorzug, den Anna von Anfang an für ihn gehabt? Durchaus im Widerspruch hiermit fand er nun plötzlich diesen Einfluß unbehaglich und störend und fühlte sich versucht, ihn von sich abzuschütteln. Es war etwas von dem Trotze des Kranken, der sich nur ungern zum ersten Male zum Verlassen des Lagers bewegen läßt und keinen Gefallen mehr an dem Leben der Gesunden findet, dessen ihn sein Zustand seit so langer Zeit entwöhnt hat. Wellkamp fühlte sich in unbestimmter Weise gedrängt, diesem liebgewonnenen Zustande in irgendetwas nachzugeben und ihn zu unterhalten; es war ihm freilich nicht klar, wodurch? Doch widerstand er nicht dem Triebe, der ihn hinderte, auch nur eine Minute länger diese Unterhaltung fortzusetzen.

Mitten in einer weiteren Bemerkung des jungen Mädchens sprang er, fast wider seinen eigenen Willen, auf und verabschiedete sich eilig, indem er eine ihm plötzlich eingefallene Angelegenheit in der Stadt vorschützte. Wenngleich er mit seinem Benehmen nicht zufrieden war, atmete er doch leichter, als er die Türe des kleinen altmodischen Zimmers hinter sich geschlossen hatte. In Frau v. Grubecks Boudoir, das er passierte, obwohl er einen anderen Ausgang vom Speisezimmer aus hätte benutzen können, fand er Dora an ihrem gewohnten Platze. In dem Halbdunkel des Gemaches – von der hohen bronzenen Lampe hing über dem Schirm noch eine seidene Draperie – konnte Wellkamp, der aus der hellen Beleuchtung, welche Anna liebte, herausgetreten war, nur undeutlich die lichtgrau gekleidete Gestalt unterscheiden; doch fühlte er, wie gewöhnlich in ihrer Nähe, ihre Augen auf sich gerichtet. Sie schien heute noch keines der Bücher geöffnet zu haben, die auf dem Tischchen neben ihr lagen; ihre Hände ruhten müßig im Schoße. Um ihm, der nach der Begrüßung einen Augenblick unschlüssig vor ihr stand, ihre Beschäftigungslosigkeit zu erklären – er fragte sich später, ob es nur deswegen geschehen sei – erzählte sie dem jungen Manne, daß sie sich die verflossene Stunde in ihren einsamen Gedanken noch immer mit dem Inhalt des wunderlichen Bildes beschäftigt, von dem er während des Diners erzählt.

»Ich grübele gern über solchen geheimnisvollen Dingen«, fügte sie auf seine verwunderte Frage hinzu, »und ich glaube auch an sie«, und als er noch immer schwieg, »vielleicht gerade darum, weil man sie niemals zu sehen bekommt.«

»Also wäre es Ihnen etwa angenehm«, fragte Wellkamp, »die Austeilung zu besuchen, um das Gemälde kennen zu lernen?«

»Durchaus nicht«, erwiderte sie rasch und mit einer abwehrenden Bewegung; »wahrscheinlich wäre der ganze Reiz für mich verloren, wenn ich es sehen würde. Möglichenfalls ist die Malerei viel zu – natürlich. Ich könnte gewiß nicht mehr so – so meine Andacht halten, wie heute.«

Obwohl Wellkamp bisher nicht an die Möglichkeit gedacht, vielmehr einen wiederholten Besuch der Ausstellung als selbstverständlich angenommen hatte, regte sich bei Doras Worten ein Gefühl in ihm, das ihr eifrig zustimmte. Auch ihm erschien es nun unbedingt geboten, die tief innerliche Berührung, die er empfangen, nicht durch häufigere Anwendung des äußeren Mittels, das sie ihm verschafft, abzuschwächen und, was in diesem Falle unvermeidlich sein würde, äußerlicher zu machen.

»Sie haben recht«, sagte er mit gesenkter Stimme, »das liegt wohl im Wesen des Geheimnisvollen.«

Während ihn die in dieser besondern Weise erfolgte Erwähnung des letzten Wortes die leichten Schauer empfinden ließ, denen er in nervös angeregter Stimmung wie der dieses Abends häufig unterworfen war, gewahrte er in ihren Augen, zu denen er die seinen eben jetzt wieder erhob, den nämlichen außergewöhnlichen Ausdruck, der ihn das erste Mal während der Tafel betroffen gemacht. Und zugleich fühlte er mit völliger Sicherheit, daß die Mischung von leisem, verhaltenem Grauen und tiefinnerer, suchender und verlangender Hingebung, die er in ihrem Auge gewahrte, genau dasjenige war, was im nämlichen Augenblicke in seinem eigenen ausgedrückt sein mußte.

In der nächsten Minute, während welcher ihre Augen aneinander geheftet blieben, war es, als ob jene suchende Hingebung einen Gegenstand zu finden auf dem Wege sei. In einer augenblicklichen Willenslähmung bemerkte Wellkamp, ohne es doch hindern zu können, wie die unsicheren Schauer, von denen er berührt war, die bestimmtere Gestalt von Verlangen und sogar Begehrlichkeit annahmen. Der Vorgang war ohne Zweifel bei Dora ohne Unterschied der gleiche; denn als der junge Mann sich endlich von dem seltsamen Banne befreien konnte, nahm er auch bei ihr das plötzliche Erschrecken, wie beim Auffahren aus einem halben Traumzustande, wahr. Auch war die darauf folgende peinliche Verlegenheit bei beiden gleich stark. Sie wechselten, an einander vorübersehend, noch einige wenige Worte, worauf Wellkamp sich verabschiedete.

Im Vorzimmer fiel ihm unvermittelt ein, daß der gedankenlos gesprochene Vorwand, mit dem er sich entschuldigt, zufällig der gleiche gewesen, mit dem er kaum eine Viertelstunde zuvor Anna verlassen. In hastiger Gedankenverbindung drängte sich ihm ein Vergleich der beiden hinter ihm liegenden Unterredungen auf. Und die soeben empfundene Verlegenheit wurde zur Scham und zu stillen, heftigen Selbstvorwürfen, als er sich das Ergebnis dieses Abends gestehen mußte, welches darin bestand, daß er das Gespräch mit seiner Braut beendet hatte, weil ihre ruhige und verständige Auffassung der Dinge, wie sehr sie ihn damals angezogen haben mochte, ihn heute erkältet hatte – während er im Gegenteil dasjenige mit Dora abgebrochen, weil sein Interesse allzu stark, sein Blick zu heiß geworden.

Heinrich Mann - Gesammelte Werke

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